Niedersächsischer Landtag  17. Wahlperiode Drucksache 17/3685 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/3423 - Reaktorunglück von Fukushima - Wie ist die Einschätzung der Landesregierung? Anfrage der Abgeordneten Dr. Stefan Birkner und Sylvia Bruns (FDP) an die Landesregierung, eingegangen am 16.04.2015, an die Staatskanzlei übersandt am 06.05.2015 Antwort des Ministeriums für Umwelt, Energie und Klimaschutz namens der Landesregierung vom 11.06.2015, gezeichnet Stefan Wenzel Vorbemerkung der Abgeordneten Am 11. März fand an der Hiroshimaglocke in Hannover eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Reaktorunglücks von Fukushima statt. Dabei wurde von mehreren Tausend Menschen gespro- chen, die durch das Reaktorunglück ums Leben kamen. Hannovers Oberbürgermeister Stefan Schostok sagte am Rande dieser Veranstaltung in einem Interview mit RTL Nord: „Das Unglück des Atomkraftwerkes hat 20 000 Opfer gefordert.“ Nach Aussage verschiedener Organisationen wie beispielsweise der WHO oder UNSCEAR gab es keine Strahlentoten. Tote seien ausschließlich durch den auslösenden Tsunami zu beklagen. Nach UNSCEAR-Berichten sind keine erhöhten Krebsraten in der Gegend um Fukushima zu erkennen. Vorbemerkung der Landesregierung Mit der Pressemitteilung „Vier Jahre nach der Katastrophe in Fukushima - Der Opfer gedenken“ wurde an die hohe Zahl an Toten direkt nach der Katastrophe erinnert, die unstreitig auf den Tsunami zurückzuführen ist. Die Folgen aufgrund der verunglückten Reaktoren werden erst mittel- und langfristig in voller Tragweite erkennbar werden. Zu den Folgen gibt es unterschiedliche wis- senschaftliche Einschätzungen. Hierzu sind ergänzend zu den genannten Berichten beispielsweise die „Informationen des IPPNW“ aus dem März 2015 zu erwähnen. Es ist zu hoffen, dass sich die Datenlage künftig noch verbessert und der wissenschaftliche Diskurs zu Bewertungen führt, die all- seits akzeptiert werden können. Im Anhang findet sich der Bericht des IPPNW und das Factsheet von UNSCEAR. 1. Wie viele Strahlentote gab es aufgrund des Reaktorunfalls in Fukushima? Hierzu wird auf die Vorbemerkungen verwiesen. 2. Teilt die Landesregierung die Auffassung der Vereinten Nationen, dass es nach dem Reaktorunfall in Fukushima keine erhöhten Krebsraten in der Region gegeben hat? Hierzu wird auf die Vorbemerkungen verwiesen. Während Schilddrüsenkrebs sehr kurzfristig auftre- ten kann, ist bei anderen Krebsarten mit mittel- und langfristigen Folgen zu rechnen. Genetische Defekte können auch künftige Generationen treffen. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/3685 2 3. Könnte ein solcher Unfall wie in Fukushima nach Auffassung der Landesregierung auch in niedersächsischen Kernkraftwerken passieren? Als eine erste Reaktion auf den Reaktorunfall in Fukushima hat die Bundesregierung zusammen mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer mit Kernkraftwerksstandorten bereits am 14. März 2011 beschlossen, die Sicherheit aller Kernkraftwerke in Deutschland im Fokus der Ereignisse in Japan zu überprüfen. Dazu wurde die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) beauftragt, die anla- genspezifische Sicherheit aller deutschen Kernkraftwerke zu bewerten. Zusammenfassend kam die RSK am 16. Mai 2011 in ihrer Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass im Vergleich zum Kernkraft- werk in Fukushima hinsichtlich der Stromversorgung und der Berücksichtigung von Hochwasserer- eignissen für deutsche Anlagen eine höhere Vorsorge festzustellen ist. Gleichwohl hat der Bundestag am 30. Juni 2011 in namentlicher Abstimmung und mit großer Mehr- heit (513 Stimmen) das „13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes“ beschlossen, das die Been- digung der Kernenergienutzung und Beschleunigung der Energiewende regelt. Insbesondere er- losch die Betriebsgenehmigung für acht Kernkraftwerke in Deutschland; die Restlaufzeit der übri- gen neun Kraftwerke ist zeitlich gestaffelt, wobei die letzten Kernkraftwerke Ende 2022 abgeschal- tet werden. Am 8. Juli stimmte der Bundesrat zu. Das Gesetz wurde am 5. August 2011 im Bun- desgesetzblatt verkündet und trat am 6. August 2011 in Kraft. Die von der Bundesregierung eingesetzte Ethikkommission unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Klaus Töpfer und Prof. Dr. Ing. Matthias Kleiner erklärte in ihrem Abschlussbericht „Deutschlands Energiewende - Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft“ (Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung) am 30. Mai 2011: „Der Ausstieg ist nötig und wird empfohlen, um Risiken, die von der Kernkraft in Deutschland ausgehen, in Zukunft auszuschließen.“ Weiter schreibt die Kommission: „Der schnellstmögliche Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie ist ethisch gut begründet, aus Sicht der Kommission geboten und nach Maßgabe der Umsetzung der Maßnahmen möglich. Im besten Fall kann der vorgenannte Zeitraum des Ausstiegs von zehn Jahren verkürzt werden“ In seinem Kalkar-Beschluss vom 8. August 1978 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Bevölkerung mit der Nutzung der Atomenergie ein Restrisiko als „sozialadäquate Last“ zu tra- gen habe, „wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint , dass solche Schadensereignisse eintreten werden.“ Für die Definition des Stands von Wis- senschaft und Technik müssten demnach „Abschätzungen anhand praktischer Vernunft“ herange- zogen werden. „Ungewissheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft seien unentrinnbar.“ Die Reaktorunglücke von Three Miles Island (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) haben gezeigt, dass solche Ereignisse grundsätzlich auch in westlichen Industrieländern möglich sind. Damit hat sich die Schwelle dessen, was nach Abschätzungen anhand praktischer Vernunft möglich oder vorstellbar ist, deutlich verschoben. In Deutschland wurden alle Empfehlungen und Hinweise zur Nachrüstung in einem nationalen „Aktionsplan zur Umsetzung von Maßnahmen nach dem Reaktorunfall von Fukushima“ zusammengestellt. Sie werden jährlich aktualisiert und im Rahmen des atomrechtlichen Aufsichtsverfahrens umgesetzt. Das gesetzliche und untergesetzliche Regelwerk muss bei noch laufenden Reaktoren, stillgelegten Reaktoren und Lagern für Atommüll jederzeit sicherstellen, dass der Stand von Wissenschaft und Technik gewährleistet ist. 4. Inwieweit sieht die Landesregierung einen Unterschied zwischen der friedlichen Nut- zung der Kernkraft und Atombomben, wie sie in Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden? Voraussetzung für den Bau von atomaren Waffen war die Herstellung von Kernbrennstoffen. Dafür sind - je nach Art und Menge der Waffen - Atomkraftwerke, Urananreicherungsanlagen bzw. Wie- deraufarbeitungsanlagen erforderlich, soweit Waffen nicht aus bereits früher produzierten oder wie- deraufgearbeiteten Kernbrennstoffen hergestellt wurden. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/3685 3 5. Hält die Landesregierung vor dem Hintergrund der Antwort auf Frage 4 eine Gedenk- veranstaltung für Fukushima an der Hiroshimaglocke in Hannover für ein gelungenes Symbol und, wenn ja, weshalb? Die sogenannte friedliche Nutzung und die militärische Nutzung sind zwei Seiten einer Medaille. In- sofern ist der Ort für die Gedenkveranstaltung gut gewählt. 6. Wie bewertet die Landesregierung die Berichte von UNSCEAR bezüglich der Krebsra- ten in Fukushima? Die Landesregierung teilt die Einschätzung im letzten Satz des Vorspanns, der auf den UNSCEAR- Bericht Bezug nimmt, definitiv nicht - auch weil hier mittel- bis langfristige Monitorings und Untersu- chungen erforderlich sind und die Auswirkungen auf die gesamte Nahrungskette an Land und im Meer erst ansatzweise erkennbar und bilanziert sind. Auch den Satz „The most important health ef- fect is on mental and social well-being, related to the enormous impact of the earthquake, tsunami and nuclear accident, and the fear and stigma related to the perceived risk of exposure to ionizing radiation.“ (UNSCEAR 2013 Report, S. 10) sieht die Landesregierung sehr kritisch. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkungen und die Anlagen verwiesen. (Ausgegeben am 19.06.2015) IPPNW-lnformationen Atomkatastrophe in Japan Gesundheitliche FoEgen von Fukushima Von Henrik Pau/te, WSnfrid Eisenberg, Reinhold Thiel 2. Auflage, 3. März 2015 Inhalt Voroort zur 2. Auflage..............................................................................................^ Zusammenfassung....................................................................................................3 Abschätzung dergesundheitlichen Folgen von Fukushima .....................................6 Zu erwartende Krebserkrankungen gemäß UNSCEAR-Daten.................................6 Abschätzung der Krebsfälle durch externe Strahlenbelastung.................................8 Krebserkrankungen aufgrund der Strahlenbelastung von Nahrungsmitteln...........18 Ausgewählte Informationen zur Kontamination von Lebensmitteln ........................22 Exkurs: Schilddrüsenkrebs als frühe Katastrophenfolge ........................................24 Geburten-Rückgang im Dezember 2011 ................................................................26 Erhöhte Säuglingssterblichkeit...............................................................................27 Erkrankungen und Mortalitätvon Beschäftigten der Atomanlage Fukushima........28 Erkrankungen von US-Soldaten.............................................................................. 30 Anhang: Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl ................................................31 IPPNW Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Körtestraße 10, D-10967 Berlin. Email: pauli$z@ippnw.de Redaktion: Winfrid Eisenberg, Reinhold Thiel, Henrik Faulte (V.i.S. d.P.) wv/w.ippnw.de/atomenergie, www.fukushima-disaster.de Spendenkonto: IPPNW, Konto-Nr. 2222210, BanK für Sozialwjrtschaft, BLZ 100 205 00, Stichwort: "IPPNW-lnfomiationen" Anlage 1 IPPNW: Gesundheitliche Folgen von Fukushima Seite 2 / 32 Vorwort zur 2. Auflage Zwei Jahre nach der Katastrophe von Fukushima, im März 2013, hatten wir in der ersten Auflage unter Verwendung frei zugänglicher Daten die schon eingetretenen Folgen für die Gesundheit dargestellt und die langfristig zu erwartenden berechnet. Inzwischen sind zwei weitere Jahre vergangen. Fukushima füllt nicht mehr die Schlagzeilen; aber der Super-GAU ist keineswegs unter Kontrolle. Die Kernschmelzen in den Reaktoren 1 - 3 können nicht beeinflusst werden. Die Schmelz- massen haben Kontakt zum Grundwasser. Große Mengen radioaktiv hoch belasteten Wassers fließen weiterhin Tag für Tag in den Pazifik. Wir sind von vielen Seiten aufgefordert worden, ein "Update" der Gesundheitsfolgen zu veröffentlichen. Daraus ist nun diese 2. Auflage geworden. Bei den Abschätzungen der Krebserkrankungen haben wir in dieser Neuauflage die Risikofaktoren gemäß BEI R VII verwendet, allerdings ohne den nicht mehr zeitgemäßen Reduktionsfaktor (d.h. DDREF = 1 - dose and dose rate effectiveness factor). Darüber hinaus haben wir wie schon in der 1. Auflage alternativ auch mit Faktoren gerechnet, die aktuellen Studien zufolge das tatsächliche Risiko besser abbilden. Auf dem im Oktober 2013 von der IPPNW initiierten "Ulmer Expertentreffen zur Wirkung ionisierender Strahlen" wurden diese Risikofaktoren ausdrückiich empfohlen. Zu folgenden Kapiteln gibt es neue Informationen oder Forschungsergebnisse, die wir in diese 2. Auflage eingearbeitet haben: Schilddrüsenkrebs, Geburtenrückgang, Säuglingssterblichkeit und "Fukushima-Arbeiter". Völlig neu ist das Kapitel "Zu erwartende Krebserkrankungen gemäß UNSCEARDaten ", nachdem diese UN-Organisation im Jahr 2013 Schätzungen der Kollektivdosen publiziert hat. Die IPPNW sieht darin einen Fortschritt in der öffentlichen Aufarbeitung der Atomkatastrophe, obwohl es sich bei den UNSCEAR-Zahien um eine deutliche Unterschätzung des Risikos handeln dürfte. Schließlich erwähnen wir auch das Schicksal lausender US-Soldaten, die sich im Frühjahr 2011 monatelang auf Kriegsschiffen vor der ostjapanischen Küste befanden , nicht weit von den explodierten Reaktoren. Wir danken Dr. Alfred Körbiein für seine Begleitung, seinen Rat, ja für seine nimmermüde Präsenz im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung. Die Hauptarbeit des Recherchierens, der Berechnungen und des Schreibens lag auf den Schultern von Henrik Paulitz. Auch ihm danken wir. Winfhd Eisenberg für die Redaktionsgruppe IPPNW: Gesundheitliche Folgen von Fukushima Seite 3 / 32 Zusammenfassung Im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi kam es am 11 März 2011 zu einer Atomkatastrophe mit massiver und anhaltender Freisetzung radioaktiver Spalt- und Zerfallsprodukte. Der Bericht des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) von 2013 machte erstmals Abschätzungen der Kollektivdosis der japanischen Bevölkerung öffentlich. Es geht dabei sowohl um die externe als auch um die interne Strahlenbelastung durch Inhalation sowie durch die Nahrungsmittelaufnahme (Ingestion) von Radionukliden . Insgesamt ergibt sich laut UNSCEAR für die rund 127 Millionen Japaner eine kollektive Lebenszeitdosis von 48.000 Personen-Sievert (PSv). Bei Verwendung der Risikofaktoren gemäß BEIR VII (Inzidenz 0, 18/PSv, Mortalität 0,09/PSv; DDREF = 1) ist mit 8.600 Krebserkrankungen zu rechnen, von denen 4.300 tödlich verlaufen. Neuere Studien deuten auf ein etwa doppelt so großes Risiko hin (Inzidenz 0,4/PSv, Mortalität 0,2/PSv; DDREF = 1). Mit diesen Risikofaktoren wäre mit 19.200 Krebserkrankungen und 9.600 Krebstodesfallen zu rechnen. Tabelle 1.1: Itiiögliche Krebserkrankungen als Folge derAtomkatastrophe in Fukushima Berechnungsgrundlage Krebserkrankungen Krebstodesfälle Kollektivdosis von UNSCEAR für die externe Strahlenbelastung , Ingestion und Inhaiation -Risikofaktoren gem. BEIR VII (korr. DDREF = 1) -Risikofaktoren gern, "Ulmer Expertentreffen" 8.600 19200 4.300 9.600 Kollektivdosen der IPPNWfürdie externe Strahlenbelastung , basierend aufYas.unari et. ai. 2011, Stohl et. ai. 2012, Hack/Dersee 2012 -Risikofaktoren gem. BEIRVII (korr. DDREF = 1) -Risikofaktoren gem. "Ulmer Expertentreffen" 17.000-37.200 37.900-82.600 8.500-18.600 19.000-41.300 Kollektivdosen der IPPNWfürdie Strahlenbelas- tung durch Ingestion (Nahrungsmittelaufnahme), basierend auf Daten des japanischen Gesundheitsministeriums -Risikofaktoren gem. BEIRVII (korr, DDREF = 1) -Risikofaktoren gem. "Uimer Expertentreffen" 16.800 37.300 8.400 18.600 Da UNSCEAR seine Schätzungen jedoch auf Grundlage von Zahlen der Atomindustrie errechnete, statt Daten von unabhängigen Forschungseinrichtungen zu berücksichtigen, dürften die tatsächlichen Kollektivdosen deutlich höher liegen als von UNSCEAR angegeben. Die UN-lnstitution selbst räumt in ihrem Bericht gravierende "Unsicherheiten" ein - nicht jedoch in ihren vor Zuversicht strotzenden Pressemitteifungen und Zusammenfassungen. Um zu demonstrieren, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen man mit unabhängigen wissenschaftlichen Daten kommen kann, wurden in dieser Arbeit 'mit ver- 1 IPPNW: Gefahren ionisierender Strahlung. Ergebnisse des Ulmer Expertentreffens vom 19. Oktober 2013. IPPNW-lnformationen. Januar 2014. S. 3. http://www.ippnw,de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Ulmer_Expertentreffen_.- Gefahren_ionisierender_Strahlung.pdf. IPPNW: Gesundheitliche Folgen von Fukushima Seite 4 / 32 schiedenen Methoden ebenfalls Kollektivdosen und die zu erwartenden Krebsfälle errechnet. Als erstes wurde ausschließlich die externe Strahlung berücksichtigt und mittels dreier unterschiedlicher Methoden die Kollektivdosis der japanischen Bevölkerung ermittelt: ° Die erste Methode stützt sich auf die Veröffentlichung eines internationalen Forscherteams über die Bodenkontamination mit Cäsium in den 47 Präfektu- ren Japans .1 Die zweite Methode basiert auf Abschätzungen eines internationalen Forscherteams über die in Japan abgelagerte Cäsium-Gesamtmenge ° Die dritte Methode nutzt als Berechnungsgrundlage Messungen der Ortsdosisleistungen im Herbst 2012 Unter Berücksichtigung der abschirmenden Wirkung von Gebäuden ergeben die drei Alternativ-Rechnungen kollektive Lebenszeitdosen von 94.749 PersonenSievert (PSv), 206.516 PSv bzw. 142.089 PSv. Unter Verwendung der Risikofaktoren gemäß BEIR VII (Inzidenz 0, 18/PSv, Mortalitat 0,09/PSv; kein DDREF) errechnen sich zwischen 17.000 und 37.200 zu erwartende Krebserkrankungen, von denen 8.500 bzw. 18.600 tödlich verlaufen. Auf der Basis aktueller Risikofaktoren (Inzidenz 0,4/PSv, Mortalität 0,2/PSv; DDREF = 1) ergeben sich zwischen 37.900 und 82.600 Krebserkrankungen mit 19.000 bis 41.300 Krebstodesfällen. Für die Abschätzung der zu erwartenden Krebserkrankungen aufgrund von kontaminierten Nahrungsmitteln wurden 17.000 vom japanischen Gesundheitsministerium veröffentlichte Messergebnisse herangezogen. Insgesamt ergaben die Berechnungen eine kollektive Lebenszeitdosis von 93.166 PSv, Bei Verwendung der Risikofaktoren gemäß BEIR VII (Inzidenz 0, 18/PSv, Mortalität 0,09/PSv; DDREF = 1) ist mit rund 16,800 Krebserkrankungen zu rechnen, von denen 8.400 tödlich verlaufen. Bei Verwendung aktueller Risikofaktoren (Inzidenz 0,4/PSv, Mortalität 0,2/PSv; DDREF = 1) ergeben sich für diesen Belastungspfad 37,300 Krebserkrankungen und 18.600 Krebstodesfälle. Tabelle 1.2: Eventuelle weitere Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima Anzahl Quelle Fehlende Lebendgeburten in der Fukushima-Region 912 Körblein 2015 Erhöhte Säugiingssterblichkeit 2012 64 Körblein2014 Bisherige Erkrankungen von US-Soldaten 71 Medienberichte Erwartete Schilddrüsenkrebs-Erkrankungen gemäß Kollektiv-Dosis laut UNSCEAR 2013 1016 IPPNW2015 Es gibt bereits Jetzt Hinweise auf erste gesundheitliche Folgen. Vier Jahre nach dem Reaktorunglück ist zwar noch nicht mit einem starken Anstieg von Krebserkrankungen zu rechnen. Das in der Prafektur Fukushima durchgeführte Screening-Programm identifizierte aber bereits eine unerwartet große Zahl von Schilddrüsenkrebsfällen, die womöglich bereits den Beginn einer Erkrankungswelie darstellen. Der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersu- IPPNW: Gesundheitliche Folgen von Fukushima Seite 5 / 32 chung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) hat in seinem Jahresberieht von 2013 Schätzungen veröffentlicht, wie viele Schilddrüsenkrebsfäiie in den kommenden Jahrzehnten durch den radioaktiven Niederschlag von Fukushima verursacht werden könnten: Legt man die von UNSCEAR angegebene kollektive Lebenszeit-Schilddrüsendosis von 112.000 Personen-Gray zugrunde, so wäre in Japan insgesamt mit über 1.000 zusätzlichen Schilddrüsenkrebs-Fällen zu rechnen . Die Daten von UNSCEAR stellen dabei vermutlich noch eine starke Unter- Schätzung der Dosisbelastung dar, Neun Monate nach dem Beginn der Atomkatastrophe war ein deutlicher GeburtenRückgang festzustellen. In der Fukushima-Region (7 Präfekturen) "fehlten" im Dezember 2011 912 Neugeborene, davon 145 in der Präfektur Fukushima. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen Fukushima-Effekt handeln könnte. Auch gab es in Japan eine erhöhte Säuglingssterblichkeit: Über die statistische Erwartung hinaus starben 64 Kinder im ersten Lebensjahr. Medienberichten zufolge sollen bislang 71 US-Soldaten schwer erkrankt sein, die im Frühjahr 2011 vor der japanischen Küste auf Kriegsschiffen im Einsatz waren, 51 davon an verschiedenen Krebsarten. Für die Arbeiter, die laut Betreibergesellschaft Tepco in den Jahren 2011 und 2012 in der havarierten Atomanlage tätig waren, rechnet die IPPNW auf der Grundlage der Erfahrungen von Tschernobyl mit vielen tausend schweren Erkrankungsfälten. Teile der quantitativen Ergebnisse dieser Arbeit sind mit Unsicherheiten behaftet, weil manche Ausgangsdaten nur unpräzise veröffentlicht wurden und bei den Berechnungen teilweise weitere Annahmen getroffen werden mussten. Der IPPNW erschien es aber notwendig, mit dieser quantitativen Abschätzung die Dimension der Fukushima-Atomkatastrophe deutlich zu machen, Weltweit kann es in jedem Atomkraftwerk jederzeit erneut zu einem Super-GAU kommen: Durch menschliches Versagen, technische Defekte, Naturgewalten, Sabotage oder durch militärische Einwirkung. Angesichts der derzeitigen Lage der Welt erscheint es dringend notwendig, überall schnellstmöglich aus der Atomenergie auszusteigen. IPPNW: Gesundheitliche Folgen von Fukushima Seite 6 / 32 Abschätzung der gesundheitlichen Folgen von Fukushima Wie schon nach Tschemobyl versucht die internationale Atomlobby auch nach Fukushima, die Bevölkerung über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe im Unklaren zu lassen. Es ist daher notwendig, von unabhängiger Seite zu versuchen, vorhandene Daten und Erkenntnisse auszuwerten und öffentlich zu- gänglich zu machen. Die in dervorliegenden Untersuchung vorgenommenen quantitativen Abschätzungen basieren überwiegend auf den aus dem Atomkraftwerk freigesetzten radioaktiven Casiumisotopen Cs-134 und Cs-137. Aber nicht nur radioaktives Cäsium ist eine potenzielle Gefahr. Dem japanischen Regierungsbericht an die IAEA vom Juni 2011 zufolge wurde die Bevölkerung allein über die Luft mit zahlreichen Strahlenpartikeln belastet. Ein gefährlicher Radioaktivitäts -Cocktail: Xenon-133, Cäsium-134 und -137, Strontium-89 und -90, Barium -140, Teliur-127m, -129m, -131m und -132, Ruthenium-103 und -106, Zirkonium -95, Cerium-141 und -144, Neptunium-239, Plutonium-238, -239, -240 und - 241, Yttrium-91, Praseodym-143, Neodym147, Curium-242, Jod-131, -132, -133 und 135, Antimon-127 und -129 sowie Moiybdän-99. Zu erwartende Krebserkrankungen gemäß UNSCEAR-Daten Der "UNSCEAR 2013 Report" machte erstmals Abschätzungen der Kollektivdosis der japanischen Bevölkerung öffentlich (vgl. Tabelle 3. 1).3 Demzufolge ist die externe Strahlenbelastung aufgrund von abgelagerten Radionukliden mit geschätzten 25.000 PSv in 10 Jahren und 36.000 PSv in 80 Jahren der dominierende Belastungspfad für die japanische Bevölkerung. Government of Japan: Report of Japanese Government to the IAEA Ministerial Conference on Nuclear Safety. The Accident at TEPCO's Fukushima Nuclear Power Stations. Nuclear Emergency Response Headquarters, June 2011 . www.kantei.go.jp/foreign/kan/topics/201106/iaea_houkokusho_e.html. United Nations Scientific Committee on the Effects ofAtomic Radiation: UNSCEAR 2013 Report. Volume l. REPORT TO THE GENERAL ASSEMBLY SCIENTIFIC ANNEX A: Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear acddent afSer the 201 1 great east-Japan earthquake and tsunami. New York. 2014. p. 198 ff. IPPNW: Gesundheitliche Folgen von Fukushima Seite 7 / 32 Tabelle 3.1: Effektive Kollektivdosen und Schilddrüsendosen der Bevölkerung Japans (128 Mlillionen in 2010) Exposwe pafhway Expoiiire duratlon Firstyem Wyears UptoageSOyears Coiiective effective dose (thousand msn-sieverts) inhalation Extarnal ingestion Total 1.2 10 6.5 18 1.2 25 10 36 1.2 36 11 48 Collective absorbed doses to thyroid (thousand man-grays) Inhalation Extemai ingestiod Total 22 10 50 82 22 25 53 100 22 36 54 110 Der zweitwichtigste Belastungspfad ist die Ingestion von Radionukliden durch die Nahrungsaufnahme. Dies trägt nach Angaben von UNSCEAR mit 10.000 PSv in 10 Jahren und unwesentlich mehr mit 11.000 PSv in 80 Jahren zur Belastung bei. Hinzu kommt die Inhalation mit 1.200 PSv im Frühjahr 2011. Insgesamt ergibt sich laut UNSCEAR eine Kollektivdosis von 18.000 PSv im 1. Folgejahr von Fukushima, von 36.000 PSv in 10 Jahren und von 48.000 PSv in 80 Jahren (Lebenszeitdosis). Bei Verwendung der Risikofaktoren (lifetime attributable risk, LAR) gemäß BEIR VII (Inzidenz 0,18/PSv, Mortalität 0,09/PSv; DDREF = 1) ist mit 8.600 Krebserkrankungen zu rechnen, von denen 4.300 tödlich verlaufen. Neuere Studien deuten auf ein etwa doppelt so großes Risiko hin (Inzidenz 0,4/PSv, Mortalität 0,2/PSv; DDREF = 1). Mit diesen Risikofaktoren wäre mit 19.200 Krebserkrankungen und 9.600 Krebstodesfällen zu rechnen. Tabelle 3.2: Effektive Kollektivdosen der Bevöl'^ iSO. ^B W,.^ ..^ ti^^M^.^ ^ w-;/;. A^^*^'^- ^.x.w.nAv '^:: Die veröffentlichten Daten zeigen, dass fast alle Arbeiter in Fukushima erhöhten Strahlendosen ausgesetzt werden, Für die vorliegende Abschätzung wurden die Erfahrungen nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl 1986 mit den so genannten Liquidatoren ("Aufräumarbeiter") herangezogen. Nach Angaben eines Opferverbandes der Tschernobyl-Liquidatoren waren bis 1992 70 000 der rund 800.000 Liquidatoren Invaliden (8,75%) und 13.000 gestorben (1,6%), Zum 19. Jahrestag der Katastrophe verkündete die ukrainische Botschaft in Paris, dass 94% der Liquidatoren krank seien.56 Yablokov schätzte aufgrund verschiedener Studien, dass bis 2005 (19 Jahre nach Tschernobyi) rund 112.000 bis 125.000 Liquidatoren gestorben waren (14,8%).57 Das gesamte Zahlenverhältnis der nach Tschernobyl eingesetzten Aufräumarbeiter (geschätzte 800.000) und der für Fukushima bis Oktober 2012 genannten 24.832 Arbeiter lässt vermuten, dass auch in Japan weitaus mehr Menschen mit Aufräumarbeiten in hochkontaminierten Gebieten beschäftigt waren und sind, wenn man auch die erforderlichen Tätigkeiten außerhalb des Atomkraftwerks berücksichtigt, so dass es sich bei den genannten Zahlen um eine untere Abschätzung handeln dürfte. radiation exppsure due to the nuciear accident afterthe 2011 great east-Japan earthquake and tsunami. New York. 2014. p. 66. Liquidatoren waren meist junge Soldaten, die wahrend und nach der Katastrophe zur Eindämmung des Unglücks gezwungen wurden. ;'° Vgl. Strahlentetex 138-139/1992, S. 8, GUS: Bereits 13.000 tote Liquidatoren. IPPNW/GFS: Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl. 25 Jahre nach der Reaktorkatstrophe. April 2011^ S 25. http://www.ippnw.de/commonFJIes/pdfs/Tschernobyl_Studie_2011_web.pdf. Letzter Zugriff 216. Yabiokov, Alexej: Mortality after the Chernoby! Accident. In: Ann N YAcad Sei, 2009 Nov:1181:192- IPPNW: Gesundheitliche Folgen von Fukushima Seite 30 / 32 Erkrankungen von US-Soldaten Während aus dem Atomkraftwerk Fukushirna im Frühjahr 2011 große Mengen Radioaktivität freigesetzt wurden, befanden sich zwei US-Kriegsschiffe, u.a. der Fiugzeugträger "USS Ronald.Reagan", vor der japanischen Küste. Zweieinhalb Monate lang taten offenbar mindestens 5.000 Soldaten auf Befehl der US-Armee Dienst im radioaktiv verseuchten Meer. Medienberichten zufolge waren sie nicht nur der radioaktiven Wolke ausgesetzt, Angeblich verwendeten die Soldaten entsalztes , kontaminiertes Meerwasser auch zum Waschen und Trinken.58 Ende 2013 / Anfang 2014 waren offenbar 71 Besatzungsmitglieder schwer erkrankt , 51 davon an verschiedenen Krebsarten (u.a. Hodenkrebs, Hirntumore, Leukämie). Untersuchungen hätten ergeben, dass die Strahlenbelastung damals 300 Mal höher war, als das Level, das als unbedenklich gelte.59 Focus Online: 51 US-Soldaten erkranken nach Fukushima-Einsatz an Krebs, 06.01,2014. http://vAyw.focus.de/panorama/wett/tsunami-in-japan/radioaktive-strahlung-krebs-tepco.klage ussronaid -reagan-japan-drei-jahre-nach-fukushima-erkranken-SI-us-soldaten-an-krebs^ id 3520465.html, Unter Berufung auf einen Bericht der "New York Post". - Bild: 51 US-Matrosen an Krebs erkrankt. 27.02.2015. http://www.bild.de/news/ausland/fukushima/us-matrosen-bei-hilfseinsatz-fukushimaradioaktiv -verseucht-krebserkrankungen-34095238.bild.html. Letzte Zugriffe 27,02.2015. Focus Online: 51 US-Soldaten erkranken nach Fukushima-Einsatz an Krebs. 06.01.2014. http://www.focus.de/panorama/welt/tsunami-in.japan/radioaktive-strahlung-krebs-tepco-klage-ussronaid -reagan-japan-drei-jahre-nach-ful