Niedersächsischer Landtag − 17. Wahlperiode Drucksache 17/1844 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage des Abgeordneten Dr. Gero Hocker (FDP), eingegangen am 15.05.2014 Wie steht die Landesregierung zu mehr Wildnis? Bundesumweltministerin Hendricks erklärte bei der Vorstellung der Naturbewusstseinsstudie 2013 am 28.04.2014, dass sie die Wildnisfläche in Deutschland bis 2020 verdoppeln wolle. Der Studie zufolge können sich 80 % der 2007 befragten Personen mehr Wildnisgebiete in Wäldern vorstellen. Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung: 1. Was versteht die Landesregierung unter „Wildnis“? 2. Wie steht die Landesregierung zum Ziel der Bundesregierung, die Wildnisfläche in Deutschland zu verdoppeln? 3. Wo sieht die Landesregierung Potenzial zur Errichtung von Wildnisflächen (bitte Kreise und Kommunen nennen)? 4. Welchen Beitrag sollen urbane Räume in Niedersachsen für die Vergrößerung der Wildnisfläche leisten? 5. Inwieweit erwartet die Landesregierung Akzeptanzprobleme in urbanen Räumen bei der Ausbreitung wilder Tiere in den Städten? 6. Wie passt es nach Meinung der Landesregierung zusammen, dass nach Aussage der Befragung 80 % der Befragten mehr Wildnis wollen, aber gleichzeitig eine Mehrheit auch viel Wert auf den Erhalt der Kulturlandschaften legt? 7. Inwieweit ist ein Erhalt der Kulturlandschaften mit einer Verdoppelung der Wildnisflächen kompatibel? 8. Welche Folgen hätte eine Verdoppelung der Wildnisfläche für die Land- und Forstwirtschaft? (An die Staatskanzlei übersandt am 22.05.2014 - II/725 - 741) Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Ministerium Hannover, den 31.07.2014 für Umwelt, Energie und Klimaschutz - Ref17-01425/17/7/01-0037 - Das im April 2014 von Frau Bundesumweltministerin Hendricks bei der Vorstellung der Studie „Naturbewusstsein 2013“ unterstrichene Ziel, die Wildnisfläche in Deutschland bis zum Jahr 2020 zu verdoppeln, fußt auf der vom Bundeskabinett im November 2007 beschlossenen „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ (Nationale Biodiversitätsstrategie). Danach sollen Wildnisgebiete, die bislang weniger als 1 % der Fläche des Bundesgebietes ausmachen, bis zum Jahr 2020 auf mindestens 2 % der Landesfläche Deutschlands anwachsen und sich nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten natürlich und ungestört entwickeln können. Eine wichtige Rolle sollen dabei auch die Wälder spielen. In der Biodiversitätsstrategie ist das Ziel formuliert, dass der Flächenanteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung in Deutschland bis zum Jahr 2020 5 % der Waldfläche betragen soll. 1 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1844 Bei der im Rahmen der Naturbewusstseinsstudie durchgeführten Bevölkerungsumfrage zu Natur und biologischer Vielfalt bildete das Thema „Wildnis“ einen besonderen Schwerpunkt. Es hat sich gezeigt, dass 65 % der Befragten Natur umso besser gefällt, je „wilder“ sie ist. 42 % der Bürgerinnen und Bürger würden es begrüßen, wenn es mehr Wildnis in Deutschland gäbe. Wildnisflächen sind Refugien für eine ganze Reihe von Pflanzen- und Tierarten, Lebensgemeinschaften und Biotopen, für die in der vom Menschen geprägten und intensiv genutzten Kulturlandschaft kaum noch Raum ist und die teils sehr selten geworden sind. Sie haben besondere Bedeutung für die Erhaltung der biologischen Vielfalt, sind Anschauungs- und Forschungsobjekt für natürliche Funktionszusammenhänge und Naturabläufe im Kontrast zu der vom Menschen veränderten und beeinflussten Natur und ermöglichen das intensive Erleben ursprünglicher, sich eigengesetzlich entwickelnder Natur. Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt: Zu 1: Der Begriff „Wildnis“ ist nicht objektiv und allgemeingültig definierbar, sondern wird abhängig von dem jeweiligen Naturverständnis, dem Menschenbild, den herrschenden Gesellschaftsidealen und subjektiven Empfindungen interpretiert. Als Wildnis empfunden wird Natur dann, wenn sie als ursprüngliche , vom Menschen mehr oder minder unbeeinflusste und eigengesetzlich funktionierende Gegenwelt zur genutzten Kulturlandschaft wahrgenommen und somit als Kontrast zur zivilisatorischen bzw. kulturellen Ordnung erfasst wird. Ursprüngliche Wildnis ist dabei eine von ihrer Entstehung her nicht anthropogen bedingte, völlig oder weitgehend unberührte Natur. Sekundäre Wildnis ist eine Natur, die sich auf bisher genutzten oder anderweitig vom Menschen beeinflussten Flächen einstellt, die der Mensch sich selbst überlässt. In unseren Breiten lässt sich Wildnis auffassen als ein sich eigendynamisch entwickelndes System mit möglichst weitgehend vom Menschen nicht beeinflusster Vegetationsentwicklung. Wildnisgebiete lassen sich - unter Würdigung der veränderten Bedingungen in Mitteleuropa - definieren als größerflächige Gebiete, in denen eine direkte menschliche Einflussnahme weitgehend ausgeschlossen ist oder werden soll, sodass eine eigendynamische Naturentwicklung hin zu natürlichen Ökosystemen erfolgen kann. Als Wildnisflächen lassen sich nicht bewirtschaftete bzw. sich selbst überlassene Einzelbereiche bezeichnen, die kleinflächiger sind und daher noch anthropogenen Randeinwirkungen unterliegen. Zu 2: Die Landesregierung begrüßt und unterstützt das Ziel der Bundesregierung, die Wildnisfläche in Deutschland zu verdoppeln. Zu 3: Über den Flächenumfang von Wildnisflächen in Niedersachsen insgesamt liegen bislang keine statistischen Zahlen vor. Von jeglichem menschlichen Einfluss freie Bereiche gibt es in Niedersachsen nur in äußerst geringem Umfang, da auch bei sich selbst überlassenen Flächen oft noch Nutzungen wie Jagd, Fischerei oder Erholungsnutzung oder Einzeleingriffe, wie z. B. Maßnahmen im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht, stattfinden. Hinzu kommen nicht vermeidbare indirekte Einflüsse , so z. B. Stoffeinträge anthropogenen Ursprungs über die Luft oder das Wasser. In vielen ausgewiesenen Schutzgebieten sind jedoch Flächen wie Moorbereiche, Waldparzellen oder andere Biotope vorhanden, die nicht land- oder forstwirtschaftlich bewirtschaftet werden und damit einer eigendynamischen Vegetationsentwicklung unterliegen. Der Natur auf möglichst großer Fläche eine Eigenentwicklung zu ermöglichen und damit Natur Natur sein zu lassen, ist eine wichtige Aufgabe in Nationalparken, so auch in Niedersachsen. Im 15 800 ha großen niedersächsischen Teil des länderübergreifenden Nationalparks „Harz“ sind bereits über 55 % (circa 8 690 ha) in die Naturdynamikzone des Nationalparks überführt worden, in der ein möglichst ungestörter Ablauf der Naturvorgänge in ihrer natürlichen Dynamik gewährleistet wird (Prozessschutz). Im Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“ unterliegen etwa 335 000 ha einer natürlichen Dynamik, was nicht bedeutet, dass diese Flächen nutzungsfrei sind (weiterhin Nutzungen wie Fischerei, Schifffahrt etc.). Im Biosphärenreservat „Niedersächsische Elbtalaue “ sind zurzeit über 280 ha Naturdynamikbereiche. In allen drei Gebieten besteht das Potenzi- 2 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1844 al und die Verpflichtung, den Anteil der Naturdynamikbereiche noch weiter zu erhöhen. Für den Nationalpark Harz soll der Naturdynamikbereich gemäß gesetzlicher Vorgabe 75 % der Nationalparkfläche umfassen, was gemäß dem „Nationalparkplan für den Nationalpark Harz“ bis zum Jahr 2022 realisiert werden soll. Beim Biosphärenreservat „Niedersächsische Elbtalaue“ sind auf 3 % der Biosphärenreservatsfläche (circa 1 700 ha) Naturdynamikbereiche zu bestimmen. Als Wildnisflächen bzw. Wildnisgebiete sind außerdem die von Forstseite zu Forschungs-, Vergleichs - und Waldnaturschutzzwecken ausgewiesenen Naturwälder zu benennen, von denen es laut Datenbank der Naturwaldreservate in Deutschland allein in Niedersachsen 107 Gebiete mit einer Gesamtfläche von 4 576 ha gibt. Weiteres Potenzial für die Einrichtung von Wildnisflächen und Wildnisgebieten wird in erster Linie auf Flächen im öffentlichen Eigentum (Flächen der Naturschutzverwaltung, der Forstverwaltung u. a.) gesehen. Die Landesregierung will zur Umsetzung der „Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt“ und der „Waldstrategie 2020“ des Bundes ihren Beitrag leisten und in Wahrnehmung der Vorbildfunktion öffentlicher Flächen daran mitwirken, den Anteil von Wäldern mit natürlicher Waldentwicklung auf 10 % der Fläche des Landeswaldes umzusetzen. Aufbauend auf den Ergebnissen des 2013 abgeschlossenen bundesweiten Forschungs- und Entwicklungsvorhabens „Natürliche Waldentwicklung als Ziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ (NWE5) wird die Landesregierung bis zum Jahresende 2014 über die bereits vorhandenen - aus der Waldbewirtschaftung genommenen Flächen hinaus - zusätzliche für die natürliche Waldentwicklung besonders geeignete Flächen auswählen und eine konsolidierte Kernbilanz erarbeiten. Mögliche Lücken zur Erreichung des 10 %-Zieles sollen dann bis zum Jahr 2020 geschlossen werden . Der Anteil des Landeswaldes an der niedersächsischen Gesamtwaldfläche beträgt 29 %. Ein Beitrag zur Nationalen Biodiversitätsstrategie in Höhe von 10 % des Landeswaldes entspricht damit 2,9 % der Gesamtwaldfläche Niedersachsens oder rund 33 500 ha und schließt den Beitrag des niedersächsischen Waldes zur „2 %-Wildnisfläche“ ein. Eine Aufschlüsselung der Potenzialflächen insgesamt für die Wildnisentwicklung auf die einzelnen Kommunen ist zurzeit nicht möglich. Die Ziele sowie inhaltliche und räumliche Aussagen zur Erhaltung und Entwicklung von Wildnisflächen werden auch in der in Arbeit befindlichen „Niedersächsischen Naturschutzstrategie“, in der Waldstrategie des Landes sowie in dem ab dem Jahr 2015 zu erstellenden „Niedersächsischen Landschaftsprogramm“ zu verankern sein. Zu 4: Die Landesregierung würde es begrüßen, wenn auch die Kommunen geeignete Flächen einer eigendynamischen Entwicklung überlassen würden. Wildnisflächen im urbanen Bereich sind unter klimatischen Gesichtspunkten und für die biologische Vielfalt sowie für das Naturerleben und die Erholung im unmittelbaren Wohnumfeld von besonderem Wert. Der Beitrag urbaner Räume für die Vergrößerung der Wildnisfläche in Niedersachsen kann in quantitativer Hinsicht allerdings nur relativ gering sein. Zu 5: Eine Vielzahl frei lebender Tierarten findet in urbanen Räumen gute Lebensbedingungen und hat sich als urbane, in Koexistenz mit dem Menschen lebende Fauna etabliert. Zusätzlich werden Tiere aus dem Umland angelockt, die sich zeitweise, z. B. aufgrund günstiger Nahrungsangebote, in der Stadt aufhalten. Akzeptanzprobleme hinsichtlich wild lebender Tierarten in städtischen Räumen ergeben sich dann, wenn der Mensch beeinträchtigt oder belästigt wird, Schäden oder Gesundheitsgefahren auftreten oder er sich bedroht fühlt. Was den Wolf betrifft, der bei zunehmender Ausbreitung in Niedersachsen auch besiedelte Bereiche bei seinen Streifzügen nicht aussparen wird, muss die weitere Entwicklung aufmerksam beobachtet werden. Zu 6: Der Wunsch nach mehr Wildnis und die gleichzeitige Forderung nach einem Erhalt der Kulturlandschaft sind nachvollziehbar und schließen sich gegenseitig nicht aus. Einerseits will der Mensch eine strukturierte, geordnete und überschaubare Kulturlandschaft, die bewirtschaftet, zugänglich und 3 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1844 für Freizeitaktivitäten nutzbar ist. Andererseits besteht eine Sehnsucht nach ursprünglicher, vielfältiger , eigenartiger und erlebnisreicher Natur, in der Naturprozesse wirken und die als Gegenpol zur intensiv genutzten, bebauten und auf sonstige Weise anthropogen überformten Landschaft wahrgenommen werden kann. Sich Wildnisbereiche in einer Größenordnung von 2 % des Bundesgebietes zu leisten - bei 98 % weiterhin nutzbarer Fläche - ist gesellschaftliche Aufgabe und Verpflichtung zugleich mit vielfältigen positiven Auswirkungen (z. B. klimatische und hydrologische Effekte, Erhaltung der biologischen Vielfalt und genetischer Ressourcen, Erlebnis- und Erholungswirkungen , Bedeutung für die Umweltbildung und die Wissenschaft). Zu 7: Der Erhalt der Kulturlandschaften in Niedersachsen und die Vermehrung von Wildnisflächen lassen sich sinnvoll miteinander kombinieren. Durch eine behutsame Erhöhung des Flächenanteils für Wildnis auf dafür geeigneten Flächen geht der Charakter der unterschiedlichen Kulturlandschaften nicht verloren, sondern es erfolgt eine Komplettierung des Spektrums der naturraumbezogenen potenziellen Naturausstattung. Zu 8: Über die möglichen Folgen der Verdoppelung der Wildnisfläche für die Land- und Forstwirtschaft liegen keine umfassenden quantitativen und qualitativen Prognosen vor. Was die Nutzungsaufgabe auf ausgewählten öffentlichen Flächen des Landes betrifft, ergeben sich für das Land „Einnahmeverluste“ (Verlust von Pachteinnahmen, Mindereinnahmen durch Verzicht auf Holzeinschlag etc.), die allerdings in das Verhältnis zu dem Zugewinn an sich natürlich entwickelnden Flächen mit ihren vielfältigen positiven Effekten und Wohlfahrtswirkungen für die Allgemeinheit zu setzen sind. Der Verzicht auf eine forstliche Nutzung auf Flächen der Niedersächsischen Landesforsten, insbesondere auf Holzeinschlag und -verkauf, ist für den öffentlichen Wald mit Mindereinnahmen und Mehraufwendungen verbunden, die zurzeit noch nicht beziffert werden können. Vom Nutzungsverzicht werden voraussichtlich auch Flächen mit bereits jetzt eingeschränkter oder besonders naturschutzorientierter Bewirtschaftung betroffen sein (z. B. Steilhänge, nicht begehbarer Wald, Naturschutzgebiete, Natura 2000-Flächen, ökologisch besonders wertvolle „HotSpots “). Stefan Wenzel (Ausgegeben am 08.08.2014) 4 Drucksache 17/1844 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage des Abgeordneten Dr. Gero Hocker (FDP), eingegangen am 15.05.2014 Wie steht die Landesregierung zu mehr Wildnis? Antwort der Landesregierung