Niedersächsischer Landtag − 17. Wahlperiode Drucksache 17/1066 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage der Abgeordneten Almuth von Below-Neufeldt, Sylvia Bruns, Björn Försterling und Christian Dürr (FDP), eingegangen am 01.11.2013 Qualitätskontrolle in der Wissenschaft Die britische Wochenzeitung The Economist berichtete am 19. Oktober 2013 von teilweise besorgniserregenden Entwicklungen im internationalen Wissenschaftsbetrieb („Unreliable research. Trouble at the lab“). Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass die Mechanismen der Qualitätskontrolle nicht hinreichend wirksam sind. Die Ergebnisse zahlreicher Studien können nicht reproduziert werden , sodass zum einen erhebliche Zweifel an deren Seriosität, aber vor allem auch an den Qualitätssicherungsmechanismen der Wissenschaft entstehen. Die Autoren mahnen an, dass verstärkt Studien nötig seien und Qualitätsstandards hilfreich wären, insbesondere im Hinblick auf die freie Zugänglichkeit der verwendeten Daten - nur so könnten Ergebnisse tatsächlich überprüft werden. Vor allem wird bemängelt, dass Studien mit negativen Ergebnissen kaum Chancen auf die nötige Würdigung - sowohl im Wissenschaftsbetrieb selbst als auch unter denjenigen, die Forschungsgelder zur Verfügung stellen - erfahren. Negative Ergebnisse sind jedoch die verlässlicheren und somit für die Wissenschaft wichtiger als die öffentlichkeitswirksameren positiven Ergebnisse von Studien. Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung: 1. Sind der Landesregierung diese Entwicklungen bekannt, und wie bewertet sie diese? 2. Angesichts der Tatsache, dass das Land Niedersachsen in wesentlichem Maße Mittel für die Forschung zur Verfügung stellt, welche der vorgeschlagenen Maßnahmen hält die Landesregierung für geeignet, um die größtmögliche Qualität der geförderten Forschungsarbeit zu gewährleisten ? 3. Welche sonstigen Maßnahmen zur verbesserten Qualitätssicherung im Wissenschaftsbetrieb hat sie bereits ergriffen, und welche plant sie künftig zu ergreifen, um den Wissenschaftsstandort Niedersachsen nachhaltig zu stärken? (An die Staatskanzlei übersandt am 07.11.2013 - II/725 - 485) Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Ministerium Hannover, den 06.12.2013 für Wissenschaft und Kultur - M - 01 420-5/485 - Der Erkenntnisfortschritt in den empirischen Wissenschaften findet üblicherweise in einem Kreislauf aus Hypothesenformulierung, empirischer Überprüfung, Theorienbildung und anschließender erneuter Hypothesenformulierung und -überprüfung statt. Die Annahme oder Ablehnung von Hypothesen führt dazu, dass auch die zugrundeliegenden Theorien überarbeitet, ergänzt oder abgelehnt werden müssen. Wissenschaftliche Theorien sind somit grundsätzlich als vorläufig anzusehen und werden oftmals später durch neue Erkenntnisse revidiert und stellen sich im Nachhinein als „falsch“ heraus. Selbstverständlich kommen in diesen hoch spezialisierten Erkenntnisprozessen an der 1 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1066 Wissensgrenze auch technische Fehler oder inhaltliche Fehlschlüsse vor, die zu falschen Ergebnissen führen. Die Qualitätssicherung in der Wissenschaft erfolgt durch das Prinzip der Begutachtung und der Veröffentlichung. Zum einen werden neue Ergebnisse vor ihrer Veröffentlichung durch andere Expertinnen und Experten in dem Wissenschaftsfeld begutachtet („peer review“), zum anderen sind diese Veröffentlichungen Referenz und Ausgangspunkt für die Arbeiten anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und werden somit (teilweise indirekt) überprüft. Diese Form der Qualitätssicherung ist grundsätzlich dazu geeignet, etwaige Fehler mittel- bis langfristig aufzudecken. Der zitierte Economist-Artikel berichtet über Studien und Artikel, die den Schluss nahe legen, dass die moderne Wissenschaft verstärkt fehlerhafte Ergebnisse produziere und die bestehenden Qualitätssicherungsprozesse unzureichend seien. Als Ursache für den Anstieg der fehlerhaften Ergebnisse werden der intensivere Wettbewerb zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie der damit einhergehende Zeit-, Ergebnis- und Publikationsdruck genannt. Dieser äußere sich in verfrühten, nicht ausreichend kontrollierten oder gar manipulierten Ergebnissen. Ein weiterer Grund sei das Missverhältnis zwischen den verfügbaren Datenmengen bzw. elektronischen Auswertungsmöglichkeiten und den - im Vergleich zur fachlichen Expertise weniger stark ausgeprägten - statistischen Kompetenzen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Zudem würden sowohl Forschende als auch wissenschaftliche Zeitschriften „positive“ Ergebnisse (Bestätigung der Hypothese) bevorzugen, die jedoch aus statistischen Gründen grundsätzlich fehleranfälliger seien als „negative“ Ergebnisse (Ablehnung der Hypothese). Gleichzeitig kommt der Economist-Artikel zu dem Schluss, dass die etablierten Qualitätsmechanismen mit der Aufdeckung dieser Fehler strukturell überfordert seien: Viele Fehler blieben im Rahmen des Begutachtungsprozesses unentdeckt und die zur Verfügung gestellten Informationen über die empirischen Untersuchungen seien oftmals unzureichend für eine wirkliche Qualitätskontrolle. Zudem würden notwendige Wiederholungsstudien unterbleiben, da sie aufwändig und nicht karrierefördernd seien: Wiederholungsstudien würden von der Forschungsförderung nicht finanziert, ließen sich in wissenschaftlichen Zeitschriften nicht publizieren und trügen somit nicht zur wissenschaftlichen Reputation bei. Der Artikel konstatiert, dass ein kultureller Wandel in der Wissenschaft nötig sei, der die kritische Selbstreflexion stärke und mehr Wiederholungsstudien sowie die Publikation „negativer Ergebnisse “ ermögliche. Diesbezüglich werden erste Initiativen benannt, wie – die Beschränkung der Begutachtung auf die korrekte Anwendung der Methoden, um u. a. die Publikation von negativen Ergebnissen zu erleichtern (z. B. PloS One), – die Förderung von Wiederholungsstudien durch unabhängige Labore oder Studierende (z. B. Reproducibility Initative), – die Veröffentlichung von Checklisten durch Zeitschriften, um sicherzustellen, dass alle notwendigen Daten/Informationen für Wiederholungsstudien und Qualitätskontrollen veröffentlicht werden (z. B. Nature), – die Etablierung von Forschungszentren explizit für Wiederholungsstudien (z. B. Centre for Open Science), – die Einführung spezieller Rubriken in wissenschaftlichen Zeitschriften für Wiederholungsstudien (z. B. Perspectives on Psychological Science). Der Artikel macht allerdings auch deutlich, dass diese Beobachtung bislang zu keinen nennenswerten Veränderungen bzw. Aktivitäten bei namhaften Forschungsförderungsorganisationen wie dem European Research Council, der National Science Foundation (US) oder den Research Councils (GB) geführt hat. Dies vorausgeschickt werden die Fragen namens der Landesregierung wie folgt beantwortet: Zu 1: Ja, Berichte über entsprechende Probleme bzw. Entwicklungen sind der Landesregierung seit langem bekannt. Diese Entwicklungen beinhalten unterschiedliche, jedoch zusammenhängende Themenkomplexe : zum einen das Problem des „wissenschaftlichen Fehlverhaltens“ in all seinen Facet- 2 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1066 ten, die von bewusster Täuschung bis zur Nachlässigkeit reichen. Zum anderen das strukturelle Problem, dass negative Ergebnisse und Wiederholungsstudien im Wissenschafts- und Forschungsförderungssystem zu wenig gewertschätzt werden. Hinsichtlich des ersten Aspekts hat beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bereits 1998 Empfehlungen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis herausgegeben. Diese formulieren explizit: „Neben der Versuchung zum gezielten Regelverstoß kann Wettbewerbsdruck auch zu Nachlässigkeit und mangelnder Sorgfalt führen. Ein Kernstück wissenschaftlicher Methode ist aber der systematische Zweifel an den eigenen Ergebnissen. Experimente sollten gerade dann - und möglichst unabhängig - wiederholt werden, wenn sie das erhoffte Ergebnis bringen. Erfolgsdruck und Eile, das Bestreben, schneller als die Konkurrenz zu publizieren, sind eine Quelle schlecht abgesicherter Resultate und kommen in der Praxis weit häufiger vor als Manipulationen und Fälschungen“ (S. 43 der ergänzten Ausgabe aus dem Jahr 2013). Grundsätzlich ist es Aufgabe der Wissenschaft, durch selbstbestimmte Instrumente der Qualitätssicherung für eine Wahrung der wissenschaftlichen Standards zu sorgen. Die Empfehlungen der Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der DFG sind hierfür ein Beleg. Infolge der Empfehlungen haben Hochschulen und Forschungseinrichtungen Regeln guter wissenschaftlicher Praxis verbindlich formuliert und Verfahren zum Umgang mit Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens entwickelt . Für entsprechende Verfahren wurden Ombudspersonen ernannt und Kommissionen eingerichtet . Überdies verweist der Bericht auf strukturelle Probleme, die vielfältige Aspekte des Wissenschaftssystems berühren: von der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses über Leistungsindikatoren und Karrieremöglichkeiten in der Wissenschaft, die Publikationskriterien von privatwirtschaftlichen Verlagen bis zur Ausgestaltung der öffentlichen und privaten Forschungsförderung. Somit ist eine Vielzahl von Akteuren gefragt, sich dieser strukturellen Herausforderungen anzunehmen. Die Landesregierung leistet selbstverständlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten und unter Berücksichtigung der Freiheit von Forschung und Lehre hierzu einen Beitrag. Bezogen auf die Darstellung im Economist-Artikel stellt sich allerdings die Frage, inwiefern die skizzierte Entwicklung tatsächlich eine neue Qualität erreicht hat. Mangels verlässlicher und allgemeingültiger Daten kann diese Frage nicht beurteilt werden. Aus einzelnen Studien und Berichten einen „Generalverdacht“ gegenüber wissenschaftlichen Arbeiten abzuleiten, wäre aus Sicht der Landesregierung unzulässig. Es ist die feste Überzeugung der Landesregierung, dass sich die weit überwiegende Zahl der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Empfehlungen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis hält und seriöse, selbstkritische und akkurate Wissenschaft betreibt. Zu 2: Neben der Grundfinanzierung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen betreibt das Land Niedersachsen auch selbst Forschungsförderung. Dabei stellt das Land die Qualität der geförderten Forschungsvorhaben über deren unabhängige Begutachtung durch Expertinnen und Experten (peer review) sicher, die in der Regel von der Wissenschaftlichen Kommission Niedersachsen oder der VolkswagenStiftung unabhängig organisiert werden. Erst nach positiver Begutachtung findet eine Förderung statt. Dieses Vorgehen entspricht dem Standard der Qualitätssicherung in der Forschungsförderung . Zudem wird die Publikation der geförderten Forschungsergebnisse - unabhängig ob positiv oder negativ - erwartet. Darüber hinausgehende Mechanismen zur Qualitätskontrolle wie sie in dem Economist-Artikel erwähnt werden, erscheinen wünschenswert, müssen ihre Eignung aber noch z. B. im Rahmen von Evaluierungen unter Beweis stellen. Zudem richten sich viele der angeregten Mechanismen an wissenschaftliche Verlage und liegen somit außerhalb des Einflussbereichs der Landespolitik. Zu berücksichtigen ist zudem, dass sich die Maßnahmen überwiegend auf eine anschließende (ex-post) Bewertung der Forschungsergebnisse beziehen und somit für die (ex-ante) Begutachtung von Projektanträgen im Rahmen der Forschungsförderung des Landes nicht hilfreich sind. Zu 3: Wie bereits in der Antwort zur Frage 1 deutlich gemacht wurde, liegt die Verantwortung für die Qualitätssicherung grundsätzlich innerhalb der Wissenschaft bei den Wissenschaftlerinnen und Wis- 3 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1066 senschaftlern und den wissenschaftlichen Einrichtungen selbst (Hochschulen, Forschungseinrichtungen , DFG etc.). Diese nehmen ihre Verantwortung aus Sicht der Landesregierung erfolgreich wahr und reagieren auf entsprechende Fehlentwicklungen (wie beispielsweise mit den Empfehlungen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der DFG). Bei der Landesförderung erfolgt die ex-ante Evaluierung von Projektanträgen und somit die Qualitätssicherung über eine unabhängige Begutachtung durch Expertinnen und Experten (vgl. Antwort zu Frage 2). Dies ist internationaler Standard. Bei längerfristigen Projekten ist zudem oftmals eine Zwischenevaluierung durch unabhängige Gutachterinnen und Gutachter vorgesehen. Eine abschließende (ex-post) Begutachtung der geförderten Projekte erfolgt nicht durch den Fördermittelgeber , sondern durch die Wissenschaft selbst in Form der kritischen Auseinandersetzung mit Ergebnissen und der Begutachtung eingereichter wissenschaftlicher Artikel. Grundsätzlich wird damit die Qualität der geförderten Forschungsarbeiten sichergestellt. Die Diskussionen zur Optimierung der Qualitätssicherung werden ebenso wie die Überlegungen zur Förderung von Wiederholungsstudien seitens der Landesregierung aufmerksam verfolgt. Sollten sich hieraus eindeutige Handlungsempfehlungen für eine Weiterentwicklung des Qualitätssicherungs - und Fördersystems ableiten lassen, werden diese zur gegebenen Zeit aufgegriffen. Dr. Gabriele Heinen-Kljajić 4 (Ausgegeben am 20.12.2013) Drucksache 17/1066 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage der Abgeordneten Almuth von Below-Neufeldt, Sylvia Bruns, Björn Försterling und Christi-an Dürr (FDP), eingegangen am 01.11.2013 Qualitätskontrolle in der Wissenschaft Antwort der Landesregierung