Niedersächsischer Landtag 17. Wahlperiode Drucksache 17/5303 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/5045 - „Populismusbremse“ in der Debatte über Konsequenzen aus Silvestervorfällen Anfrage der Abgeordneten Helge Limburg, Meta Janssen-Kucz, Belit Onay, Julia Willie Hamburg und Filiz Polat (GRÜNE) an die Landesregierung, eingegangen am 21.01.2016, an die Staatskanzlei übersandt am 26.01.2016 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung vom 25.02.2016, gezeichnet Boris Pistorius Vorbemerkung der Abgeordneten Nach den Angriffen in der Silvesternacht gegen Frauen im Kölner Hauptbahnhof und in anderen Städten entbrannte eine heftige politische Debatte über daraus folgende Konsequenzen. Der niedersächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Axel Knoerig forderte, sämtliche Handy- und andere Kommunikationsdaten von Flüchtlingen pauschal und flächendeckend präventiv zu erfassen. Der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer forderte, Flüchtlinge, die verdächtigt werden, Straftaten begangen zu haben, auch ohne rechtsstaatliches Verfahren abzuschieben. Die Thüringer CDU forderte , verdachtsunabhängig und flächendeckend V-Leute in Flüchtlingsheimen einzusetzen. Der CDU-Landesvorsitzende von Braunschweig und niedersächsische Fraktionsvize Frank Oesterhelweg erklärte in einer Zeitungsanzeige, bezogen auf die Vorfälle in Köln: „Sie“ (diese Verbrecher) „müssen von der Polizei gestoppt werden - notfalls mit Gewalt und, ja, Sie lesen richtig, auch mit Schusswaffen.“ Die Gewerkschaft der Polizei Niedersachsen kritisierte diese Äußerung. „Allerdings ist die Forderung von Herrn Oesterhelweg, auch Waffen dabei einzusetzen, eine Entgleisung und hilft der polizeilichen Arbeit überhaupt nicht“, sagte der GdP-Landesvorsitzende Dietmar Schilff. „Der Gebrauch einer Waffe ist die absolute Ultima Ratio und darf nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen durchgeführt werden. Die Umstände in Köln entsprechen dabei in keiner Weise den rechtlichen Vorgaben.“ Schilf ergänzte, er wünsche sich statt Schuldenbremse eine Populismusbremse . Vorbemerkung der Landesregierung Am 20.01.2016 hat der Minister für Inneres und Sport im Namen der Landesregierung ausführlich über die aktuelle Sicherheitslage in Niedersachsen im Zusammenhang mit den Ereignissen von Köln in der Silvesternacht und die Situation in unserem Land unterrichtet. Mit dieser umfassenden Darstellung der Lage, von Fakten, Schlussfolgerungen und Bewertungen leistete die Landesregierung einen wichtigen Beitrag zur Information der Politik, der Bürgerinnen und Bürger, zur Herstellung von Transparenz des Regierungshandelns und vor allem auch zur Versachlichung der Thematik in der öffentlichen Diskussion. Die Landesregierung macht erneut deutlich, dass es gegenüber den Taten und den Tätern in der Silvesternacht in Köln oder in gleichgelagerten Fällen andernorts keine Toleranz und auch kein Verständnis für die widerlichen Taten geben darf. Großes Verständnis und Mitgefühl besteht für die Frauen, die als Opfer Demütigung, Verunsicherung und Ängste erfahren haben, in ihrer Würde verletzt wurden und diese Erfahrungen noch verarbeiten müssen. Nach diesen Ereignissen wird es als selbstverständlich angesehen, das Geschehen zu analysieren, Handlungsbedarfe zu identifizieren und schließlich Maßnahmen in geeigneter Form zu ergreifen. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5303 2 Hierzu bedarf es selbstverständlich auch einer entsprechenden politischen Auseinandersetzung. In der gegenwärtigen Situation sind in der politischen Diskussion zahlreiche Vorschläge wahrnehmbar , die sich weit jenseits von rechtlicher Machbarkeit und verantwortungsvollen politischen Positionen bewegen. Bei manchen politischen Forderungen drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass bei Einzelnen der Hang zur Selbstdarstellung, Effekthascherei oder purem Aktionismus im Vordergrund steht. Solche Forderungen wecken bei den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes Erwartungen, die faktisch nicht erfüllbar sind und in der Konsequenz auch zu Glaubwürdigkeitsverlusten von Politik und ihren Akteuren führt. Mit Blick auf die Vorbemerkung der Abgeordneten bleibt festzuhalten: Sofern gefordert wird, Flüchtlinge , die der Begehung von Straftaten nur verdächtig sind, „auch ohne rechtsstaatliches Verfahren abzuschieben“, wird dem - ungeachtet der Frage, ob CSU-Generalsekretär Scheuer 1 dem Wortlaut oder auch nur dem Sinne nach eine solche Aussage gemacht hat - in ihrer Pauschalität eine klare Absage erteilt. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahren zählt zu den Grundprinzipien unserer Staatlichkeit; eine Diskussion darüber verbietet sich von selbst. Soweit es darum geht, die Hürden für Abschiebungen herabzusetzen, war es nach den Vorkommnissen in der Silvesternacht in Köln jedoch erforderlich, sehr rasch, aber gleichwohl sachlich, gründlich und jenseits von Aktionismus, etwaige Handlungsbedarfe zu beraten. Vom BMI und BMJV wurde ein Vorschlag zur Änderung des Ausweisungsrechts zur Änderung der Abschiebungsregeln mit Blick auf ausländische Straftäter erarbeitet. Bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft werden Straftaten zukünftig verschärft berücksichtigt. Strafrechtlich verurteilten Ausländerinnen und Ausländern kann zukünftig leichter die Flüchtlingszuerkennung versagt werden. Aufgrund des vorgeschlagenen dezidierten Tatbestandskataloges in Verbindung mit einer Absenkung des Strafmaßes für bestimmte Straftaten kann das Instrument der Ausweisung früher zur Anwendung kommen. Im Ergebnis muss in diesen Fällen die Aufenthaltsbeendigung das Ziel sein. Der diesbezügliche Gesetzentwurf zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern befindet sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren, sodass mit einem baldigen Inkrafttreten der Neuregelungen zu rechnen ist. Zu der in der Anfrage beschriebenen Forderung nach dem Einsatz von V-Leuten in Flüchtlingsheimen verdeutlicht die Landesregierung, dass selbstverständlich auch gegenüber Flüchtlingen - wie auch gegenüber Deutschen - sämtliche rechtlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung und Verhinderung von Straftaten ausgeschöpft werden. Bei den meisten bekannt werdenden Straftaten von Flüchtlingen handelt es sich um Delikte einfacher oder mittlerer Qualität. Der Einsatz von V-Leuten oder Verdeckten Ermittlern ist in Niedersachsen aber zu Recht erst bei Straftaten von erheblicher Bedeutung erlaubt. Und bei solchen Taten, wie z. B. schweren Sexual- oder Raubdelikten ist es weitaus effektiver, wenn die Polizei zur Verfolgung oder Verhinderung solcher Taten ganz offen und direkt auf die betroffenen Personen zugeht und diese - wie kürzlich in Laatzen geschehen - anhand von Zeugenaussagen kurzerhand festnimmt. 1. Wie bewertet die Landesregierung die Forderung des CDU-Bundestagsabgeordneten Knoerig nach einer Pauschalerfassung aller Kommunikationsdaten von Flüchtlingen? Die Forderung nach einer Verpflichtung für Flüchtlinge und Asylbewerber, sich bei der Erstregistrierung in Deutschland mit der Offenlegung ihrer Kommunikationsdaten einverstanden zu erklären, erstaunt schon sehr. Für den Fall der Begehung krimineller Handlungen sollen diese Daten dann offensichtlich gesammelt und für Ermittlungen genutzt werden. Ein Staat, der bei Teilen seiner Bevölkerung vorsorglich - d. h. ohne einen Anlass dafür zu haben - eine Vielzahl von Daten erfasst, und im Gegensatz zur Mindestspeicherung offenbar verfassungs- und schrankenlos agiert, handelt völlig unverhältnismäßig. 1 Bekannter Wortlaut siehe Anlage Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5303 3 Das Handeln des Staates muss sich stets am Grundgesetz ausrichten. Einschränkungen von Grundrechten sind nur im zulässigen Rahmen möglich. Die Forderung des CDU-Bundestagsabgeordneten Knoerig 2 dürfte sich jenseits dessen bewegen. 2. Wie ist die Rechtslage in Niedersachsen für den Einsatz von Schusswaffen in Menschenmengen durch Polizistinnen und Polizisten? Die Rechtslage im Sinne der Fragestellung ergibt sich explizit aus § 78 i. V. m. § 76 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG). Demnach dürfen Schusswaffen gegen Personen in einer Menschenmenge nur gebraucht werden, wenn von ihr oder aus ihr heraus schwerwiegende Gewalttaten begangen werden oder unmittelbar bevorstehen und andere Maßnahmen keinen Erfolg versprechen. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Merkmale „Menschenmenge“ und „schwerwiegende Gewalttaten“. Zu letztgenannten zählen Straftaten, die unter Anwendung von Gewalt begangen werden und die zu erheblichen Schäden an bedeutsamen Rechtsgütern Einzelner und der Allgemeinheit führen können. 3 Der Schusswaffengebrauch ist dabei ausdrücklich nur gegen (einzelne) Personen in einer Menschenmenge , nicht gegen die Menschenmenge selbst gestattet. Und selbstverständlich ist vor dem Einsatz der Schusswaffe unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sorgfältig zu prüfen, ob die Gefahr nicht durch mildere Mittel abgewehrt werden kann. Der Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen in einer Menschenmenge ist darüber hinaus stets anzudrohen. Die Androhung ist vor dem Einsatz von Schusswaffen zu wiederholen. Zwischen den Androhungen, vor allem zwischen Warnschüssen, soll möglichst eine bemessene Zeitspanne liegen, sodass sich Personen, die sich von Gewalttätern distanzieren wollen, noch aus der Menge entfernen können. Und schließlich sind beim Schusswaffengebrauch gegen Personen in einer Menschenmenge stets die allgemeinen Vorschriften für den Schusswaffengebrauch gemäß § 76 Nds. SOG zu beachten. 4 Danach gilt natürlich besonderer Schutz für Unbeteiligte. Die rechtlichen Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch im Allgemeinen und gegen Personen in Menschenmengen sind klar definiert und deren Schwelle ist sehr hoch. 3. Wie bewertet die Landesregierung die Forderung des niedersächsischen CDU-Fraktionsvizevorsitzenden Oesterhelweg nach einem Schusswaffeneinsatz in Situationen wie denen zu Silvester in Köln? Niedersachsen verfügt über eine Polizei, die konsequent gegen Gewalt einschreitet. Es entspricht allerdings nicht dem Bild der Landesregierung von einer bürgernahen und modernen Polizei - weder in Niedersachsen noch in anderen Bundesländern -, wenn Polizistinnen und Polizisten mit Schusswaffengewalt gegen Personen in Menschenmengen vorgehen würden und dadurch Unbeteiligte unnötig gefährden. Der Gebrauch von Schusswaffen und nicht zuletzt der gegen Menschenmengen unterliegt nicht ohne Grund engen gesetzlichen Anforderungen. Er ist insofern immer Ultima Ratio und damit die letzte Option polizeilichen Einschreitens. Die gesetzlichen Regelungen für den Gebrauch von Schusswaffen sind ausreichend und angemessen. Derzeit gibt es keinen Anlass zur Aktualisierung der gültigen Rechtslage. 2 Bekannter Wortlaut siehe Anlage. 3 Insbesondere schwere Körperverletzungen, gemeingefährliche Verbrechen oder Vergehen, sexuelle Nötigungen und Vergewaltigungen. Straftatbestände wie sie in Köln begangen wurden, könnten zum Teil unter die Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs fallen. 4 Aus Gründen der Übersichtlichkeit als Anlage beigefügt. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5303 4 4. In wie vielen Fällen kam es im Jahr 2015 zum polizeilichen Schusswaffengebrauch gegen Personen? Im Jahr 2015 kam es in Niedersachsen in drei Fällen zu einem polizeilichen Schusswaffengebrauch gegen Einzelpersonen. Diese geringe Zahl ist ein Indikator dafür, dass es sich auch tatsächlich um die letzte Option polizeilichen Einschreitens handelt. Einen Schusswaffengebrauch gegen Menschengruppen hat es in den vergangenen Jahren in Niedersachsen nicht gegeben. 5. Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen könnten V-Leute in Flüchtlingsheimen eingesetzt werden? Der Einsatz von V-Personen oder Verdeckten Ermittlern als gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme ist nach dem Nds. SOG in den §§ 36 (Datenerhebung durch die Verwendung von V-Personen) und 36 a (Datenerhebung durch die Verwendung von Verdeckten Ermittlern) geregelt. Er ist rechtlich an hohe Voraussetzungen geknüpft. Derartige Maßnahmen sind nur anzuwenden bei – Personen, die eine gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person verursachen , wenn die Aufklärung des Sachverhaltes auf andere Weise nicht möglich erscheint oder – zur Beobachtung von Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden, und wenn die Verhütung dieser Straftaten auf andere Weise nicht möglich erscheint. Außerdem wären noch weitere rechtliche Voraussetzungen zu prüfen, insbesondere, ob diese Maßnahmen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind. 6. Wäre ein „flächendeckender“ Einsatz von V-Leuten überhaupt möglich? Zum „flächendeckenden“ Einsatz von V-Leuten wird ausgeführt, dass dieser schon aus logistischen Gründen gar nicht vorstellbar ist, aber auch die Etablierung eines derartigen „Spitzelsystems“ für die Landesregierung überhaupt nicht infrage kommt. Das Mittel des VP- oder VE-Einsatzes ist an hohe rechtliche Voraussetzungen geknüpft und sollte nur als Ultima Ratio herangezogen werden. Wie das in der Vorbemerkung erwähnte Beispiel aus Laatzen zeigt, ist auch die „klassische“ offene Polizeiarbeit Erfolg versprechend! In diesem Fall waren es Zeugenaussagen und Videoaufnahmen. Diese polizeilichen Mittel können auch bei betroffenen Flüchtlingen probat angewandt werden, ohne dass kostspielige V-Leute zum Einsatz kommen müssen, die im Übrigen zur Bekämpfung schwerer oder organisierter Kriminalität vorgesehen sind. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5303 5 Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5303 6 (Ausgegeben am 07.03.2016) Drucksache 17/5303 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/5045 „Populismusbremse“ in der Debatte über Konsequenzen aus Silvestervorfällen Anfrage der Abgeordneten Helge Limburg, Meta Janssen-Kucz, Belit Onay, Julia Willie Ham-burg und Filiz Polat (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport