Niedersächsischer Landtag 17. Wahlperiode Drucksache 17/4481 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/4309 - Seltene Krankheiten - Was unternimmt die Landesregierung zu deren Erforschung und für die betroffenen Patienten? Anfrage der Abgeordneten Almuth von Below-Neufeldt, Björn Försterling, Sylvia Bruns und Christian Dürr (FDP) an die Landesregierung, eingegangen am 22.09.2015, an die Staatskanzlei übersandt am 28.09.2015 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung namens der Landesregierung vom 22.10.2015, gezeichnet In Vertretung Jörg Röhmann Vorbemerkung der Abgeordneten Als „selten“ werden Erkrankungen bezeichnet, die in der Praxis eines Allgemeinmediziners höchstens einmal pro Jahr vorkommen. Die EU definiert sie als „nicht mehr als 5 von 10 000 Personen sind davon betroffen“. Dabei sind seltene Krankheiten oft lebensbedrohlich oder chronisch einschränkende Erkrankungen. In Deutschland geht man von 4 Millionen Betroffenen aus. Etwa 80 % der seltenen Krankheiten haben eine genetische Ursache. Die Erforschung von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen für seltene Krankheiten wird vom Bund gefördert. Auch die Etablierung von nationalen Netzwerken in Form von Forschungsverbünden wird vom Bund gefördert. Vorbemerkung der Landesregierung Als „selten“ werden in der Tat Erkrankungen bezeichnet, die in der allgemeinmedizinischen Praxis höchstens einmal pro Jahr vorkommen; rund 4 Millionen Menschen sind davon in Deutschland betroffen . Zum größten Teil (ca. 80 %) sind die seltenen Krankheiten genetisch bedingt; es werden aber auch besondere Infektionskrankheiten als „selten“ geführt oder seltene Stoffwechsel- oder Krebserkrankungen. Wie in der Kleinen Anfrage benannt, definiert die EU sie als solche, von denen „nicht mehr als 5 von 10 000 Personen betroffen“ sind. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen , dass sich unter den als „selten“ definierten Krankheiten auch lebensbedrohliche oder die Lebensführung erheblich einschränkende Erkrankungen finden. Etwa 7 000 bis 8 000 der rund 30 000 voneinander abgrenzbaren Erkrankungen werden als „selten“ eingestuft. Die Problematik in Diagnose und Therapie besteht darin, dass Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Erkrankung im Durchschnitt drei Jahre auf eine korrekte Diagnose warten müssen. Ist sie gestellt, fehlt es oft an wirksamen Therapien. Denn bei einer seltenen Erkrankung betreten Betroffene und Ärztinnen und Ärzte fast immer Neuland und sind auf innovative Diagnose- und Therapieforschung angewiesen. Der Bund fördert die Erforschung von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen für seltene Krankheiten ebenso wie die Bildung und Etablierung von nationalen Netzwerken in Form von Forschungsverbünden oder Referenzzentren, um die Kompetenz für die Behandlung seltener Erkrankungen zu bündeln und gleichzeitig besser zugänglich zu machen. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/4481 2 1. Wie viele Krankheitsfälle im Spektrum seltene Krankheiten sind der Landesregierung für Niedersachsen bekannt, und sind dabei Häufungen erkennbar? Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen werden überwiegend in den Universitätskliniken ambulant und/oder stationär behandelt, weil dort die notwendige hochspezialisierte diagnostische und therapeutische Kompetenz vorliegt. Eine exakte Erhebung der Anzahl von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen ist nicht ohne weiteres möglich, weil keine flächendeckenden Register oder Erhebungseinheiten existieren. Sowohl für Deutschland als auch international liegen nur Schätzungen vor. Valide Zahlen zur Gesamtheit von Krankheitsfällen im Spektrum der seltenen Erkrankungen in Niedersachsen liegen der Landesregierung daher nicht vor. Eine Häufung von seltenen Erkrankungen besteht im Kindes- und Jugendalter, weil die meisten seltenen Erkrankungen genetisch bedingt und somit angeboren sind und sich in einem frühen Lebensalter manifestieren. In der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) leidet mehr als die Hälfte der dort behandelten Kinder an einer seltenen Erkrankung. In der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) sind mehr als ein Drittel aller stationär und ambulant behandelten Patientinnen und Patienten von einer seltenen Erkrankung betroffen. Als besondere Zentren für Kinder und Jugendliche mit seltenen Erkrankungen wurden das Sozialpädiatrische Zentrum und das Deutsche Zentrum für Multiple Sklerose im Kindes- und Jugendalter etabliert. Im Sozialpädiatrischen Zentrum werden jährlich mehr als 1 000 Kinder und Jugendliche mit seltenen Erkrankungen betreut . 2. Wie viele mit den genannten besonderen Fördergeldern flankierte Forschungsvorhaben werden derzeit an welchen Hochschulen durchgeführt, und sind seltene Krankheiten Thema von Promotionsvorhaben? Zu Anzahl und Art von Forschungsvorhaben in ganz Niedersachsen liegen der Landesregierung keine Zahlen vor. Bei den hochschulmedizinischen Einrichtungen Niedersachsens in Göttingen und Hannover sind insbesondere folgende Forschungsvorhaben bekannt: An der MHH wurde im November 2011 das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE-MHH) als eines der ersten Zentren in Deutschland gegründet. Es verfügt über eine fächerübergreifende Forschungsinfrastruktur . Ein Alleinstellungsmerkmal des ZSE-MHH ist die enge Verbindung mit Orphanet International und Orphanet Deutschland, welches die zentrale Datenbank im Rahmen des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) ist. Orphanet Deutschland ist seit Projektbeginn an der MHH im Institut für Humangenetik verankert und hat von 2001 bis März 2014 eine Förderung aus EU-Mitteln (DG SANCO) erhalten. Hinzu kamen in den Jahren 2011 bis 2014 zusätzliche Fördermittel des Bundesministeriums für Gesundheit. An der UMG befasst sich das Zentrum für Seltene Neurologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter (GoRare) mit seltenen Erkrankungen. Es wurde im September 2013 an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin mit Sozialpädiatrischem Zentrum gegründet. Vom GoRare wurde die „Erhebung Seltener Neurologischer Erkrankungen im Kindesalter“ etabliert. Hierbei handelt es sich um ein E-Mail-basiertes Abfragesystem zur bundesweiten Rekrutierung ausreichend großer Kohorten von Patientinnen und Patienten mit seltenen neurologischen Erkrankungen für klinischwissenschaftliche Forschungsprojekte. Alle Forschungsvorhaben der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der UMG beschäftigen sich mit seltenen Erkrankungen und werden vorwiegend über Sachbeihilfen der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Einzelne Projekte sind im Rahmen der Kompetenznetze des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) bearbeitet worden und haben damit eine Bundesförderung erhalten. Dies betrifft insbesondere folgende Projekte : – German Leukonet; Laufzeit 2003 bis 2011; Fördermittel des BMBF Netzwerke seltene Erkrankungen (1 450 000 Euro) und Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/4481 3 – Childhood MS in Germany (CHILDREN MS ); Laufzeit 2009 bis 2012; Fördermittel des BMBF, Krankheitsspezifische Kompetenznetze (KKNMS) (620 000 Euro). Mit seltenen Erkrankungen befassen sich zahlreiche Promotionsvorhaben aus verschiedenen Kliniken und Instituten der hochschulmedizinischen Einrichtungen. In der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der UMG sind die Themen der Promotionsarbeiten ausschließlich zu seltenen Erkrankungen formuliert. Dies betrifft sowohl naturwissenschaftliche als auch medizinische Doktorarbeiten . 3. Welche neuen Forschungsergebnisse aus Niedersachsen kommen Patienten zugute? Die Forschungsprojekte sind an der Schnittstelle zwischen Grundlagenwissenschaften und klinischer Anwendung angesiedelt. Es erfolgt eine schnelle Translation von grundlegenden Forschungsergebnissen in die klinische Praxis, was zum Verständnis der Pathogenese seltener Erkrankungen und vor allem zur Diagnostik und zur Entwicklung von Therapien und Therapieansätzen beiträgt. Durch Projekte der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der UMG konnten beispielsweise zahlreiche bislang ungeklärte kinderneurologische Erkrankungen zu den Schwerpunkten Neurometabolismus , Kinderdemenz und Bewegungsstörungen erstbeschrieben werden und eine detaillierte Grundlagen-wissenschaftliche Ursachenklärung erfolgen. Beispielhaft können hierzu folgende Forschungsvorhaben der Hochschulkliniken genannt werden: – Das Zentrum für Seltene Erkrankungen an der MHH hat eine führende Rolle in Deutschland beim Thema Metabolische Erkrankungen, entzündliche Systemerkrankungen mit Nierenbeteiligung , Blutbildungsstörungen, seltene erbliche Krebserkrankungen, seltene Hörstörungen, seltene Herzerkrankungen und seltene Immundefekte. – In Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Partnern hat die Europäische Kommission das International Rare Diseases Research Consortium (IRDiRC) - mit Beteiligung des ZSEMHH - gegründet, um durch Verstärkung und bessere Koordinierung der Forschungsaktivitäten 200 neue Therapien für seltene Erkrankungen und deren Diagnosemöglichkeiten zu erreichen. – Die Entdeckung der kausalen Mutationen und assoziierten Pathomechanismen wird mit neuen klinischen Erkenntnissen der Genetik und Molekularbiologie sowie dem natürlichen Verlauf der Erkrankung verbunden. Diese Informationen werden verständlich auf einer Webseite im Internet gebündelt, ständig aktualisiert und sowohl den Kliniken als auch den Patientinnen und Patienten zur Verfügung gestellt (www.zse-hannover.de). Es besteht ein enger Kontakt mit Patientenorganisationen . – Die sogenannte Exom-Sequenzierung wurde an der MHH bereits bei Patientinnen und Patienten mit seltenen Immundefekten und Knochenmarkversagen erfolgreich angewandt. Aufbauend auf den klinischen Erfahrungen mit Kindern ist es gelungen, mehrere neue Gene zu entdecken, die ursächlich für den Immundefekt sind. Der rasante Fortschritt durch die direkte Sequenzierung von Genomen aus Tumorzellen und -biopsien kommt unmittelbar den Patientinnen und Patienten zugute. – Durch die Identifikation neu entdeckter Mutationen können seltene Erkrankungen genauer definiert werden. Dabei können Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede im Phänotyp für unterschiedliche genetische Defekte präzisiert werden. Dies ist im ZSE-MHH bei Immundefekten und Blutbildungsstörungen gelungen. – Die MHH ist in Deutschland führend in der Entwicklung von Vektorsystemen für die Modifikation von Stammzellen, eine Technologie, die bereits mehrfach bei der Gentherapie erfolgreich angewendet wurde. – Im Exzellenzcluster REBIRTH werden gentherapeutische Ansätze für die Alveolarproteinose, eine tödliche Lungenerkrankung im Kindesalter, sowie für Blutbildungsstörungen entwickelt. Für mehrere seltene Erkrankungen wurden im Exzellenzcluster REBIRTH krankheitsspezifische Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/4481 4 Modelle für weitergehende funktionelle Analysen und für die präklinische Entwicklung neuer Therapieoptionen entwickelt. – Ein erfolgreiches Beispiel von Studien auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen ist der erste klinische Einsatz eines neuen Komplementinhibitors bei Patientinnen und Patienten mit hämolytisch -urämischem Syndrom. Dieses seltene Syndrom betrifft hauptsächlich Kleinkinder und Säuglinge. Dabei werden Blutzellen zerstört und die Nierenfunktion geschädigt. Der Komplementinhibitor wurde weltweit zum ersten Mal erfolgreich an der MHH getestet. – An der UMG wird zur Aufklärung der genetischen Ursache für die zerebrale Folatdefizienz-Erkrankung und die Etablierung einer kurativen Therapie, die bei betroffenen Kindern und Jugendlichen jetzt die Neurodegeneration und Entwicklung einer Demenz verhindern kann, geforscht. Die Erkrankung gehört zu den wenigen behandelbaren Demenzerkrankungen. – Die UMG arbeitet an der Aufklärung der genetischen Ursache verschiedener seltener neurologischer Erkrankungen im Kindesalter, z. B. der Alternierenden Hemiplegie des Kindesalters. – Ein Ziel ist z. B. auch der Nachweis der definitiven genetischen Ursache einer schweren chronischen Erkrankung bei einem Kind oder Jugendlichen; dies kann dann mittelbar auch zu einer Besserung der Lebensqualität der Mütter führen. – Erstmalige Etablierung einer medikamentösen Therapie des Alport-Syndroms hilft bei der Vermeidung der dialysepflichtigen Nierenfunktionsstörungen an der Klinik für Nephrologie und Rheumatologie in Kooperation mit der Kinderklinik der UMG. 4. Welche Hilfestellungen für Betroffene wurden seitens der Landesregierung erarbeitet, und welche Hilfestellungen gibt es insgesamt, die die Landesregierung für Betroffene, aber auch für behandelnde Ärzte vorhält oder auf die sie verweisen kann? Auf Landesebene liegen keine spezifischen Hilfestellungen für Betroffene vor. Gleichwohl zeigen die vielfältigen zu den Fragen 1 bis 3 dargestellten Aktivitäten in Niedersachsen, dass die Landesregierung die o. g. Fragestellungen und die Unterstützung Betroffener für bedeutsam hält. Das Land Niedersachsen ist deshalb im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG), vertreten durch das jeweilige Vorsitzland, auf nationaler Ebene den Beschlüssen zum Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) beigetreten (Beschluss der AOLG vom 21.06.2013). Im Rahmen dieses Nationalen Aktionsbündnisses wird gemeinsames Handeln als wichtige Voraussetzung für eine langfristig wirksame Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Menschen mit Seltenen Erkrankungen aufgefasst. Das NAMSE ist ein Koordinierungs- und Kommunikationsgremium mit dem Ziel, eine bessere Patientenversorgung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen auf den Weg zu bringen. Dazu bündelt es bestehende Initiativen, vernetzt Forscherinnen und Forscher , Ärztinnen und Ärzte und führt Informationen für diese wie für Patientinnen und Patienten zusammen . Die Landesregierung hält die Herstellung von Transparenz für das wichtigste Instrument. Es ist nicht realistisch, die besondere Kompetenz in Diagnose und Behandlung bestimmter seltener Erkrankungen flächendeckend zu vermitteln. Vielmehr ist zielführend, dass auf der Internetseite von NAMSE die vielfältigen Informationen abgerufen werden können, von Betroffenen wie von behandelnden Ärztinnen und Ärzten. (Ausgegeben am 28.10.2015) Drucksache 17/4481 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/4309 Seltene Krankheiten - Was unternimmt die Landesregierung zu deren Erforschung und für die betroffenen Patienten? Anfrage der Abgeordneten Almuth von Below-Neufeldt, Björn Försterling, Sylvia Bruns und Christian Dürr (FDP) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung