Niedersächsischer Landtag  17. Wahlperiode Drucksache 17/2059 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage der Abgeordneten Frank Oesterhelweg (CDU) und Björn Försterling (FDP), eingegangen am 08.08.2014 Geschwindigkeitsreduzierungen in Wolfenbüttel: „keine Auffälligkeiten im Unfallgeschehen “, „kein Handlungsbedarf“, „keine Notwendigkeit“ - muss erst etwas passieren? Die Stadt Wolfenbüttel, vertreten durch ihren Bürgermeister Thomas Pink, bemüht sich seit Jahren um Geschwindigkeitsreduzierungen an Landesstraßen an brisanten Punkten im Stadtgebiet. Dabei wurde und wird der Bürgermeister unterstützt von Bürgerinnen und Bürgern, Vereinsvertretern, Schulen und Kindertagesstätten sowie Vertretern der Politik aus Stadt und Land. Drei Schwerpunkte zeichnen sich ab: Die L 614 führt direkt am Gelände des Freibades Fümmelsee vorbei. Durch die starke Frequentierung des Bades, die Nutzung durch Grundschule und Kinderta- gesstätte sowie die Tatsache, dass ÖPNV-Nutzer die Straße dort überqueren müssen, ergeben sich in diesem recht unübersichtlichen Bereich erhöhte Verkehrsrisiken gerade für junge Verkehrs- teilnehmer. Die Stadt bemüht sich dort um eine - zumindest saisonale - Reduzierung der Ge- schwindigkeit von 70 km/h auf 50 km/h. Die Landesregierung hat hierzu u. a. schon im Rahmen ei- ner Kleinen Anfrage des Abgeordneten Frank Oesterhelweg Stellung genommen. Die innerstädtisch gelegene Lange Straße weist in kurzen Abständen wechselnde Geschwindig- keitsgebote von 50 km/h und 30 km/h auf. An dieser Straße liegen u. a. eine große Grundschule, in unmittelbarer Nähe eine weitere Grundschule und eine Kindertagesstätte, das Lessingtheater, ein gut frequentiertes Kino und eine beliebte Eisdiele sowie weitere Einzelhandelsgeschäfte und Dienstleister, darüber jeweils Wohnungen mit teilweise kinderreichen Familien. Die Straße über- querende Fußgänger gehören hier zum Stadtbild. Vor diesem Hintergrund möchte die Stadt hier durchgehend 30 km/h anordnen. Nach Mitteilung des Landes könnten im Falle einer entsprechen- den Anordnung GVFG-Mittel zurückgefordert werden, die für die Sanierung des in Rede stehenden Bereiches gezahlt wurden. Der von der Stadt Wolfenbüttel angeschriebene Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr will hier keinen Rückforderungsverzicht aussprechen. Die L 631 zwischen dem Wolfenbütteler Ortsteil Salzdahlum und der benachbarten Gemeinde Sick- te führt an der Zuwegung eines Reiterhofs und einer Biogasanlage vorbei. Die Niedersächsische Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr im Geschäftsbereich Wolfenbüttel erteilte dem Reiter- hof keine Genehmigung, diese Zufahrt für kommerzielle Zwecke zu nutzen. Begründung: gefährli- che Gesamtsituation, wohl eben auch durch zu hohe Geschwindigkeiten auf der Landesstraße. Wenige 100 Meter entfernt gibt es Reduzierungen auf 70 bzw. 50 km/h. Die Stadt möchte hier durchgehend 50 km/h durchsetzen, wobei begleitende bzw. zusätzliche Maßnahmen wie eine Aus- leuchtung des Zufahrtsbereichs später durchaus denkbar wären. Leider soll auch hier keine Ge- nehmigung erteilt werden. Die Situation könnte durch einen Radweg zwischen Salzdahlum und Sickte geklärt werden, für den sehr viele weitere Gründe sprechen. Anzumerken bleibt, dass der Reiterhof in seiner Existenz bedroht ist, wenn hier weiter praktikable Lösungen verweigert werden. In Schriftstücken bzw. Stellungnahmen beteiligter Dienststellen wird explizit darauf hingewiesen, dass „keine Auffälligkeiten im Unfallgeschehen“ festzustellen sind und deshalb „kein Handlungsbe- darf“ bzw. „keine Notwendigkeit“ bestehe, hier den Wünschen der Stadt zu folgen. Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung: 1. Wie erklärt bzw. begründet die Landesregierung das Verhalten der Niedersächsischen Lan- desbehörde für Straßenbau und Verkehr im Geschäftsbereich Wolfenbüttel sowie das Verhal- ten ihres Leiters u. a. gegenüber öffentlichen Amts- und Mandatsträgern? 2. Wie erklärt die Landesregierung die Verfahrensdauern bei diesen Angelegenheiten, insbe- sondere im ersten Fall der L 614 am Fümmelsee? Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/2059 2 3. Ist der zuständige Minister bereit, im Fall der Bitte der Stadt um Rückforderungsverzicht konk- ret selbst Verantwortung zu übernehmen? 4. Hält die Landesregierung es gegebenenfalls für möglich, dass sich bestimmte Sach- und Ge- fährdungslagen im Laufe von Jahren ändern können und damit auch eine Abweichung von bürokratischen Vorgaben und Verhaltensmustern im Rahmen von Ermessensspielräumen sinnvoll ist? 5. Ist die Landesregierung bereit, sich im Fall der L 631 vor dem Hintergrund der beschriebenen Sachlage auch für einen von Fußgängern mit zu nutzenden Radweg zwischen Salzdahlum und Sickte einzusetzen bzw. diesen - beispielsweise in bewährter Form als Gemeinschafts- radweg - zeitnah zu bauen? 6. Ist die Landesregierung bereit, den Geschäftsbereich Wolfenbüttel ihrer Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr anzuweisen, zu allen drei Fällen öffentliche Ortstermine mit der Stadt Wolfenbüttel abzustimmen und Betroffene und Öffentlichkeit anzuhören? 7. Ist die Landesregierung der Auffassung, dass gerade in stark von Kindern frequentierten Be- reichen Formalia hinter Sicherheitsinteressen zurückstehen müssen? 8. Ist die Landesregierung der Auffassung, dass es immer erst zu Gefahrensituationen und Un- fällen kommen muss, bevor - wie in diesen Fällen - beispielsweise Geschwindigkeitsbe- schränkungen angeordnet bzw. genehmigt werden? (An die Staatskanzlei übersandt am 25.08.2014 - II/725 - 911) Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Ministerium Hannover, den 22.09.2014 für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Z3-01424/0020/911/ Geschwindigkeitsreduzierungen - Maßstab für die Beurteilung aller geschilderten Verkehrssituationen sind die Vorschriften der Stra- ßenverkehrsordnung (StVO). Bei der StVO handelt es sich um eine Verordnung des Bundes im Be- reich des Gefahrenabwehrrechts. Die StVO ist privilegienfeindlich. Somit können wirtschaftliche Gründe, subjektive Empfindungen, die Rückzahlung von Fördermitteln oder andere sachfremde Erwägungen keinen Einfluss auf den Erlass von verkehrsrechtlichen Anordnungen haben. Zum Schutz aller Verkehrsteilnehmer hat der Verordnungsgeber die zulässige Höchstgeschwindig- keit außerhalb geschlossener Ortschaften generell auf 100 km/h, innerhalb geschlossener Ort- schaften auf 50 km/h beschränkt. Bei der innerörtlichen Geschwindigkeit sind u. a. auch die beson- deren Interessen der schwächeren Verkehrsteilnehmer wie Kinder, Senioren oder behinderten Menschen berücksichtigt. Wenn die Geschwindigkeit unter die allgemein geltende Höchstge- schwindigkeit herabgesetzt werden soll, müssen besondere Gründe vorliegen, die eine solche Be- schränkung rechtfertigen. Nach den Regelungen der StVO kann die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus sachlichen Gründen beschränkt oder verboten werden. Die Verkehrszeichen und Verkehrsein- richtungen sind jedoch nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Insbesondere dürfen Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur ange- ordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in der StVO genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Hierbei handelt es sich nicht um „Formalia“, sondern um eine Abwägung der unterschiedlichen Inte- ressen der beteiligten Verkehrsteilnehmer und Anwohner. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/2059 3 Auf Bundes- und Landesstraßen hat das Interesse des fließenden Verkehrs besonderes Gewicht, weil diese Straßen ihre Aufgabe, dichten Verkehr auch über längere Entfernungen zügig zu ermög- lichen und das übrige Straßennetz zu entlasten, nur erfüllen können, wenn möglichst wenig Ver- kehrsbeschränkungen vorhanden sind. Nach ihrem Widmungszweck dienen gerade die klassifizier- ten Straßen der Aufnahme der überregionalen Verkehrsströme. Ob die Voraussetzungen für Verkehrsbeschränkungen vorliegen, haben die Straßenverkehrsbe- hörden grundsätzlich in eigener Zuständigkeit zu prüfen und letztlich, auf Basis der vor Ort gewon- nenen Erkenntnisse, über die Anordnung von Beschränkungen des fließenden Verkehrs zu ent- scheiden. Die Teilstrecke der L 614 am Freibad Fümmelsee zwischen Wolfenbüttel und der B 248 ist bereits auf eine Geschwindigkeit von 70 km/h beschränkt. Die Straße ist in diesem Bereich mit einem durchschnittlichen täglichen Verkehr (DTV) von 3 500 Kraftfahrzeugen, davon durchschnittlich 220 Fahrzeuge des Schwerverkehrs, als schwach belastete Landesstraße in Niedersachsen anzu- sehen. Auch liegen auf diesem Streckenabschnitt keine Unfallauffälligkeiten und keine besonderen Gefahrenlagen vor, die eine andere als die bisher angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung rechtfertigen könnten. Auch während der Betriebszeit des Freibades, welches wegen des Neubaus des Stadtbades und der guten Wetterbedingungen im Sommer 2013 stärker ausgelastet war als in anderen Jahren, kam es nach Bericht der Polizei zu keinen Auffälligkeiten im Unfallgeschehen. Da auch keine weiteren Rechtfertigungsgründe nach der StVO vorgetragen wurden, wurde im Rahmen einer fachaufsichtlichen Überprüfung durch das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr (MW) festgestellt, dass eine weitergehende Beschränkung nicht mit der geltenden Rechtslage im Einklang steht. Allein die Befürchtung, dass Gefahrensituationen entstehen könnten, reicht für eine Verkehrsbeschränkung nicht aus. Die Verkehrsbeschränkungen auf Tempo 30 auf der innerstädtisch gelegenen „Lange Straße“ wer- den derzeit in einem fachaufsichtlichen Verfahren seitens des MW geprüft. Da die angeforderte Stellungnahme der Stadt Wolfenbüttel leider noch nicht vorliegt, kann die Prüfung zurzeit nicht ab- geschlossen werden. Die Frage, ob die Geschwindigkeitsbeschränkungen der „Lange Straße“ rechtmäßig sind, kann daher noch nicht beantwortet werden. Somit ist derzeit auch noch nicht er- sichtlich, ob GVFG-Mittel zurückzufordern sind. Der Betreiberin des außerhalb der geschlossenen Ortschaft gelegenen Reiterhofs an der L 631 zwischen Salzdahlum und Sickte ist als Antwort auf ihre Bauvoranfrage von der Stadt Wolfenbüttel schriftlich mitgeteilt worden, dass ein Reiterhof an dieser Stelle u. a. wegen einer fehlenden Zufahrt nicht baugenehmigungsfähig ist. Trotz dieser eindeutigen Ablehnung hat sie den Reiterhof gegrün- det und in Betrieb genommen. Aus Gründen der Verkehrssicherheit wird als Bedingung für eine Zu- fahrt zum Reiterhof - sowohl vom Straßenbaulastträger wie auch von der Polizei - neben einer Ge- schwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h ein separater Weg für Radfahrer und Fußgänger für not- wendig erachtet. Die Stadt Wolfenbüttel hat jetzt für diese Teilstrecke der L 631 eine Geschwindig- keitsbeschränkung auf 50 km/h angeordnet, gegen die Ansicht des Straßenbaulastträgers und der Polizei, die diese Anordnung für rechtwidrig halten. Das MW wird daher vor der Umsetzung auch diese Anordnung fachaufsichtlich prüfen. Zur Frage eines separaten Weges an der L 631 für Rad- fahrer und Fußgänger ist anzumerken, dass sich die Landesregierung trotz weiterhin angespannter Haushaltslage für den Neubau von Radwegen in Niedersachsen engagiert. Die Priorisierung richtet sich dabei nach dem Radwegekonzept 2012. Dieses Steuerungsinstrument wurde unter intensiver Einbindung der Kommunen abgestimmt. Es enthält 648 Wunschprojekte mit einem Investitionsvo- lumen von über 310 Mio. Euro. Die 133 dringlichsten Radwegneubaumaßnahmen an Landesstra- ßen mit einem Bauvolumen von insgesamt 65 Mio. Euro erhielten die Planungsfreigabe und wer- den seit 2013 sukzessive (in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln) umgesetzt. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/2059 4 Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen namens der Landesregierung wie folgt: Zu 1: Die Niedersächsische Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr vertritt das Land Niedersachsen als Straßenbaulastträger für die Landesstraßen und im Rahmen der Auftragsverwaltung auch für die Bundesstraßen. Dabei orientiert sich das Handeln sachbezogen an der geltenden Rechtslage, was durchaus in Einzelfällen auch zu unpopulären Entscheidungen führen kann. Zu 2: Durch die Auflösung der Bezirksregierungen ist die Fachaufsicht über die unteren Verkehrsbehör- den auf das MW übergegangen. Aufgrund der personellen Ausstattung im MW kann es bei der Vielzahl und der Schwierigkeit der fachaufsichtlichen Prüfungen zu zeitlichen Verzögerungen kom- men. Zu 3: Siehe Vorbemerkung. Zu 4: Nach Artikel 20 des Grundgesetzes ist die Verwaltung an die geltenden Gesetze gebunden. Sofern in den gesetzlichen Regelungen Ermessensspielräume vorgesehen sind, werden diese auch von der Verwaltung genutzt. Auch die Belange der schwächeren Verkehrsteilnehmer (Kinder, Senioren, mobilitätseingeschränkte Personen, etc.) sind in den einschlägigen Regelungen hinreichend be- rücksichtigt. Zu 5: Bei dem „Reiterhof“ handelt es sich nach hier vorliegenden Informationen um einen ohne Bauge- nehmigung in Betrieb genommenen Reitplatz, der mit einem Zelt überdacht ist. Die Zufahrt zum „Reiterhof“ soll über eine bestehende Zuwegung für eine Biogasanlage erfolgen, welche ca. 250 m vor der Ortslage Salzdahlum in die freie Stecke der L 631 mündet. Die zulässige Geschwindigkeit in diesem Bereich beträgt zurzeit 100 km/h. Eine verkehrssichere Anbindung des „Reiterhofs“ besteht zweifelsohne in dem Bau eines 250 m langen Radweges bis zur Zuwegung der Biogasanlage verbunden mit dem Bau einer Linksabbiegespur und einer Querungsfurt für Radfah- rer. Der Radweg zwischen Salzdahlum und Sickte mit einer Länge von mehr als 4 km gehört nicht zum vordringlichen Bedarf des Radwegekonzeptes 2012. Auch vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel sieht sich die Landesregierung nicht in der Lage, den Bau dieses 4 km langen Radwegs in absehbarer Zeit zu realisieren. Unabhängig davon wird der Bau als Gemein- schaftsradweg ausdrücklich begrüßt, sofern er bei der Fortschreibung des Radwegekonzepts in den vordringlichen Bedarf aufgenommen werden kann. Zu 6: Bei den in Rede stehenden Fällen handelt es sich um verkehrsbehördliche Entscheidungen, bei de- ren Erlass eine Beteiligung der Öffentlichkeit nicht vorgesehen ist und seitens der Landesregierung auch nicht notwendig erscheint. Bei der Vielzahl der zu erlassenden verkehrsbehördlichen Anord- nungen in Niedersachsen wäre eine jeweilige Beteiligung der Öffentlichkeit auch nicht praktikabel. Zu 7 und 8: Siehe Antwort zu Frage 4. Olaf Lies (Ausgegeben am 02.10.2014) Drucksache 17/2059 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort Anfrage der Abgeordneten Frank Oesterhelweg (CDU) und Björn Försterling (FDP), eingegangen am 08.08.2014 Geschwindigkeitsreduzierungen in Wolfenbüttel: „keine Auffälligkeiten im Unfallgeschehen“, „kein Handlungsbedarf“, „keine Notwendigkeit“ - muss erst etwas passieren? Antwort der Landesregierung