Niedersächsischer Landtag  17. Wahlperiode Drucksache 17/3574 1 Antwort auf eine Kleine schriftliche Anfrage - Drucksache 17/3131 - Wortlaut der Anfrage der Abgeordneten Jörg Hillmer und Dr. Stephan Siemer (CDU), eingegangen am 03.03.2015 Zieht sich das Land aus der Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus zurück? Defizite beim Lesen und Schreiben bis zum völligen Unvermögen in diesen Disziplinen sind weit verbreitet. Nach der „leo. Level-One Studie“ der Universität Hamburg aus dem Jahre 2011 waren in Deutschland ca. 14 % der Gesamtbevölkerung bzw. 7,5 Millionen Menschen sogenannte funktiona- le Analphabeten. Diese Menschen haben erhebliche Schwierigkeiten, den Sinn eines längeren Tex- tes zu verstehen. Ausgehend von dieser Schätzung, dürften etwa 750 000 Niedersachsen funktio- nale Analphabeten sein. In den vergangenen Jahren hat das Land Niedersachsen erhebliche finan- zielle Mittel für die Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus und die Grundbildung bereitge- stellt, so z. B. finanziert über den Europäischen Sozialfonds. Für die Jahre 2014 bis 2020 hat das Land Niedersachsen nun ein sogenanntes Multifondspro- gramm aufgelegt, das die Niedersachsen zur Verfügung stehenden EU-Fördermittel aus dem Eu- ropäischen Sozialfonds und dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung zusammenfasst. Somit müsste das Multifondsprogramm wichtige Ziele des ESF für Niedersachsen fortführen. Wir fragen die Landesregierung: 1. Wie hoch schätzt das Land die Zahl der funktionalen Analphabeten in Niedersachsen ein? 2. Welche Bedeutung misst das Land der Alphabetisierung und Grundbildung bei? 3. Welche Mittel hat das Land Niedersachsen in den Jahren 2008 bis 2014 für die Alphabetisie- rung und Grundbildung bereitgestellt (bitte nach Haushaltsjahren aufschlüsseln)? 4. In welcher Höhe wurden in den Jahren 2008 bis 2014 in Niedersachsen für Alphabetisierung und Grundbildung EU-Fördermittel eingesetzt, und wie hoch war jeweils die Gegenfinanzie- rung aus Landesmitteln (bitte nach Haushaltsjahren aufschlüsseln)? 5. In welcher Höhe sollen ab 2015 in Niedersachsen EU-Fördermittel für Alphabetisierung und Grundbildung eingesetzt werden, und welche Landesmittel stehen zur Kofinanzierung der EU- Mittel zur Verfügung (bitte bis 2020 nach Haushaltsjahren aufschlüsseln)? 6. Welche Mittel für Alphabetisierung und Grundbildung wird das Land im Jahr 2015 und im Mipla-Zeitraum pro Jahr bereitstellen? 7. Hat sich die Mittelbereitstellung für 2015 gegenüber den vorangegangenen Jahren geändert und, wenn ja, warum? 8. Stehen über das neue Multifondsprogramm für Niedersachsen und in Bezug auf die Alphabe- tisierung im Vergleich zu dem ESF-Programm der vorherigen Förderperiode mehr oder weni- ger Finanzmittel zur Verfügung, und wird die Landesregierung eine eventuelle Differenz aus Landesmitteln ausgleichen? 9. Sollten weniger Fördermittel als in der vergangenen Förderperiode zur Verfügung stehen: Welche bisher geförderte Projekte, Maßnahmen und Institutionen werden voraussichtlich kei- ne Förderung mehr erhalten? 10. Sollten weniger Fördermittel als in der vergangenen Förderperiode zur Verfügung stehen: Welche bisher geförderte Projekte, Maßnahmen und Institutionen werden voraussichtlich we- niger Förderung als in der vergangenen Förderperiode erhalten? Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/3574 2 11. Sollten mehr Fördermittel als in der vergangenen Förderperiode zur Verfügung stehen: Wel- che bisher geförderte Projekte, Maßnahmen und Institutionen werden voraussichtlich zusätz- lich gefördert werden können? 12. Sollten mehr Fördermittel als in der vergangenen Förderperiode zur Verfügung stehen: Wel- che bisher geförderte Projekte, Maßnahmen und Institutionen werden voraussichtlich mehr Förderung als in der vergangenen Förderperiode erhalten? (An die Staatskanzlei übersandt am 12.03.2015) Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Ministerium Hannover, den 22.05.2015 für Wissenschaft und Kultur - M - 01 420-5/17/3131 - Aufgrund des weit unterschätzten Ausmaßes des Analphabetismus in Deutschland (7,5 Millionen Menschen) haben sich der Bund und die Länder auf eine Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland (sogenannter Grundbildungspakt) verständigt, die auch weitere (Sozial-)Partner wie Kommunen, Wirtschaft, Gewerkschaften und Kirchen einbindet und inzwischen unterzeichnet wurde. Die Landesregierung beteiligt sich aktiv an ihrer Umsetzung. In Niedersachsen bieten die nach dem Niedersächsischen Erwachsenenbildungsgesetz (NEBG) anerkannten Einrichtungen der Erwachsenenbildung bereits ein weitreichendes Bildungsprogramm für Menschen mit gravierenden Lese- und Schreibschwächen (funktionale Analphabeten) an. Die sogenannten Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse gehören nach § 8 Abs. 3 des NEBG zu den Bildungsmaßnahmen, die besonderen gesellschaftlichen Erfordernissen dienen und deshalb mit einem erhöhten Faktor vom Land gefördert werden. Laut den Ergebnissen einer jährlichen Sta- tistik der Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung über die Inanspruchnahme der Finanzhilfe nach dem NEBG im Jahr 2011 haben die Einrichtungen der Erwachsenenbildung insgesamt 74 064 Unterrichtsstunden im Bereich Alphabetisierung durchgeführt. Dies entspricht einem Betrag von rund 1 Million Euro jährlich. Das umfassende Gesamtangebot an Unterstützungsmaßnahmen für Menschen mit Defiziten beim Lesen und Schreiben in Niedersachsen reicht inzwischen von den Präventionsmaßnahmen durch Sprachförderung in den Schulen und klassischen Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen für Erwachsene bis hin zum offenen Selbsthilfe- und Treffpunktangebot für die Betroffenen. Diese viel- fältigen Bildungsprogramme in Niedersachsen werden ab 2015 mit zusätzlichen Landesmitteln in Form von Projekten unterstützt. Dies vorausgeschickt, nimmt die Landesregierung zu den einzelnen Fragen der Kleinen Anfrage wie folgt Stellung: Zu 1: Da Menschen, die nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben können, erfahrungsgemäß nicht durch direkte Ansprache erreichbar sind und/oder sich selten an Befragungen oder Studien beteiligen, kann die Zahl der funktionalen Analphabeten in Niedersachsen nicht erhoben werden. Auch die Zahl der Erwachsenen, die gänzlich nicht lesen und schreiben können, kann deshalb nicht erhoben werden. Die Landesregierung führt derzeit eine Bestandsaufnahme der niedersächsischen Erwachsenenbil- dung durch. Im Rahmen dieser Bestandsaufnahme werden u. a. die Teilnehmerzahlen an Bil- dungsmaßnahmen zur Alphabetisierung und Grundbildung erhoben. Diese Zahlen werden jedoch aus den genannten Gründen keine repräsentative Aussage über die tatsächliche Zahl der funktio- nalen Analphabeten in Niedersachsen ermöglichen. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/3574 3 Die Ergebnisse der Studie „leo. - Level-One“ an der Universität Hamburg liefern fundierte Zahlen über die in ganz Deutschland lebenden funktionalen Analphabeten. Es sind 14 % (7,5 Millionen) der deutschsprachigen Erwachsenen. Bei einer Übertragung dieses Ergebnisses auf Niedersach- sen wird die Zahl der funktionalen Analphabeten in Niedersachsen auf rund 750 000 Menschen ge- schätzt. Zu 2: Die Landesregierung setzt sich mit Nachdruck dafür ein, den Betroffenen nicht nur das wichtigste Mindestmaß an Lese- und Schreibfertigkeiten zu vermitteln, sondern ihnen durch geeignete Ange- botsformen eine berufliche, soziale und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Deshalb wird der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit in der niedersächsischen Erwachsenenbildung ei- ne hohe Bedeutung beigemessen, indem zusätzlich zur Grundfinanzierung nach dem NEBG be- darfsgerechte Förderprogramme und Bildungsangebote entwickelt werden, wie z. B. die Regiona- len Grundbildungszentren (www.rgz-nds.de), das Modellprojekt „GO - Förderung der arbeitsplatzorientierten Grundbildung“ (www.aewb-nds.de) und das neue Landesprogramm 2015 zur Förde- rung von Grundbildungsmaßnahmen in der niedersächsischen Erwachsenenbildung (www.mwk.nie dersachsen.de). Zu 3: Im Rahmen der Finanzhilfe nach § 8 Abs. 3 Nr. 3 des NEBG werden jährlich rund 1 Million Euro aus dem Erwachsenenbildungsetat für ca. 80 000 Unterrichtsstunden der Alphabetisierungskurse zur Verfügung gestellt. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die abgerechnete Finanzhilfe niedersächsischer Er- wachsenenbildungseinrichtungen im Alphabetisierungsbereich seit 2009. Diese Zahlen hat die Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung im Rahmen der aktuell laufenden Bestandsaufnahme der niedersächsischen Erwachsenenbildung vorgelegt. Zahlen für 2008 wurden nicht erhoben, für 2014 liegen die Zahlen noch nicht vor. 2009 Euro 2010 Euro 2011 Euro 2012 Euro 2013 Euro Volkshochschulen 1 123 228 1 067 010 977 680 1 015 072 920 828 Landeseinrichtungen: Bildungsvereinigung ARBEIT UND LEBEN Niedersachsen e. V. Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft gemeinnützige GmbH Bildungswerk der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Niedersachsen e. V. Evangelische Erwachsenenbildung Niedersachsen Katholische Erwachsenenbildung im Lande Niedersachsen e. V. Ländliche Erwachsenenbildung in Niedersachsen e. V. Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen e. V. 335 025 194 029 216 586 272 637 215 932 Heimvolkshochschulen 0 0 0 1 530 0 Gesamt 1 458 252 1 261 039 1 194 266 1 289 239 1 136 759 Zu 4: In den Jahren 2008 bis 2014 sind keine zusätzlichen EU-Fördermittel für Alphabetisierung und Grundbildung eingesetzt worden. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/3574 4 Zu 5 bis 12: In der EU-Förderperiode 2014 bis 2020 werden keine EU-Fördermittel aus dem Multifondspro- gramm EFRE/ESF für Alphabetisierung und Grundbildung eingesetzt. Ergänzend zur Finanzhilfe gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 3 des NEBG stehen im Jahr 2015 im Rahmen des Sonderfonds zur Unter- stützung und Förderung des lebenslangen Lernens Mittel i. H. v. 600 000 Euro für das neue För- derprogramm zur Unterstützung und Förderung von Grundbildungsmaßnahmen, die sich explizit an funktionale Analphabeten richten sollen. Dieses Förderprogramm ist inzwischen veröffentlicht und auf der Internetseite 1 des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur abrufbar. Die Niedersächsische Landesregierung beabsichtigt dieses Förderprogramm auch in den folgen- den Jahren durchzuführen. Die Fördermittel sind in der Mipla bis 2018 eingeplant. Gabriele Heinen-Kljajić 1 http://www.mwk.niedersachsen.de/startseite/themen/weiterbildung/alphabetisierung_und_grundbildung/ alphabetisierung-und-grundbildung--119714.html, letzter Zugriff 20.04.2015 (Ausgegeben am 01.06.2015) Drucksache 17/3574 Antwort auf eine Kleine schriftliche Anfrage - Drucksache 17/3131 - Wortlaut der Anfrage der Abgeordneten Jörg Hillmer und Dr. Stephan Siemer (CDU), eingegangen am 03.03.2015 Zieht sich das Land aus der Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus zurück? Antwort der Landesregierung