Niedersächsischer Landtag − 17. Wahlperiode Drucksache 17/5537 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/5387 - Wie kommt das geplante Bundesleistungsgesetz voran? Anfrage der Abgeordneten Sylvia Bruns, Almuth von Below-Neufeldt, Björn Försterling und Christian Dürr (FDP) an die Landesregierung, eingegangen am 11.03.2016, an die Staatskanzlei übersandt am 16.03.2016 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung namens der Landesregierung vom 06.04.2016, gezeichnet In Vertretung Jörg Röhmann Vorbemerkung der Abgeordneten Die Koalitionsparteien SPD, CDU und CSU haben sich im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages darauf verständigt, die Leistungen an Menschen, die aufgrund einer wesentlichen Behinderung nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, aus dem bisherigen „Fürsorgesystem“ herauszuführen und die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln (Quelle: http://www.gemeinsam-einfach-machen.de). Derzeit werden Menschen mit einer seelischen und Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht gleichgestellt. Dies ist insbesondere bei den Pflegesätzen zu beobachten, die im Durchschnitt der Hilfebedarfsgruppen bei seelisch behinderten Menschen bis zu 30 % niedriger sind als bei geistig behinderten Menschen. Bisher herrscht Unklarheit darüber, ob mit dem Bundesteilhabegesetz eine Gleichstellung vorgenommen wird. Ebenso bleibt unklar, wie dem Grundsatz des SGB XII, „ambulant vor stationär“ Rechnung getragen und wie dieser konkret umgesetzt werden soll. Bei der herrschenden Ungewissheit sind Investitionen in die Schaffung stationärer Einrichtungen mit hoher Unsicherheit behaftet. Vorbemerkung der Landesregierung Im Hinblick auf die Vorbemerkung der Abgeordneten und zur Frage der unterschiedlichen Höhe von Leistungsvergütungen bei der vollstationären Eingliederungshilfe für Menschen mit einer seelischen und geistigen Behinderung weist die Landesregierung auf die Systematik der derzeit geltenden gesetzlichen Regelungen hin: Ausgehend vom Behinderungsbegriff in § 2 Ab. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) wird in den Regelungen zur Eingliederungshilfe im sechsten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (§§ 53 bis 60 SGB XII) zwischen einer körperlichen, geistigen und seelischen Behinderung unterschieden. In der nach § 60 SGB XII erlassenen Verordnung (Eingliederungshilfeverordnung ) und in den dortigen §§ 1 bis 3 wird näher definiert und differenziert, unter welchen Voraussetzungen von einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auszugehen ist. Werden die Leistungen der Eingliederungshilfe in bzw. von einer stationären Einrichtung erbracht, so sind zwischen dem zuständigen Träger der Sozialhilfe und dem Einrichtungsträger eine Leistungs -, eine Vergütungs- und eine Prüfungsvereinbarung abzuschließen (§ 75 Abs. 3 SGB XII). Zu der in der Anfrage angesprochenen Vergütungsvereinbarung trifft § 76 Abs. 2 Satz 3 SGB XII die Regelung, dass für die „eigentlichen“ Maßnahmen der Eingliederungshilfe unterschiedliche Pau- Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5537 2 schalen vereinbart werden, die nach Gruppen von Leistungsberechtigten mit vergleichbarem Bedarf zu kalkulieren sind. Eine „Gleichstellung“ der unterschiedlichen Behinderungsarten sehen die gesetzlichen Regelungen somit nicht vor. Vielmehr besteht wie dargestellt ein Differenzierungsgebot , gerade auch im Hinblick auf die Höhe der Maßnahmepauschalen als Bestandteile der zu vereinbarenden Leistungsvergütungen. Für Niedersachsen sind zwischen dem Land als überörtlichem Träger der Sozialhilfe, den kommunalen Spitzenverbänden und den Vereinigungen der Träger der Einrichtungen rahmenvertragliche Vereinbarungen nach § 79 SGB XII getroffen worden, die (u. a.) für Menschen mit einer seelischen Behinderung die Kriterien zur Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf und den jeweiligen daraus resultierenden Maßnahmepauschalen nach dem sogenannten Schlichthorst-Verfahren vorsehen; dito ist dies für Menschen mit einer geistigen Behinderung nach dem sogenannten HMB-W-Verfahren vereinbart worden. Diese Kriterien unterscheiden sich wegen der unterschiedlichen Behinderungsarten zum Teil erheblich und führen letztlich zu einem einvernehmlich vereinbarten , differenzierenden Vergütungssystem. 1. Wie steht die Landesregierung zum Bundesteilhabegesetz? Die Landesregierung begrüßt das Vorhaben, die Grundlagen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen durch ein Bundesteilhabegesetz zu reformieren. Sie hat sich zuletzt auf der 92. Arbeits- und Sozialministerkonferenz am 18. und 19. November 2015 im Einvernehmen mit allen anderen Bundesländern zu dem Vorhaben inhaltlich positioniert. Der entsprechende Beschluss ist als Anlage beigefügt. 2. Wie steht die Landesregierung zur der pflegesatzbezogenen Gleichstellung von seelisch und geistig behinderten Menschen? Die Landesregierung steht der Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes positiv gegenüber, Hilfen zur Teilhabe zukünftig personenzentriert auszurichten. Sie begrüßt darüber hinaus die im Hinblick auf eine personenzentrierte Ausrichtung konsequente Absicht des Bundes, die Unterscheidung zwischen „ambulanten“, „teilstationären“ und „vollstationären“ Leistungen aufzugeben. Dies bedingt ein Vergütungssystem, das - in Abkehr von einer einrichtungsbezogenen Betrachtungsweise - auf einer differenzierten Bedarfserfassung und Hilfeplanung im Einzelfall basiert. Die Landesregierung geht davon aus, dass dabei die grundlegende Differenzierung nach körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung beibehalten wird. Da bislang kein Referentenentwurf für das Bundesteilhabegesetz vorliegt, sind zwar noch keine validen Aussagen darüber möglich, welche Regelungen das Bundesteilhabegesetz im Hinblick auf die vertraglichen Rechtsbeziehungen zwischen Leistungsanbietern und Kostenträgern endgültig vorsehen wird; aller Voraussicht nach wird das Bundesteilhabegesetz jedoch regeln, dass Gegenstand vertraglicher Vereinbarungen (nur noch) die Fachleistungen der Teilhabe als solche sein werden, nicht hingegen weitere im Einzelfall gegebenenfalls erforderliche existenzsichernde Leistungen wie Unterkunft und Verpflegung. Eine „pflegesatzbezogene Gleichstellung“ im Sinne der Fragestellung würde die dargestellten und aus Sicht der Landesregierung zu begrüßenden Zielsetzungen des Bundesteilhabegesetzes konterkarieren . 3. Kann die Landesregierung Aufschluss darüber geben, wie sich Heimbetreiber bei der ungewissen Lage verhalten sollten? Die Landesregierung sieht keine Veranlassung dafür, durch generelle Hinweise auf die konzeptionelle Selbstständigkeit von Leistungsanbietern Einfluss zu nehmen. Mit der personenzentrierten Ausrichtung des Teilhaberechts, der Aufgabe der Unterscheidung zwischen ambulanten, teilstationären und vollstationären Leistungsangeboten sowie mit der geplanten Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5537 3 zukünftigen Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen sind nach Einschätzung der Landesregierung Strukturänderungen vorgezeichnet, die auch Umstellungen heutiger vollstationärer Wohnangebote zur Folge haben können. Leistungsanbieter werden sich aller Voraussicht nach zunehmend - im Sinne bedarfsgerechter Angebote - auf die Umsetzung der für die jeweiligen Leistungsberechtigten abgestimmten individuellen Hilfepläne ausrichten. Die Entscheidung , ob und welche Angebote sie darüber hinaus für existenzsichernde Leistungen (Unterkunft, Verpflegung) vorhalten möchten, kann nur in eigener Verantwortung getroffen werden. 4. Ist absehbar, wann eine Ratifizierung des Bundesteilhabegesetzes erfolgen wird? Das Gesetzgebungsverfahren wird vom BMAS betrieben. Zum Zeitplan des Gesetzgebungsverfahrens lassen sich daher zurzeit keine Aussagen treffen. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5537 4 Anlage TOP 5.3 Bundesteilhabegesetz - Stand der Gesetzgebung Antragsteller: alle Länder Beschluss: Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder begrüßen das Vorhaben der Bundesregierung, die Grundlagen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen durch ein neues Bundesteilhabegesetz zu reformieren und dafür auf Basis der Erkenntnisse des hochrangigen Beteiligungsprozesses Anfang nächsten Jahres einen Gesetzentwurf vorzulegen. Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder sehen es im Hinblick auf den erwarteten Gesetzentwurf von entscheidender Bedeutung an, dass in einem neuen Bundesteilhabegesetz vor allem zu folgenden Punkten Lösungen gefunden werden: 1. Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung der auf Leistungen der Eingliederungshilfe angewiesenen Menschen durch partizipative Bedarfsfeststellung und Leistungsorganisation, Personen- und Wirkungsorientierung der Fachleistungen sowie die Möglichkeit von Geldpauschalleistungen . 2. Ermöglichung einer qualifizierten ergänzenden Beratung, die als eine von den Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige Beratung durchgeführt werden soll und dem Prinzip des Peer Counseling Rechnung trägt, 3. Inklusive Systementwicklung, d. h. Stärkung und Ertüchtigung der Regelsysteme, z. B. Grundsicherung, soweit möglich, Eintritt der weiterhin nachrangigen Eingliederungshilfe soweit nötig, 4. Verbesserungen beim Einkommens- und Vermögenseinsatz, insbesondere für erwerbstätige Menschen mit hohem Assistenzbedarf und ihre Ehe- und Lebenspartner, 5. Einführung eines bundesgesetzlichen Rahmens für ein partizipatives und trägerübergreifendes Bedarfsermittlungs- und -feststellungsverfahren, mit dem System- und Leistungsschnittstellen im Interesse der Leistungsberechtigten überwunden und zu einem wirkungsorientierten Leistungsgeschehen wie aus einer Hand zusammengeführt werden, 6. Vermeidung von Ungerechtigkeiten durch Leistungsunterschiede in den Bundesländern. Die länderspezifischen Spielräume auf Basis bundeseinheitlicher Grundsätze sollen bei der näheren Ausgestaltung und Umsetzung des Teilhaberechts in den Ländern erhalten bleiben, 7. Stärkung der Steuerungsfähigkeit des Eingliederungshilfe-Leistungsträgers auf der Strukturebene durch ein personen-, leistungs- und wirkungsorientiertes Leistungserbringungsrecht, mit dem nicht mehr Institutionen gefördert, sondern personenbezogene, qualitätsgesicherte und wirtschaftliche Leistungen generiert und finanziert und sozialraumorientierte, neue Finanzierungswege wie z. B. Budgets ermöglicht werden, 8. Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung und insbesondere am allgemeinen Arbeitsmarkt . Hierzu gehört u. a. die Verbesserung der Übergänge von der WfbM zu einer sozi- 92. Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2015 am 18./19. November 2015 in Erfurt Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/5537 5 alversicherungspflichtigen Beschäftigung durch das Budget für Arbeit und weitere geeignete Maßnahmen und 9. Lösung der Schnittstellenproblematik, insbesondere zur Kranken- und Pflegeversicherung, im Interesse der Menschen mit Behinderung im Rahmen der Reformprozesse zum Bundesteilhabegesetz und zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes. Durch das Reformgesetz sollen Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsreserven über verbesserte Struktur - und Fallsteuerung gehoben werden, dadurch Leistungsverbesserungen ermöglicht und dennoch die Ausgabenentwicklung nachhaltig gedämpft werden. Es darf keine neue Ausgabendynamik im System der Eingliederungshilfe und Teilhabe hervorrufen. Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder erkennen das finanzielle Engagement des Bundes zur Entlastung finanzschwacher Kommunen ausdrücklich an. Sie möchten die Bundesregierung dennoch an ihre Zusage erinnern, dass mit dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes eine Entlastung im Umfang von 5 Mrd. Euro jährlich bei den Kosten der Eingliederungshilfe erfolgen muss und fordern die Bundesregierung daher auf, sicherzustellen , dass Finanzmittel des Bundes in zugesagter Höhe zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zur Verfügung stehen, um die Anforderungen an ein modernes Teilhaberecht erfüllen zu können. Auch bei einer Kostenbeteiligung des Bundes ist es im Anbetracht der für die Eingliederungshilfe prognostizierten, weiterhin steigenden Ausgaben erforderlich, dass die Kostenbeteiligung des Bundes dynamisiert wird. Leistungsverbesserungen und der Aufbau neuer Strukturen sind vom Bund zu finanzieren. Begründung: Nach dem Ende des Beteiligungsverfahrens zum Bundesteilhabegesetz (Abschlusssitzung 14.04.2015) wurde am 14.07.2015 der Abschlussbericht durch das BMAS veröffentlicht, und ein erster Referentenentwurf für das Bundesteilhabegesetz soll spätestens im Frühjahr 2016 vorgelegt werden. Für 2016 ist das förmliche Gesetzgebungsverfahren geplant, und das Inkrafttreten des Gesetzes ist für 2017 vorgesehen. Nach der Entscheidung über die Entkoppelung kommunaler Entlastung von der Eingliederungshilfe ist derzeit offen, in welchem Rahmen und für welche Zwecke Finanzmittel des Bundes zur Realisierung des Bundesteilhabegesetzes zur Verfügung gestellt werden. Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder haben von Beginn an entscheidenden Anteil an den Fragen der inhaltlichen Ausrichtung des Reformprozesses gehabt. Mit den in der Beschlussvorlage definierten Anforderungen an die Umsetzung eines Bundesteilhabegesetzes reagieren die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder auf die aktuelle Entwicklung, indem sie eine Prioritätensetzung vornehmen, die sich auf Basis früherer ASMK-Positionen sowie der Stellungnahme der Länderressorts zum Erörterungsstand des Bundesteilhabegesetzes vom 08.04.15 ergeben. Protokollnotiz: Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg -Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen halten ein Bundesteilhabegeld weiterhin für eine geeignete Weiterentwicklung für mehr Eigenverantwortlichkeit für Menschen mit Behinderungen. Votum der ACK: 16 : 0 : 0 Votum der ASMK: 16 : 0 : 0 (Ausgegeben am 14.04.2016) 92. Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2015 am 18./19. November 2015 in Erfurt Drucksache 17/5537 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/5387 Wie kommt das geplante Bundesleistungsgesetz voran? Anfrage der Abgeordneten Sylvia Bruns, Almuth von Below-Neufeldt, Björn Försterling und Christian Dürr (FDP) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung