Niedersächsischer Landtag  17. Wahlperiode Drucksache 17/4077 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/3808 - Wie wird das Recht auf Unversehrtheit für intersexuelle Menschen in Niedersachsen geschützt ? Anfrage der Abgeordneten Julia Willie Hamburg (GRÜNE) an die Landesregierung, eingegangen am 01.07.2015, an die Staatskanzlei übersandt am 09.07.2015 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung namens der Landesregierung vom 06.08.2015, gezeichnet Cornelia Rundt Vorbemerkung der Abgeordneten Anlässlich des Leitartikels der Zeitschrift Asphalt „Nicht Mann, nicht Frau“ vom Mai 2015 wird das Thema Intersexualität erneut in den öffentlichen Fokus gerückt. Denn auch noch in diesem Jahrhundert wird Intersexualität oftmals als nicht normal angesehen. Erst im Februar 2015 klagte eine Betroffene gegen ihre Ärzte, welche sie ohne Informationen zu ihrer Intersexualität mit Hormonen behandelten und operierten. Unter diesen Eingriffen leidet die Betroffene noch heute. Dieser gesellschaftliche Zustand kann durch die geringe und unzureichende Aufklärung über das Thema und die Lebenswirklichkeit der Betroffenen begründet werden, weswegen sich viele Interessenverbände und Unterstützungsorganisationen seit Langem für die Gleichstellung und Anerkennung der Betroffenen und ihrer Angehörigen einsetzen. Der deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme vom 23. Februar 2012 u.a. gefordert, das Personenstandsgesetz zu ändern, um Menschen, die sich nicht auf ein Geschlecht festlegen wollen oder können und die sich als intersexuell verstehen, Anerkennung zu gewährleisten. Die Landesregierung hat sich in der 16. Legislaturperiode im Bundesrat dafür eingesetzt, diese Änderung voranzubringen. Im Zuge der Novellierung des Personenstandsgesetzes hat der Bundestag am 1. November 2013 § 22 Abs. 3 „Fehlende Angaben“ wie folgt geändert: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen .“ Doch daraus ergeben sich erneut Schwierigkeiten und Rückschläge für Betroffene. Vor allem der Druck, der Norm zu entsprechen, lastet auf Kindern und Eltern. Denn die Möglichkeit des Auslassens von Geschlecht im Geburtenregister wäre ein „Zwangsouting“ für die Betroffenen und bedeutet zugleich, sie wären nicht wie „normale“ Menschen mit einem klar definierten Geschlecht . Deswegen ist davon auszugehen, dass geschlechtsangleichende Operationen ohne Notwendigkeit weiterhin frühzeitig an Kindern mit nicht zuzuordnenden Geschlechtsmerkmalen durchgeführt werden. Im Zuge einer Unterrichtung (Drs. 16/5608) zum Antrag „Das Recht auf Unversehrtheit gilt auch für intersexuelle Menschen“ der SPD-Fraktion vom Februar 2012 wird von der damaligen Landesregierung aufgegriffen, inwieweit ca. fünf Monate später die gestellten Forderungen zur Information, Aufklärung und Sensibilisierung über das Thema „Intersexualität“ in möglichst vielen Gesellschaftsgruppen - von Schülerinnen und Schülern bis zu Medizinerinnen und Medizinern - umgesetzt wurden . In der Antwort der Landesregierung wird von „schätzungsweise 4 000 intersexuelle(n) Menschen“ in Niedersachsen berichtet und von „etwa 20 bis 30 Kinder(n)“, die jährlich in Niedersachsen ohne ein definierbares Geschlecht geboren werden. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/4077 2 Vorbemerkung der Landesregierung Die Landesregierung tritt ausdrücklich für die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in einem weltoffenen und toleranten Niedersachsen ein. Sie unterstützt die Belange von lesbischen Frauen, schwulen Männern, Bisexuellen, Transgender, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTTI) offensiv und nachhaltig. Die Landesregierung strebt die Aufnahme der „sexuellen Identität“ in Artikel 3 der Landesverfassung an. Hierzu hat am 4. März 2015 eine Anhörung im Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen des Landtages stattgefunden. Bei dem sensiblen Thema des Rechts intergeschlechtlicher Menschen wurde Neuland betreten. Inhaltlich folgt die Landesregierung bei der Umsetzung einzelner Schritte dem Ansatz des Deutschen Ethikrats. So setzt sie insbesondere auch auf den Dialog mit intersexuellen Menschen und ihren Selbsthilfeorganisationen sowie deren Expertise und Kompetenz. Am 14. Januar 2014 hat das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (MS) einen niedersächsischen Fachtag „Intersexualität“ in Hannover durchgeführt. Das MS führt derzeit gemeinsam mit Kooperierenden aus der LSBTTI-Community eine landesweite Kampagne gegen Homophobie für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt („Vielfaltskampagne“), um die Akzeptanz von lesbischen Frauen, schwulen Männern, Bisexuellen, Transgendern, trans- und intergeschlechtlichen Menschen im Flächenland Niedersachsen nachhaltig zu verbessern und Diskriminierungen abzubauen. Die Kampagne wird in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten zwischen dem 1. Juli 2014 und Ende 2017 in Zusammenarbeit mit der Community durchgeführt. Im Rahmen dieser Kampagne wurden im Jahr 2014 Interviews u. a. mit Selbsthilfegruppen intergeschlechtlicher Menschen durchgeführt, um die spezifischen Interessenlagen und Diskriminierungserfahrungen zu erfassen und basisorientiert Ideen und Forderungen einzusammeln. Im Frühjahr 2015 fand u. a. ein „Runder Tisch“ zum Thema „intergeschlechtliches Leben“ statt. Am 2. Oktober 2015 sollen die gewonnenen Ergebnisse - aller Gruppen - auf einer großen Veranstaltung zusammengeführt werden. Insgesamt ist aus Sicht der Landesregierung festzustellen, dass der notwendige und dringend erforderliche Prozess für die gesellschaftlichen und rechtlichen Belange von intergeschlechtlichen Menschen in Gang gekommen ist. Dies ist erfreulich, kann aber nur ein erster wichtiger Schritt hin zu einem Normalisierungsprozess sein. Es bedarf großer politischer Bemühungen - auch vonseiten der Landesregierung -, hierfür weiter zu sensibilisieren und aufzuklären sowie rechtliche Hindernisse abzubauen. Allerdings kann die Landesregierung nicht allein in allen Bereichen Änderungen bewirken. So fallen beispielsweise rechtliche Änderungen im Bereich der medizinischen Behandlungen sowie im Personenstandsrecht in die - mindestens überwiegende - Zuständigkeit des Bundes. Im Hinblick auf die Ausführungen zum Personenstandsrecht ist anzumerken, dass bezüglich der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung auf Bundesebene zu inter- und transsexuellen Menschen unter Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 8. September 2014 die interministerielle Arbeitsgruppe „Intersexualität/Transsexualität“ eingerichtet wurde. Die Arbeitsgruppe wird sich im Wesentlichen mit den Themenblöcken medizinische Behandlung , Ausbau und Stärkung von Beratungs-, Aufklärungs-, und Präventionsstrukturen und der Prüfung erforderlicher Gesetzesänderungen (Evaluation und gegebenenfalls Anpassung des Personenstandsrechts , notwendige Folgeänderungen in anderen Rechtsgebieten - insbesondere Familienrecht , Transsexuellengesetz) beschäftigen. Die Länder waren an dieser Arbeitsgruppe zunächst nicht beteiligt. Derzeit wird eine Öffnung diskutiert. Daneben ist eine Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof hinsichtlich der Einführung einer Geschlechtsbezeichnung „inter/divers“ in das Geburtenregister anhängig. Die Antragstellerin begehrt die Berichtigung ihres Geburtseintrags dahin gehend, dass die Geschlechtsangabe, wonach „ein Mädchen geboren“ wurde, in die Angabe „inter“ oder „divers“ geändert wird. Die Ergebnisses der vorgenannten interministeriellen Arbeitsgruppe und die Entscheidung über die genannte Beschwerde beim Bundesgerichtshof sowie sich daraus gegebenenfalls ergebenden Konsequenzen für bestehende personenstandsrechtliche Regelungen bleiben abzuwarten. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/4077 3 Mit dem insgesamt sehr komplexen Thema der Lebensbedingungen und der Rechte intersexueller Menschen haben sich seit der letzten Unterrichtung des Landtags Anfang 2013 (Drs. 16/5608) auch die Konferenzen der Jugend- und Familien-, der Gleichstellungs- und Frauen- sowie der Gesundheitsministerinnen und -minister weiter befasst. 1. Wie weit ist die Landesregierung in der Planung besonderer Beratungsangebote für Intersexuelle und Angehörige? Seit 2014 stehen erstmals Haushaltsmittel für die Selbsthilfe sowie für Beratungsangebote von und für intergeschlechtliche Menschen zur Verfügung. Das MS konnte damit in 2014 sowohl die Selbsthilfe als auch deren Beratungsangebote auf den Weg bringen: Am 1. Juli 2014 wurde die bundesweit erste, zentrale und mit Landesmitteln geförderte Beratungsstelle für intersexuelle Menschen, Eltern intersexueller Kinder und deren Angehörige in Emden eröffnet . Die Beratungsstelle berät Eltern nach dem Peerberatungsansatz und fungiert als Kontaktstelle für intersexuelle Menschen. Träger ist der Landesverband Niedersachsen des Vereins „Intersexuelle Menschen e. V.“. Ergänzend zu diesem Vor-Ort-Angebot wurde im Jahr 2014 eine Online-Beratungsplattform entwickelt (www.nds.intersexuelle-menschen.net) und vom Land Niedersachsen unterstützt. Weiter wurde das Projekt „Peerberatungsqualifikation“ für intersexuelle Menschen und deren Angehörige von dem Verein „Intersexuelle Menschen e. V.“ und der Akademie Waldschlösschen begonnen . In dem bundesweit einmaligen Angebot, das ebenfalls vom Land Niedersachen gefördert wurde, werden „Peerberaterinnen/Peerberater“ ausgebildet. Die erste Maßnahme mit drei Modulen für intergeschlechtliche Menschen und Elternvertretungen wurde erfolgreich von zwölf Teilnehmenden abgeschlossen. Somit verfügt Niedersachen als erstes Bundesland über eine Bildungseinrichtung zur Qualifikation von Inter* Peerberatungskräften sowie ein Netz an Peerberatungskräften, die aufsuchende Hilfe leisten. Für 2015 ist ein zweiter Durchgang geplant. Im Jahr 2015 geht es darum, die genannten Angebote weiter auszubauen und zu verstetigen: Das Land fördert weiter die Beratungsstelle in Emden sowie die Peer-to-Peer-Beratungsqualifizierung . Der Ansatz des Vereins Intersexuelle Menschen Landesverband Niedersachsen e. V. sieht die Aus- und Weiterbildung für allgemeine Beratungsstellen, medizinisches Personal und auch sonstige Bildungsangebote in Schulen und in der Erwachsenbildung vor. Eine Projektstelle ist seit dem 1. Juli 2015 mit einer ausgewiesenen Inter*-Expertin besetzt. Das Bildungsprojekt zur Verbesserung der Beratungssituation, das in der Landesgeschäftsstelle des Vereins Intersexuelle Menschen e. V. in Schortens angesiedelt ist, wird vom Land Niedersachsen ebenfalls gefördert. 2. Liegen der Landesregierung statistische Daten über die Anzahl durchgeführter geschlechtsangleichender Operationen und Hormonbehandlungen bei Kindern in Niedersachsen seit 2000, deren Geschlecht nach der Geburt nicht eindeutig zugeordnet werden konnte, vor (nach Ort des Krankenhauses, Behandlungsart und Alter des Kindes)? Der Landesregierung liegen hierüber keine statistischen Daten vor. 3. Liegen der Landesregierung bereits Auswertungsergebnisse durchgeführter Veranstaltungen der Heilberufskammern im Zuge des oben erwähnten Antrages der SPDFraktion vor, oder sind bereits weitere Veranstaltungen zur Information über dieses Thema geplant? Und bezüglich des Antrags: Wurde das Themas „Intersexualität“ bereits in die Kerncurricula der Schulen aufgenommen? Ein für Mai 2015 geplanter Fortbildungskurs der Ärztekammer Niedersachsen in Kooperation mit der Psychotherapeutenkammer Niedersachen zu dem Thema „Wie wird das Recht auf Unversehrt- Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/4077 4 heit für intersexuelle Menschen geschützt?“ kam wegen zu geringer Anmeldungen nicht zustande. Eine erneute Fortbildungsveranstaltung beider Institutionen ist in Planung. Am 13. Juni 2015 fand unter dem Titel „Es gibt mehr als Mann und Frau - Fortbildung zu Transsexualität und Intersexualität“ eine Fortbildungsveranstaltung der Ärztekammer Niedersachsen statt, die auf große Resonanz sowohl bei psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten als auch bei Ärztinnen und Ärzten gestoßen ist. Für den 17. September 2015 ist eine Fachtagung der PsychoSozialen Arbeitsgemeinschaft Braunschweig mit dem Titel „Lebendige Vielfalt - Transidentität, Intersexualität und die Vielfalt sexueller Orientierungen“ geplant. Bei den Fortbildungen des Hebammenverbandes Niedersachsen e. V. ist das Thema Intersexualität als Querschnittsthema gesetzt. Eine speziell auf das Thema ausgerichtete Fortbildung konnte 2013 wegen unzureichender Anmeldungen nicht durchgeführt werden. Für 2016 wird die Neuauflage eines entsprechenden Fortbildungsangebotes derzeit überlegt. Im Jahr 2014 wurden 500 Hebammenbroschüren zur Verbesserung der Beratung in Kooperation mit dem Verein „Intersexuelle Menschen e. V.“, Landesverband Niedersachsen, erstellt. Das Land Niedersachsen hat die Erstellung der Hefte gefördert. Zu der Frage, ob das Thema „Intersexualität“ in die Kerncurricula der Schulen aufgenommen wurde , ist Folgendes zu sagen: Nach § 122 Abs. 1 Satz 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes wird der Unterricht in allgemeinbildenden Schulen auf der Grundlage von Lehrplänen (Kerncurricula) erteilt. Im Rahmen der Umsetzung des Entschließungsantrags „Schule muss der Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten gerecht werden - Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen fördern - Diskriminierung vorbeugen“ (Drs. 17/2585) wird u. a. zukünftig in allen Kerncurricula, die nach Annahme der Entschließung in der Plenarsitzung des Landtags am 15. Dezember 2014 in Kraft gesetzt werden , im Bildungsauftrag des jeweiligen Unterrichtsfaches die folgende Formulierung zu finden sein: Der Unterricht im Fach (…) trägt darüber hinaus dazu bei, den im Niedersächsischen Schulgesetz formulierten Bildungsauftrag umzusetzen, und thematisiert auch die Vielfalt sexueller Identitäten. Fachbezogen können zudem konkrete Kompetenzerwartungen ergänzt werden. So wird z. B. im neuen Kerncurriculum des Faches Biologie für das Gymnasium (Sekundarbereich I), das zum 1. August 2015 in Kraft gesetzt wird, die nachstehende Erwartung formuliert: Folgende über das Basiskonzeptwissen hinausgehende Inhalte bilden die Grundlage für die Bewertungskompetenz und müssen im Unterricht thematisiert werden: - (…) - Sexuelle Selbstbestimmung und Toleranz (u. a. Homosexualität, Transsexualität, Intersexualität). (Ausgegeben am 13.08.2015) Drucksache 17/4077 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/3808 Wie wird das Recht auf Unversehrtheit für intersexuelle Menschen in Niedersachsen geschützt? Anfrage der Abgeordneten Julia Willie Hamburg (GRÜNE) an die Landesregierung, eingegangen am 01.07.2015 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung