Niedersächsischer Landtag − 17. Wahlperiode Drucksache 17/1835 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage der Abgeordneten Hillgriet Eilers, Sylvia Bruns, Almuth von Below-Neufeldt, Björn Försterling , Christian Dürr und Dr. Stefan Birkner (FDP), eingegangen am 26.06.2014 Gefahr der erneuten Ausbreitung bereits besiegt geglaubter Krankheiten? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat vor einer weltweiten Ausbreitung von Kinderlähmung gewarnt. In einer Mitteilung beschrieb die WHO die Polio-Ausbrüche in Asien, Afrika und im Nahen Osten als „außergewöhnliche“ Situation, die eine koordinierte internationale Antwort erfordere. „Die Bedingungen für eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite (gesundheitliche Krise internationalen Ausmaßes)“ seien erfüllt, so die Mitteilung der WHO. Kinderlähmung gilt seit Mitte der 1950er-Jahre als weitgehend besiegt. In Deutschland gab es, dank der durchgeführten Impfkampagnen, 1992 die letzten Polio-Infektionen. Etwas anders stellt sich die Situation bei einer anderen bereits besiegten Krankheit, der Tuberkulose , dar. Hier kann in Niedersachsen, genau wie in Deutschland insgesamt, eine Zunahme der Krankheitsfälle beobachtet werden. Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung: 1. Wie schätzt die Landesregierung die Gefahr der erneuten Ausbreitung dieser - und gegebenenfalls auch anderer - besiegt geglaubter Krankheiten ein? 2. Auf welche Ursachen führt die Landesregierung die Gefahr einer Ausbreitung - bzw. im Falle von Krankheiten wie Tuberkulose, wo die Fallzahlen bereits gestiegen, sind die tatsächliche Ausbreitung - zurück? 3. Welche Maßnahmen können nach Ansicht der Landesregierung die erneute Ausbreitung verhindern bzw. begrenzen? (An die Staatskanzlei übersandt am 03.07.2014 - II/725 - 804) Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Ministerium Hannover, den 31.07.2014 für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung - 401.3 - 01425/3 - Im Mai 1988 verpflichtete die 41. Weltgesundheitsversammlung die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dem Ziel einer weltweiten Eradikation1 der Poliomyelitis. Seither gehen die Bemühungen dahin, die Erreger der Kinderlähmung durch konsequent durchgeführte Impfungen auszurotten, wie dies bis 1980 mit Pocken gelungen ist. Im Zuge der globalen Polioeradikationsinitiative (GPEI)2 konnte die WHO im Juni 2002 die Europäische Region einschließlich Deutschland als poliofrei zertifizieren. Auch weltweit wurden seither große Fortschritte bei den Eradikationsbemühungen erzielt. In Indien sind seit dem 13. Januar 2011 keine Erkrankungsfälle von Kinderlähmung mehr aufgetreten, sodass Indien als poliofrei eingestuft 1 Vollständige Eliminierung eines Krankheitserregers 2 Polio Global polio eradication initiative (GPEI) 1 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1835 werden konnte. Am 27. März 2014 hat die WHO die Region Südostasien als vierte von sechs WHO Regionen als poliofrei erklärt. Pakistan, Afghanistan und Nigeria gelten als sogenannte endemische Länder, das bedeutet hier treten regelmäßig Poliofälle auf. So lange dies der Fall ist, können Polioviren in andere Staaten verteilt werden und sich dort ausbreiten. Hier sind in erster Linie solche Regionen gefährdet, die von Krisen erschüttert werden und in Folge derer die hygienischen Verhältnisse leiden und Kinder nicht geimpft werden können. So sind in Syrien im Oktober 2013 Kinder an Kinderlähmung erkrankt. Der letzte Fall wurde dort zuvor 1999 beobachtet. Bis Juli 2014 waren insgesamt 36 Kinder betroffen. Da auch in anderen Staaten wieder Poliomyelitis-Fälle aufgetreten sind, hat die WHO am 5. Mai 2014 eine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite (GNIT) ausgerufen. Diese Maßnahmen sind zeitlich befristet und betreffen die Staaten, in denen Polioviren nachgewiesen wurden (Afghanistan , Äquatorialguinea, Äthiopien, Irak, Israel, Somalia und Nigeria). Erweiterte Maßnahmen gelten für Pakistan, Kamerun und Syrien. Dies sind Staaten, aus denen 2014 Poliomyelitisviren exportiert wurden. Für poliofreie Länder wie Deutschland ist die Ausrufung der GNIT mit keinen spezifischen Empfehlungen der WHO verbunden. Grundlage für die erfolgreiche Eradikation ist die Impfung von Kindern und die Überwachung des Krankheitsgeschehens. Diese Voraussetzungen sind in Deutschland und somit auch in Niedersachsen gegeben. Die in der Schuleingangsuntersuchung ermittelten Durchimpfungsquoten liegen seit der systematischen Auswertung 1999 zwischen 95,1% und 97,0%. Vor diesem Hintergrund ist nicht mit einer Ausbreitung der Erkrankung zu rechnen, selbst wenn aus endemischen Ländern ein Erkrankungsfall nach Deutschland einreisen sollte. Hinsichtlich der Überwachung wurde in Niedersachsen ein System aufgebaut, das inzwischen für ganz Deutschland gegenüber der WHO als Nachweis der Poliofreiheit herangezogen wird. Dabei wird allen pädiatrischen und neurologischen Kliniken in Deutschland zur differentialdiagnostischen Abklärung von viralen Meningitiden (Hirnhautentzündungen ) bzw. Enzephalitiden (Entzündungen des Gehirns) sowie akuten schlaffen Lähmungen eine unentgeltliche Enterovirusdiagnostik angeboten. Polioviren gehören zu dieser Gruppe von Viren. Seit 2005 wurden in diesem System etwa 23 000 Proben untersucht, Polioviren wurden im gesamten Zeitraum nicht nachgewiesen. Die Tuberkulose ist weltweit verbreitet und gehört neben HIV/AIDS und Malaria zu den häufigsten Infektionskrankheiten. Rund ein Drittel der Weltbevölkerung soll laut Angaben der WHO mit Tuberkulose -Erregern infiziert sein, wobei ca. 5 – 10% der infizierten Erwachsenen im Laufe ihres Lebens eine behandlungsbedürftige Tuberkulose entwickeln. Im Gegensatz zu Poliomyelitis ist die Eradikation von Tuberkulose nicht vorstellbar, u. a. da es keinen ausreichend effektiven Impfstoff gibt. Entscheidend für die Tuberkulosebekämpfung sind die rasche Entdeckung Erkrankter, die Isolierung infektiöser Patienten und eine schnell einsetzende effiziente Therapie. In Deutschland ist die Zahl der gemeldeten Neuerkrankungen bis zum Jahr 2012 immer weiter zurückgegangen und lag im Jahr 2013 bei 5,3 Neuerkrankungen je 100 000 Einwohner jährlich. Niedersachsen liegt mit der Neuerkrankungsrate unter dem Bundesdurchschnitt. Nach einem stetigen Rückgang bis 2010 in dem eine Neuerkrankungsrate von 3,6 Fällen je 100 000 Einwohner (282 Fälle) beobachtet wurde, sind in den darauffolgenden Jahren 303, 301 und im Jahr 2013 324 Menschen an Tuberkulose erkrankt. Nachdem im Jahr 2001 noch 630 Neuerkrankungen an Tuberkulose gemeldet wurden, scheint nun ein Plateau erreicht worden zu sein. Mit dem Ziel, unbekannte erkrankte und damit ansteckungsfähige Menschen zu erkennen, haben nach § 36 Abs. 4 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG)3 Personen, die in ein Altenheim, Altenwohnheim , Pflegeheim oder eine gleichartige Einrichtung oder in eine Gemeinschaftsunterkunft für Obdachlose , Flüchtlinge, Asylbewerber oder in eine Erstaufnahmeeinrichtung des Bundes für Spätaussiedler aufgenommen werden sollen, vor oder unverzüglich nach ihrer Aufnahme der Leitung der Einrichtung ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass bei ihnen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose vorhanden sind. Bei Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge, Asylbewerber oder in eine Erstaufnahmeeinrichtung des 3 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 36 u. Artikel 4 Absatz 21 des Gesetzes vom 7. August 2013 (BGBl. I S. 3154) geändert 2 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1835 Bundes für Spätaussiedler muss sich das Zeugnis bei Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet haben, auf eine im Geltungsbereich dieses Gesetzes erstellte Röntgenaufnahme der Lunge stützen ; bei erstmaliger Aufnahme darf die Erhebung der Befunde nicht länger als sechs Monate, bei erneuter Aufnahme zwölf Monate zurückliegen. Die Erkrankung und der Tod an einer behandlungsbedürftigen Tuberkulose ist dem Gesundheitsamt namentlich zu melden. Das Gesundheitsamt betreut den Fall mit dem Ziel weitere Infektionen zu verhüten, die erfolgreiche Tuberkulosetherapie sicherzustellen, enge Kontaktpersonen auf eine mögliche Infektion zu untersuchen und bei diesen Personen eventuell frühzeitig eine Therapie einzuleiten . In Niedersachsen wird der kommunale öffentliche Gesundheitsdienst durch das Niedersächsische Landesgesundheitsamt (NLGA) unterstützt. Insbesondere die für die Kommunen kostenfreie labordiagnostische Untersuchung ist ein wesentliches Instrument des Infektionsschutzes. Darüber hinaus stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des NLGA beratend zur Verfügung. Gemeinsam mit dem kommunalen öffentlichen Gesundheitsdienst wurde speziell zu Fragen der Tuberkulose ein Qualitätsforum am NLGA etabliert, das neben regelmäßiger Diskussion über aktuelle Fälle auch Veranstaltungen zu unterschiedlichen Aspekten der Prävention der Tuberkulose durchführt. Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt: Zu 1: Aufgrund der hohen Durchimpfung gegen Poliomyelitis der niedersächsischen Bevölkerung und der etablierten Überwachung durch die Enterovirussurveillance, mit Hilfe derer eventuell eingeschleppte Fälle entdeckt werden, ist derzeit nicht mit einer Ausbreitung der Kinderlähmung zu rechnen. Auch wenn nach stetem Rückgang im Jahr 2010 die niedrigste Rate an Neuerkrankungen an Tuberkulose in Niedersachsen beobachtet wurde, kann nicht von einer Trendumkehr gesprochen werden. Da die Tuberkulose nicht eliminiert werden kann, muss die Kontrolle der Erkrankung durch Überwachung, Therapie und Infektionsschutzmaßnahmen beständiges Ziel bleiben. Zu 2: So lange es nicht gelungen ist, den Erreger der Kinderlähmung weltweit zu eradizieren, kann er in poliofreie Regionen verschleppt werden. Zur Ausbreitung kann es dann kommen, wenn, wie in Krisengebieten , Kinder nicht ausreichend geimpft werden, die hygienischen Verhältnisse leiden und das Gesundheitssystem nicht aufrecht erhalten werden kann. Hier bedarf es dann eines besonderen Engagements unter der Regie der WHO durch umfassende Impfkampagnen, den Ausbruch zu stoppen. Dabei muss auch die verantwortliche Regierung die Bemühungen unterstützen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Initiative der WHO zu verstehen, dass eine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite ausgerufen wurde und die betroffenen Staaten damit aufgerufen wurden, Gegenmaßnahmen einzuleiten. Auch zur Kontrolle der Tuberkulose bedarf es in erster Linie guter sozialer und hygienischer Verhältnisse sowie eines funktionierenden Gesundheitssystems, in dem die Überwachung und Therapie gewährleistet sind. Daher sind vor allem Krisengebiete von einer hohen Neuerkrankungsrate betroffen. Zudem ist bei Infizierten mit einer eingeschränkten Immunabwehr (z. B. bei HIV-Infektion) das Erkrankungsrisiko deutlich erhöht. Hauptursachen für die weltweite Tuberkulosesituation und für die Schwierigkeiten bei der Kontrolle der Tuberkulose sind daher die sozialen Verhältnisse aber auch TB/HIV-Koinfektionen in Staaten mit hoher HIV-Prävalenz. Zusätzlich erschwert wird die Situation durch das zunehmende Auftreten resistenter Tuberkulosebakterien, die eine effektive Therapie erschweren. Zu 3.: Hinsichtlich impfpräventabler Erkrankung muss eine hohe Durchimpfung der Bevölkerung aufrecht erhalten bleiben. In Niedersachsen sind Kinder im Einschulungsalter in der Regel gut geimpft. Mit Ausnahme der Impfung gegen Windpocken (Durchimpfungsquote 78,9% für eine und 68,3 % für zwei Impfungen) liegen die ermittelten Quoten aller anderen Impfungen zwischen 92,1 % und 96,8 %. Dies ist u. a. dem etablierten Vorsorgesystem im Kindesalter zu verdanken, zeigt aber auch, dass Impfungen gut akzeptiert sind. Schwieriger ist es, eine hohe Durchimpfung im Jugendund Erwachsenenalter zu erreichen. Hier bedarf es der ständigen Erinnerung, insbesondere durch 3 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1835 die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, aber auch durch entsprechende Kampagnen. So hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) die Kampagne „Deutschland sucht den Impfpass“ aufgebaut. Bei allen Infektionskrankheiten kommt der Überwachung und der Einleitung von Infektionsschutzmaßnahmen eine zentrale Bedeutung zu. Dazu gehört zunächst, dass die Ärzteschaft entsprechend aufgeklärt ist und aufmerksam bleibt und ihrer Meldepflicht nachkommt. Bei etwa 300 Tuberkulosefällen jährlich, ist ein Fall in einer Arztpraxis eine Seltenheit. Das NLGA führt daher Fortbildungsveranstaltungen durch und informiert über das Niedersächsische Ärzteblatt über die Erkrankung . Ein besonderer Schwerpunkt bildet zurzeit die Tuberkulose im Kindesalter, da hier die Symptome unspezifisch sind und die Infektion leicht übertragen werden kann. Das NLGA hat speziell zu dieser Thematik ein Informationsblatt herausgegeben, welches auch auf Englisch, Französisch, Türkisch, Russisch und Spanisch zur Verfügung steht und auf der Internetseite abrufbar ist (www.nlga.niedersachsen.de > Infektionen & Hygiene > Krankheitserreger/Krankheiten >Tuberkulose ). Letztendlich ist es der kommunale öffentliche Gesundheitsdienst, der vor Ort die Infektionsschutzmaßnahmen anordnet und sicherstellt, dass diese eingeleitet werden. Eine bundesweit herausragende Bedeutung nimmt das NLGA in Niedersachsen ein. Durch die gebündelte mikrobiologische Laborkompetenz auf der einen Seite und die epidemiologische sowie infektionshygienische Kompetenz auf der anderen Seite, kann der öffentliche Gesundheitsdienst optimal unterstützt werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in ständigem Austausch mit den kommunalen Kolleginnen und Kollegen und stellen auf diese Weise gemeinsam in besonderer Weise sicher, das Auftreten von Infektionskrankheiten zu begrenzen. Cornelia Rundt (Ausgegeben am 06.08.2014) 4 Drucksache 17/1835 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage der Abgeordneten Hillgriet Eilers, Sylvia Bruns, Almuth von Below-Neufeldt, Björn Förster-ling, Christian Dürr und Dr. Stefan Birkner (FDP), eingegangen am 26.06.2014 Gefahr der erneuten Ausbreitung bereits besiegt geglaubter Krankheiten? Antwort der Landesregierung