Niedersächsischer Landtag  17. Wahlperiode Drucksache 17/2352 1 Antwort auf eine Kleine schriftliche Anfrage - Drucksache 17/2054 - Wortlaut der Anfrage des Abgeordneten Dr. Marco Genthe (FDP), eingegangen am 09.09.2014 „Ehrenmorde“ in Deutschland Das Phänomen der sogenannten Ehrenmorde tritt in Deutschland in den letzten zehn Jahren ver- stärkt auf. Oftmals sieht die Familie ihre Ehre durch einen aus ihrer Sicht nicht passenden Partner oder ihrer Ansicht nach zu westlichen Lebensstil eines weiblichen Familienmitglieds gefährdet. In einigen Fällen werden die Frau - und häufig auch ihr Partner - als Konsequenz Opfer einer Gewalt- tat, meist ausgeführt von männlichen Familienmitgliedern. Auch eine von der Ehefrau ausgehende Scheidung kann solche Straftaten hervorrufen. Die Zahl dieser Vorfälle in Deutschland schätzt eine Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts für Strafrecht im Auftrag des Bundeskriminalamtes auf etwa zwölf pro Jahr, die Dunkelziffer aber liege weitaus höher. Die tatsächliche Anzahl dieser Vorfälle ist auch deshalb unklar, da die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) die „Ehrenmorde“ als solche nicht explizit ausweist. Dennoch ist eine Ermittlung der „Ehren- morde“ aus der Statistik möglich. Zunächst müssen sämtliche Delikte wegen Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge der vergangenen Jahre durch die Auswertestelle erhoben werden. Im nächsten Schritt werden die Daten nach ausländischen Namen selektiert. Schließlich kann die Dienststelle befragt werden, die die Tat bearbeitet hat. Der jeweilige Mordkommissionleiter kann ei- ne Auskunft erteilen, ob es bei der Tat sich um einen „Ehrenmord“ gehandelt hat. Die derzeitige Rechtslage bezüglich der „Ehrenmorde“ ist umstritten. Damit es sich bei einem Tö- tungsdelikt juristisch um einen Mord handelt, muss ein Mordmerkmal nach § 211 Abs. 2 StGB er- füllt sein. Mordmerkmale sind etwa niedere Beweggründe, Heimtücke oder das Verdecken einer Straftat. Wenn kein Mordmerkmal durch das Tötungsdelikt erfüllt wird, so ist auf Totschlag zu er- kennen. Angesichts der deutlich geringeren Strafandrohung bei einer Verurteilung wegen Tot- schlags - im Gegensatz zu Mord ist nicht auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen, sondern die Strafandrohung liegt bei nicht unter fünf Jahren Freiheitsstrafe - ist die juristische Zuordnung eines sogenannten Ehrenmordes nicht unbedeutend. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte 2004 ausgeführt, dass „Ehrenmorde“ prinzipiell immer Morde aus niederen Beweggründen seien, da die Tötung zur Wiederherstellung der Ehre sittlich auf tiefs- ter Stufe stehe. Eine Verurteilung wegen Totschlags könne es demnach nur in besonderen Fällen geben, wenn der ausländische Täter noch sehr stark in fremde Wertesysteme eingebunden sei, sodass ihm die Missachtung seiner Tat im hiesigen Rechtsystem nicht bewusst sein könne. Obwohl nach diesem Urteil des BGH eigentlich jeder „Ehrenmord“ auch als Mord einzustufen ist, werden laut einer Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts aus dem Jahr 2011 immer noch über die Hälf- te der Täter bei Tötungsdelikten, die aus Sicht der Studie als „Ehrenmord“ zu definieren sind, we- gen Totschlags verurteilt. Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung: 1. Wie definiert die Landesregierung einen „Ehrenmord“? 2. Wie viele „Ehrenmorde“ gab es - nach dem oben dargestellten Erfassungsverfahren - in Nie- dersachsen in den letzten zehn Jahren? 3. Inwieweit gibt es in Niedersachsen Programme für Frauen, die sich von ihrer Familie bedroht fühlen, und welche Art der Betreuung und Hilfen bieten diese an? 4. Inwieweit gibt es in Niedersachsen Programme für jüngere, männliche Familienmitglieder, die von ihrer Familie zu einer Tat gedrängt werden, und welche Art der Betreuung und Hilfen bie- ten diese an? Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/2352 2 5. Wie bewertet die Landesregierung die bestehenden Programme, und inwiefern besteht aus Sicht der Landesregierung Handlungsbedarf? 6. Wie bewertet die Landesregierung die Rechtslage bezogen auf Mord und Totschlag im spezi- ellen Fall der „Ehrenmorde?“ 7. Die niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz unterstützte den Vorstoß des Bundesjustizministers Heiko Maas, welcher im Februar dieses Jahres der Süddeutschen Zei- tung sagte, dass er „gesetzgeberischen Regelungsbedarf“ bezüglich der Paragrafen zu Mord und Totschlag sehe. Inwiefern wurden vor dem Hintergrund der „Ehrenmorde“ diesbezüglich schon erste Schritte seitens der Ministerin oder der Landesregierung eingeleitet? 8. Inwieweit kommt es für die Landesregierung infrage, zu diesem Thema das Initiativrecht des Bundesrates zu gebrauchen und gemeinsam mit den anderen Bundesländern einen Geset- zesentwurf auszuarbeiten, der auch der speziellen Problematik der „Ehrenmorde“ gerecht wird? (An die Staatskanzlei übersandt am 26.09.2014) Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Justizministerium Hannover, den 10.11.2014 - 4000 – 402.437 - Der Begriff des sogenannten Ehrenmordes ist weder gesetzlich normiert noch haben Literatur oder Rechtsprechung bislang eine hinreichend trennscharfe Definition gefunden. Das Max-Planck-Insti- tut für ausländisches und internationales Strafrecht hat im Jahr 2008 eine Studie zu dem Thema „Ehrenmorde in Deutschland 1996 - 2005“ durchgeführt und dabei folgende Begriffsbestimmung vorgenommen: „Ehrenmorde sind vorsätzlich begangene versuchte oder vollendete Tötungsdelikte, die im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustel- len. Die Verletzung der Ehre erfolgt durch einen wahrgenommenen Verstoß einer Frau gegen auf die weibliche Sexualität bezogene Verhaltensnormen“. Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage im Namen der Landesregierung wie folgt: Zu 1: Die Landesregierung hat bislang keine eigenständige Definition des „Ehrenmordes“ vorgenommen. Insbesondere das Strafgesetzbuch kennt diesen Begriff nicht. Zu 2: In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden (subjektive) Motive bei der Begehung von Straftaten nicht gesondert erfasst. Mangels eines eigenständigen Tatbestandes bzw. Auswertemerkers ist ei- ne gesonderte Selektion in niedersächsischen Vorgangsbearbeitungssystemen nicht möglich. Um eine fundierte Aussage treffen zu können, bedürfte es einer individuellen Prüfung eines jeden in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Tötungsdeliktes einschließlich der registrierten Versuche. Gleiches gilt für die Strafverfolgungsstatistik und die Geschäftsstatistiken. Derartige Angaben würden eine manuelle Einzelauswertung für den angesprochenen Zeitraum von 2004 bis 2014 erforderlich machen. Damit wäre ein Arbeitsaufwand verbunden, der ohne Zurück- stellung der eigentlichen Aufgaben von Polizei und Staatsanwaltschaften nicht möglich wäre und zudem im Rahmen der Beantwortung einer Kleinen Anfrage nicht geleistet werden kann. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/2352 3 Zu 3: Die polizeiliche Richtlinie „Zeugenschutz und zeugenschutzähnliche Maßnahmen bei herausragen- den Gefährdungssachverhalten“ des LKA Niedersachsen sieht u. a. den primären Schutz von po- tenziellen Verbrechensopfern vor. Sie beinhaltet auch die Durchführung geeigneter Schutzmaß- nahmen für gefährdete Personen. Darunter können auch Opfer ehelicher Gewalt und Opfer von möglichen Straftaten mit ethnischem Hintergrund fallen, sofern für die Betroffenen eine gegenwärti- ge Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des Nds. SOG besteht. Weiterhin existieren Programme u. a. gegen Zwangsehen oder aber auch zum Schutz von Opfern häuslicher Gewalt, deren Inhalte auch bei Sachverhalten, die im Kontext zu sogenannten Ehrenmorden stehen, genutzt werden können, z. B. für Präventionsmaßnahmen im Vorfeld entsprechender Taten. Das von der Landesregierung finanzierte „Niedersächsische Krisentelefon GEGEN Zwangsheirat“ ist dabei zumeist eine erste Anlaufstelle für Betroffene, aber auch für Fachleute aus Jugendämtern oder Schulen. Die Anrufenden können sich austauschen und sich entsprechend ihren Bedürfnissen informieren. Betroffene werden intensiv zu der Rechtslage und zu weitergehenden Möglichkeiten beraten. Diese Beratung ist eine höchst individuelle und kann u. a. die Weitervermittlung an die ört- liche Beratungsstelle bedeuten oder z. B. eine Begleitung bei der Wohnungssuche und Antragstel- lung für Sozialleistungen. Ist ein Verbleib in der Familie kurzfristig - z. B. durch Gewaltandrohung - ausgeschlossen, steht ein ebenfalls von der Landesregierung unterstützter und finanzierter Kriseninterventionsplatz zur Ver- fügung. Eine anonyme Einrichtung für Mädchen und junge Frauen bietet sofortigen Schutz und Be- treuung. Die Einrichtung bemüht sich zunächst um eine Stabilisierung der Betroffenen und berät im Weiteren über Möglichkeiten der Lebensplanung. Zu 4: Ein spezielles Programm für männliche Personen, die von ihrer Familie zu einer Tat gedrängt wer- den, besteht nicht. Zeugenschutzähnliche Maßnahmen im Bereich des operativen Opferschutzes (vgl. Frage 3) können jedoch im Einzelfall auch Anwendung für jüngere, männliche Familienmitglie- der finden, die von ihrer Familie zu einer Tat gedrängt werden und sich, z. B. bei Ablehnung, in ei- ner entsprechenden Gefährdungsposition befinden. Zu 5: Niedersachsen war 2005 eines der ersten Bundesländer, das sich zur Entwicklung eines Hand- lungskonzepts zur Ächtung von Zwangsehen entschlossen hat. Dieses Konzept wurde 2007 dem Landtag vorgelegt und enthält neben anderen Erfordernissen auch Maßgaben für den Ausbau von Beratungs- und Schutzeinrichtungen. Mit der Etablierung des Krisentelefons und des Kriseninter- ventionsplatzes wird eine situationsgerechte und zumeist nachhaltige Unterstützung für Betroffene angeboten. Mit Stand 28.10.2014 wurde das Krisentelefon in diesem Jahr in 138 Fällen kontaktiert. Die anony- me Schutzeinrichtung wurde in 58 Fällen angefragt. Die unter 3. genannten Programme bieten potenziellen Opfern eine zielgerichtete Hilfestellung. Un- abhängig von diesen Programmen ist gewährleistet, dass der infrage kommende Personenkreis - auch neben bzw. über die Programme hinaus - individuell unterstützt wird, wenn entsprechende Sachverhalte bzw. deren Anbahnung den Strafverfolgungsbehörden bekannt werden. Die betreffenden Programme werden kontinuierlich evaluiert und gegebenenfalls weiterentwickelt. Dadurch ist gewährleistet, dass speziellen Erscheinungsformen, die sich in einer pluralistisch ge- prägten Gesellschaft entwickeln können, phänomenspezifisch begegnet werden kann. Zu 6: Ob bei einer Tötung aufgrund eines Ehrenkodex ein niedriger Beweggrund vorliegt und die Tat deshalb als Mord i. S. d. § 211 StGB zu bewerten ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/2352 4 Zu 7: Die Landesregierung spricht sich für eine grundlegende Reform der Tötungsdelikte aus. Sie be- grüßt daher ausdrücklich, dass das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eine Expertenkommission einberufen hat, die Vorschläge für eine Reform der Tötungsdelikte erarbeitet. Die Niedersächsische Justizministerin hat außerdem bereits zusammen mit ihrer Amtskollegin aus Schleswig-Holstein am 05.06.2014 in Kooperation mit dem Deutschen Juristentag eine Diskussi- onsveranstaltung in Berlin zu diesem Themenkomplex durchgeführt, an der Experten aus der Poli- tik, der Wissenschaft, den Verbänden und der Justiz teilgenommen haben. Zu 8: Die von dem Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz im Mai 2014 eingesetzte Experten- gruppe zur Überarbeitung der Tötungsdelikte soll in den kommenden Monaten einen umfassenden Bericht mit Empfehlungen für eine Reform der Tötungsdelikte vorlegen. Damit wird eine fundierte Grundlage für eine länderübergreifende Diskussion und zielführende Mitarbeit an dem Reformvor- haben geschaffen. In Vertretung Wolfgang Scheibel (Ausgegeben am 20.11.2014) Drucksache 17/2352 Antwort auf eine Kleine schriftliche Anfrage - Drucksache 17/2054 - Wortlaut der Anfrage des Abgeordneten Dr. Marco Genthe (FDP), eingegangen am 09.09.2014 „Ehrenmorde“ in Deutschland Antwort der Landesregierung