Niedersächsischer Landtag  17. Wahlperiode Drucksache 17/2649 1 Antwort auf eine Kleine schriftliche Anfrage - Drucksache 17/2347 - Wortlaut der Anfrage des Abgeordneten Jan-Christoph Oetjen (FDP), eingegangen am 11.11.2014 Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Der EGMR hat am 5. November 2014 ein Urteil bezüglich der europäischen Flüchtlingspolitik ver- kündet. Demnach soll die Rückführung von Flüchtlingen, die über Italien in die EU gekommen sind, dann aber weitergezogen sind, nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen. Das Urteil sieht vor, dass die Flüchtlinge nur zurückgeführt werden dürfen, wenn ihre Rechte in dem Erstaufnahmeland auch tatsächlich gewährleistet sind. Konkret ging es in dem Gerichtsverfahren um eine achtköpfige afghanische Familie, welche nach Auffassung des EGMR erst von der Schweiz zurück nach Italien überführt werden könne, wenn Ita- lien zusichert, sie angemessen zu behandeln. Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung: 1. Wie bewertet die Landesregierung das Urteil des EGMR? 2. Welche Konsequenzen ergeben sich aus Sicht der Landesregierung daraus? 3. Wie viele Dublin-Überstellungen gab es im Jahr 2013 von Niedersachsen in andere EU-Län- der, wie viele davon gingen nach Italien? 4. Wie viele Dublin-Überstellungen gab es im Jahr 2014 von Niedersachsen in andere EU-Län- der, wie viele davon gingen nach Italien (Stichtag: 1. Dezember 2014)? (An die Staatskanzlei übersandt am 18.11.2014) Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Ministerium Hannover, den 18.12.2014 für Inneres und Sport - 61.12 – 46119.41-1 - Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 4. November 2014 konkretisiert die staatlichen Pflichten im Rahmen der Anwendung des sogenannten Dublin-Verfah- rens. Grundlage für das Dublin-Verfahren ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Par- laments und des Rates vom 26 Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestim- mung des EU-Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Die Dublin III-VO ist am 19. Juli 2013 in Kraft getreten und findet gemäß Artikel 49 seit dem 1. Januar 2014 unmittelbare Anwendung. Sie hat die Vorgängerregelung, die sogenannte Dublin II-VO vom 18. Februar 2003 abgelöst. In Deutschland liegt die Zuständigkeit für die Umsetzung dieser Ver- ordnungen ausschließlich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Gegenstand des Verfahrens war der Einzelfall einer afghanischen Familie mit sechs minderjährigen Kindern, die gemäß der Dublin II-VO von der Schweiz nach Italien überstellt werden sollte. Die Fa- milie hatte geltend gemacht, dass ihr infolge der Überstellung unmenschliche oder erniedrigende Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/2649 2 Behandlung im Sinne von Artikel 3 EMRK drohe, da die in Italien herrschenden Zustände für Flüchtlinge unzulänglich seien. Der EGMR nimmt eine differenzierte Bewertung der Situation für Flüchtlinge in Italien vor. Basie- rend auf einen Bericht von UNHCR aus dem Jahr 2013 stellt er fest, dass es eine deutliche Diskre- panz zwischen der Zahl der Antragsteller und der zur Verfügung stehenden Unterbringungsplätze gebe und die Lebensbedingungen nicht unproblematisch seien. Trotz erkennbarer Anstrengungen der italienischen Behörden bestünden Defizite, so u. a. bei Betreuung und psychologischer Hilfe in Notaufnahmezentren, Identifizierung vulnerabler Personen und Wahrung der Familieneinheit. Der EGMR verweist in diesem Zusammenhang auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Asylsuchen- den, insbesondere von Kindern, unabhängig von einer Begleitung durch die Eltern. Bezogen auf den Einzelfall sieht der EGMR die Furcht der Familie, nach Rückkehr in Italien ohne angemessene Unterkunft zu bleiben, als begründet an. Der überstellende Staat, die Schweiz, wur- de zur Vermeidung einer Verletzung des Artikel 3 EMRK, wonach niemand einer unmenschlichen Behandlung unterworfen werden dürfe, verpflichtet, eine detaillierte und verlässliche Zusicherung vom aufnehmenden Staat, Italien, einzuholen, dass nach Rückkehr der Familie nach Italien eine adäquate, dem Alter der Kinder angemessene, Unterbringung erfolge und die Familieneinheit ge- wahrt werde. Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt: Zu 1: Die Landesregierung begrüßt die differenzierten Vorgaben des EGMR, dass bei der Überstellung von Familien mit Kindern im Rahmen der Dublin III-VO nach Italien im Vorfeld sicherzustellen ist, dass sowohl eine adäquate Unterbringung als auch die Wahrung der Familieneinheit vom aufneh- menden Staat gewährleistet wird. Damit wird der besonderen Schutzbedürftigkeit von Familien vor allem auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls Rechnung getragen. Minister Pistorius hat daher auf der IMK im Dezember den Bundesinnenminister um Unterrichtung darüber gebeten, wie die Umsetzung des Urteils durch das BAMF im Einzelnen erfolgen soll. Zu 2: Das in Rede stehende Urteil des EGMR zu Überstellungen im Rahmen des sogenannten Dublin- Verfahrens nach Italien wirkt sich ausschließlich auf das Verfahren des BAMF aus. Sowohl die Än- derung des Vorgehens bei Überstellungen von Familien nach Italien als auch der Aufbau der dafür notwendigen administrativen Strukturen obliegen allein dem BAMF. Die Länder sind nur mittelbar betroffen, indem sie ihrerseits im Rahmen der Vollzugshilfe die vom BAMF avisierten Vorgaben bei der Überstellung nach der Dublin III-VO zu berücksichtigen haben. Das Urteil wird eine veränderte, den Ansprüchen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Familien gerecht werdenden Vorgehensweise bei der Überstellung nach Italien zur Folge haben, was von der Landesregierung ausdrücklich begrüßt wird. Zu 3: In der Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2013 sind von Niedersachsen 301 Überstellungen im Rahmen der Umsetzung der Dublin II-VO vollzogen worden, davon zehn Überstellungen nach Ita- lien. Zu 4: In der Zeit vom 1. Januar bis 30. November 2014 sind von Niedersachsen 536 Asylbewerberinnen und Asylbewerber in den für ihr Asylverfahren zuständigen EU-Staat überstellt worden, davon 79 Personen nach Italien. Boris Pistorius (Ausgegeben am 08.01.2015) Drucksache 17/2649 Antwort auf eine Kleine schriftliche Anfrage - Drucksache 17/2347 - Wortlaut der Anfrage des Abgeordneten Jan-Christoph Oetjen (FDP), eingegangen am 11.11.2014 Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Antwort der Landesregierung