Niedersächsischer Landtag  17. Wahlperiode Drucksache 17/1891 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage des Abgeordneten Hermann Grupe (FDP), eingegangen am 25.06.2014 Wie gefährlich sind Chlorhähnchen wirklich? Das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA (TTIP) ist in der öffentlichen Debatte sehr umstritten. Ein besonders stark diskutierter Punkt ist die Furcht vor sogenannten Chlorhähnchen, also Hähnchen, die zum Zweck der Entkeimung mit Chlordioxid des- infiziert werden. Experten des Bundesamtes für Risikobewertung (BfR) sprachen sich nun dafür aus, auch in Deutschland die Behandlung von Geflügelfleisch mit Chlorverbindungen als zusätzliche Maßnahme ergänzend zu hohen Erzeugungsstandards einzuführen, da sie die Abtötung der Keime durch Chlor als geeignetes Mittel zum Schutz der Gesundheit der Konsumenten sehen. Ebenso äußert sich Prof. Reinhard Fries, Leiter des Instituts für Fleischhygiene und -technologie an der Freien Universität Berlin, der in einem Interview mit „Report Mainz“ sagte: „Die Behandlung von Geflügelfleisch mit Chlorverbindungen ist von Vorteil, weil wir damit eine weitere Möglichkeit haben, Mikroorganismen auf Geflügel und auf anderen Schlachtkörpern unter Kontrolle zu halten.“ Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung: 1. Welche Gefahren gehen nach Auffassung der Landesregierung von Chlorhähnchen aus? 2. Wie bewertet die Landesregierung die Aussagen des BfR und von Professor Fries? 3. Können nach Auffassung der Landesregierung Chlorbäder für Hähnchen größere Gefahren verhindern? 4. Inwieweit können in Hähnchen befindliche Bakterien wie beispielsweise Salmonellen bei der Lagerung in der Kühlung auf andere dort befindliche Lebensmittel, die wie beispielsweise Sa- late roh verzehrt werden, übergreifen? 5. Inwieweit müssen alle Lebensmittel nach Auffassung der Landesregierung zukünftig erhitzt werden, um Erkrankungen zu verhindern? 6. Welche Erkrankungen durch den Verzehr von gechlorten Hähnchen in den USA sind der Lan- desregierung bekannt, und in welchem Ausmaß kommen sie vor? 7. Inwieweit sind die Auswirkungen von Chlordioxid gefährlicher als Keimerkrankungen? 8. Welche Alternativen zur Keimbekämpfung bei Lebensmitteln hält die Landesregierung für ge- eignet, und weshalb sind diese der Behandlung durch Chlordioxid vorzuziehen? 9. Inwieweit ist der Besuch von Schwimmbädern mit chlorhaltigem Wasser schädlich, und muss der Chloreinsatz auch dort verboten werden? (An die Staatskanzlei übersandt am 03.07.2014 - II/725 - 802) Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1891 2 Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Ministerium Hannover, den 21.08.2014 für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - 201-42440/2-29 - In der EU ist die Anwendung von chemischen Substanzen zur Oberflächenbehandlung von Geflü- gelfleisch nicht zulässig. Seit 1997 ist die Einfuhr von chemisch dekontaminiertem Geflügelfleisch verboten. In der EU - und somit in Niedersachsen - wird nach einem ganzheitlichen Hygieneansatz in der ge- samten Lebensmittelkette verfahren und eine konsequente Kontaminationsvermeidung auf allen Stufen der Herstellung und des Vertriebs und nicht erst im Endprodukt angestrebt. In der gesamten Produktionskette muss für hygienische Bedingungen und eine Minimierung der mikrobiellen Belas- tung gesorgt werden. Nach den derzeit geltenden Hygienevorschriften darf zum Zweck der Entfer- nung von Oberflächenverunreinigungen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs kein anderer Stoff als Trinkwasser verwendet werden. Dieses Prinzip ist in der niedersächsischen und europäischen Geflügelwirtschaft etabliert. Der Ver- braucher erwartet Geflügelfleisch, das auf natürliche Weise ohne chemische Behandlung produziert wurde. Dieses vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt: Zu 1: Die Landesregierung sieht die Gefahr, dass eine chemische Behandlung der Geflügelschlachtkör- per mit Chlordioxid dazu führen könnte, dass die in den vergangenen Jahren etablierten Hygiene- maßnahmen auf allen Stufen der Lebensmittelkette vernachlässigt werden. Eine antimikrobielle Behandlung am Ende des Produktionsprozesses eröffnet die Möglichkeit, Hygienemaßnahmen bei der Primärerzeugung, beim Transport und im Schlachtbetrieb zu vernachlässigen in der Annahme, dass dadurch Hygienefehler am Ende des Produktionsprozesses ausgeglichen werden können. Eine Abkehr von dem bestehenden Verbot der Oberflächenbehandlung mit Chlordioxid würde der Erwartung der Verbraucher zuwiderlaufen, die beim Kauf ein insgesamt hygienisch erzeugtes, na- turnahes Produkt voraussetzen und eine chemische Behandlung ablehnen. Zu 2: Das BfR hat bereits 2006 eine Stellungnahme zu diesem Thema abgegeben und darin die Chlor- behandlung „nicht grundsätzlich abgelehnt“. Es wurde aber darauf hingewiesen, dass zu beachten sei, dass das Fleisch nach der Schlachtung eine „natürliche“ Oberflächenflora besitze. Werde diese Flora vollständig beseitigt, fänden pathogene Keime bessere Wachstumsbedingungen auf der Fleischoberfläche vor. Die Dekontaminationseffekte seien nur für einen kurzen Zeitraum wirksam und würden durch Abspülen neutralisiert. Im Falle einer extrem hohen Keimbelastung des Fleisches könne aufgrund der Oberflächenstruktur der Geflügelhaut und der zahlreichen Hohlräume der Geflügelkarkassen keine vollständige Dekon- tamination erwartet werden. Eine Resistenzbildung bei fortdauernder Anwendung der gleichen Substanz gegenüber pathogenen Keimen könne nicht ausgeschlossen werden. Schließlich wies das BfR in der damaligen Stellungnahme darauf hin, dass Verbraucher von der Kennzeichnung als „dekontaminiertes Fleisch“ zu einem sorgloseren Umgang mit Geflügelfleisch verleitet werden könnten. Professor Fries hat die Aussage getroffen, dass die Behandlung von Geflügelfleisch mit Chlorver- bindungen von Vorteil sei, weil damit eine weitere Möglichkeit bestehe, Mikroorganismen auf Ge- flügel und auf anderen Schlachtkörpern unter Kontrolle zu halten. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1891 3 Auch in dieser Stellungnahme wird deutlich, dass mit der chemischen Dekontamination ein Infekti- onsrisiko nicht ausgeschlossen wird, sondern sie allenfalls ein zusätzlicher Baustein sein könnte. Die Landesregierung nimmt die aktuellen Aussagen zur Kenntnis, kann aber die Stellungnahme des BfR aus 2006 nicht ignorieren, bewertet diese als belastbar und ist weiterhin der Auffassung, dass sie im Sinne des gesundheitlichen Verbraucherschutzes zu berücksichtigen ist. Die Landes- regierung ist der Auffassung, dass bei Beachtung des europäischen Hygienekonzeptes eine che- mische Dekontamination nicht erforderlich ist. Verbraucher wissen, dass sie kein steriles Produkt erwerben, und berücksichtigen dies bei ihrer Küchenhygiene. Aber sie erwarten ein insgesamt hy- gienisch erzeugtes Produkt ohne chemische Vorbehandlung. Zu 3: Nein. Gesundheitliche Gefahren durch möglicherweise keimbelastetes Geflügelfleisch werden durch Chlorbäder nicht verhindert (siehe Antwort zu 2). Zu 4: Bei einer hygienischen - d. h. getrennten - Lagerung bei ausreichender Kühlung ist eine Kontamina- tion anderer Lebensmittel durch auf Geflügelfleisch befindliche Keime ausgeschlossen. Bei Miss- achtung dieser Hygieneregeln kann es zu Kreuzkontamination kommen. Kreuzkontaminationen von Rohprodukten tierischen Ursprungs und rohen pflanzlichen Lebensmit- teln wurden von der EFSA in allen Bereichen außerhalb der Primärerzeugung als größtes Risiko für die Übertragung von Salmonellen benannt. Rohe Lebensmittel tierischen Ursprungs und rohe pflanzliche Lebensmittel sollen deshalb voneinander getrennt und ausreichend gekühlt aufbewahrt werden. Der hygienische Umgang mit Geflügelfleisch wird in zahllosen Veröffentlichungen erläutert; dazu gehören insbesondere z. B. das Händewaschen auch zwischen einzelnen Zubereitungsschritten, das sofortige, hygienische Entsorgen von Auftauwasser, die Verwendung sauberer Gerätschaften und das vollständige Durchgaren von Geflügelspeisen. Das BfR hat im Januar 2014 seine Empfehlungen zum Schutz vor Lebensmittelinfektionen im Pri- vathaushalt aktualisiert (siehe auch Antwort zu 8). Zu 5: Krankheitserreger können von Menschen, Haustieren oder Schädlingen auf Lebensmittel übertra- gen werden. Eine weitere Übertragungsmöglichkeit besteht durch rohe Lebensmittel, von denen Keime direkt oder über Hände, Küchenutensilien oder Arbeitsflächen auf andere Lebensmittel über- tragen werden. Ein Infektionsrisiko besteht vor allem dann, wenn Lebensmittel roh verzehrt oder vor dem Verzehr nicht mehr ausreichend erhitzt werden. Bei Rohverzehr von Lebensmitteln oder der Verwendung von nicht vollständig durchgegarten Le- bensmitteln sollte der üblichen Küchenhygiene besondere Beachtung geschenkt werden (siehe auch Antwort zu 8). Das vollständige Durchgaren von Geflügelspeisen ist Bestandteil von allgemein gültigen Hygie- neanweisungen (siehe Antwort zu Frage 4). Die meisten Krankheitserreger werden abgetötet, wenn Speisen bei der Zubereitung und beim Aufwärmen ausreichend, d. h. für zwei Minuten oder länger auf mindestens 70° C erhitzt werden. Diese Temperatur sollte auch im Inneren des Lebensmittels erreicht werden. Zudem lässt sich die Vermehrung von Mikroorganismen in Lebensmitteln reduzie- ren, wenn die Lebensmittel kühl gelagert werden. Zu 6: Der Landesregierung ist nicht bekannt, ob und welche Erkrankungen in den USA durch den Ver- zehr von Chlorhähnchen auftreten. Zu 7: Die Frage suggeriert, dass eine Anwendung von Chlordioxid eine Alternative zu Keimerkrankungen sei und die jeweiligen Gefahren miteinander verglichen werden könnten. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/1891 4 Die Anwendung von Chlordioxid führt nicht zur Keimfreiheit der Geflügelschlachtkörper (siehe Ant- wort zu 2 und 3). Insofern erübrigt sich eine Einstufung der jeweiligen Gefahr. Zu 8: Die Landesregierung ist der Auffassung, dass angemessene und wirksame Maßnahmen zur Fest- stellung und Bekämpfung von Salmonellen und anderen Zoonoseerregern auf allen relevanten Herstellungs-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen, insbesondere auf der Ebene der Primärproduk- tion, getroffen werden, um die Prävalenz dieser Erreger und das von ihnen ausgehende Risiko für die öffentliche Gesundheit zu senken. Die Landesregierung hält die Maßnahmen in Erzeugerbetrieben, die z. B. im Rahmen der Salmo- nellenbekämpfung in Geflügelställen systematisch gemäß Verordnung (EG) Nr. 2160/2003 durch- geführt werden, für zielführend, um die Salmonellen in der Lebensmittelkette zu minimieren. In den Veredelungsbetrieben greifen die wirtschaftsseitigen und die amtlichen Kontrollmaßnahmen nach europäischem Hygienerecht. Für den Bereich der Privathaushalte existieren Empfehlungen zum Schutz vor Lebensmittelinfekti- onen. BfR fasst Empfehlungen zur Lebensmittel- und Küchenhygiene in seiner aktuellen Empfeh- lung mittels Merkblatt zusammen: „Verbrauchertipps: Schutz vor Lebensmittelinfektionen im Privat- haushalt“. Ziel ist es, auch in der eigenen Küche Lebensmittel vor Verunreinigungen zu schützen, die Vermeh- rung von Krankheitserregern in Lebensmitteln zu begrenzen oder deren Überleben zu verhindern. (Das Merkblatt steht auf der Internetseite des BfR im Bereich Publikationen zum Herunterladen zur Verfügung.) Diesen jeweiligen Maßnahmen wird seitens der Landesregierung der Vorzug gegeben vor einer chemischen Dekontamination. Zu 9: Besucherinnen und Besucher eines Schwimm- oder Badebeckens geben Mikroorganismen (Bakte- rien, Pilze und gegebenenfalls Viren) an das Wasser ab. Diese können für andere Badende zu ei- ner Infektionsquelle werden. Nach § 37 Abs. 2 des Infektionsschutzgesetzes 1 muss „Schwimm- oder Badebeckenwasser in Gewerbebetrieben, öffentlichen Bädern sowie in sonstigen nicht aus- schließlich privat genutzten Einrichtungen so beschaffen sein, dass durch seinen Gebrauch eine Schädigung der menschlichen Gesundheit, insbesondere durch Krankheitserreger, nicht zu besor- gen ist“. Die gesundheitlich unbedenkliche und ästhetisch einwandfreie Beschaffenheit des Be- ckenwassers setzt eine ständige Frischwasserzugabe, eine Umwälzung mit Filtration und Desinfek- tion voraus. Um dies sicherzustellen, stellt die DIN 19643, Teil 1, allgemeine Anforderungen an die Aufbereitung von Schwimm- und Badebeckenwasser. Ein wichtiger Bestandteil dieses Systems ist die dosierte Zugabe von Chlor als Desinfektionsmittel. Bei einem Betrieb von Schwimm- und Badebecken entsprechend den allgemein anerkannten Re- geln der Technik, insbesondere den Anforderungen der DIN 19643-2012 und der Beachtung der raumlufttechnischen Anforderungen und Regelungen des Deutschen Instituts für Normung (DIN) und des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), ist kein gesundheitliches Risiko durch die Chlorung des Beckenwassers zu erwarten. Das gilt auch für die infolge der Desinfektion gebildeten Desinfek- tionsnebenprodukte. Christian Meyer 1 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Artikel 2 Abs. 36 u. Artikel 4 Abs. 21 des Gesetzes vom 7. August 2013 (BGBl. I S. 3154) (Ausgegeben am 29.08.2014) Drucksache 17/1891 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage des Abgeordneten Hermann Grupe (FDP), eingegangen am 25.06.2014 Wie gefährlich sind Chlorhähnchen wirklich? Antwort der Landesregierung