Niedersächsischer Landtag − 17. Wahlperiode Drucksache 17/8726 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/8590 - Ist „Verletzung des Aktienrechts“ durch ein Mitglied des VW-Aufsichtsrates ein Kavaliersdelikt ? Anfrage des Abgeordneten Grant Hendrik Tonne (SPD) an die Landesregierung, eingegangen am 14.08.2017, an die Staatskanzlei übersandt am 16.08.2017 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr namens der Landesregierung vom 13.09.2017, gezeichnet Olaf Lies Vorbemerkung des Abgeordneten Der CDU-Landesvorsitzende Dr. Bernd Althusmann hat in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 31. Juli 2017 ausführlich Stellung genommen, wie er sich anstelle von Ministerpräsident Stephan Weil im Aufsichtsrat der Volkswagen AG während der Dieselgate-Affäre verhalten hätte. Unter anderem sagte der studierte Pädagoge, Betriebswirt und Personalberater Althusmann: „Wenn ich sehe, wie sich Herr Weil vor die Mikrofone stellt, im Endeffekt aber mit Verweis auf das Aktienrecht nichts sagt, dann fehlt mir das Vertrauen, dass hier wirklich an einer umfassenden Aufklärung gearbeitet wird. (…) Zunächst ist der Vorstand des Konzerns rechtlich in der Pflicht. Aufklärung und Transparenz müssen deutlich verbessert werden. Das kann und muss der Aufsichtsrat vom VW-Vorstand vehement einfordern. Und die Auskunftsrechte des Landtages stehen dieser Rechtsauffassung diametral entgegen. Im Zweifel würde ich mich dafür auch verklagen lassen, um die offensichtlichen Missstände beseitigen zu können.“ 1. Welchen gesetzlichen Vorgaben, welchen Vorgaben des Unternehmens selbst und welchen weiteren Regelungen sind Mitglieder des VW-Aufsichtsrates unterworfen; inwiefern dürfen sie sich insbesondere über Interna des Unternehmens öffentlich äußern? Nach aktienrechtlichen Vorschriften gilt für die Mitglieder des Aufsichtsrats der Volkswagen AG die Pflicht zur Verschwiegenheit. Über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, haben sie Stillschweigen zu bewahren. Die Aufsichtsratsmitglieder sind insbesondere zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen verpflichtet. Die Pflicht zur umfassenden Verschwiegenheit folgt zwingend aus dem Aktiengesetz, §§ 93 Abs.1 Satz 3, 116 Satz 2. Auch Andeutungen, die Rückschlüsse auf die vertraulichen Informationen zulassen, sind zu unterlassen. 2. Welche strafrechtlichen, aktienrechtlichen, privatrechtlichen und haftungsrechtlichen Konsequenzen folgen aus Verstößen gegen diese Regeln - sowohl für die jeweilige Person als auch für das Unternehmen selbst? Die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht ist eine Straftat (§ 404 AktG). Eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht begründet eine Schadensersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft (§§ 116, 93 Abs. 2 AktG). Dies bedeutet, dass das Unternehmen das Aufsichtsratsmitglied in voller Höhe für den Schaden in Anspruch nehmen kann, der dem Unternehmen durch Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/8726 2 die Pflichtverletzung entstanden ist, d. h., das Unternehmen hält sich beim Aufsichtsratsmitglied schadlos. Zudem kann ein Mitglied des Aufsichtsrats, welches eine Pflichtverletzung begeht, aus dem Gremium abberufen werden (§ 103 AktG). 3. Sind bei der öffentlichen Äußerung von Interna durch einen Aufsichtsrat jeweils unmittelbare oder mittelbare Konsequenzen für das Land Niedersachsen als den betreffenden Aufsichtsrat entsendenden Anteilseigner der Volkswagen AG zu erwarten und, wenn ja, welche? Die satzungsgebende Hauptversammlung hat das Land Niedersachsen ermächtigt, zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat der Volkswagen AG zu entsenden, solange diesem unmittelbar oder mittelbar mindestens 15,0 % der Stammaktien der Gesellschaft gehören (§ 11 Abs. 1 Satz 2 Satzung Volkswagen AG). Aktuell hält das Land 20,0 % der Stammaktien. Die Entsendemandate werden von Herrn Ministerpräsidenten Weil und Herrn Minister Lies wahrgenommen. Wie bereits in der Antwort zu Frage 1 ausgeführt, sind Aufsichtsratsmitglieder insbesondere zur Verschwiegenheit über vertrauliche Berichte und Beratungen verpflichtet. Verstöße gegen die Verschwiegenheit können eine Schadensersatzpflicht auslösen, siehe Antwort zu Frage 2. Die Aktiengesellschaft ist als juristische Person aufgrund ihrer Rechtsfähigkeit Träger von Rechten und Pflichten. Die Handlungen der Organe - und damit auch die Handlungen einzelner Mitglieder - werden im Rahmen der Organhaftung der Aktiengesellschaft selbst zugerechnet. Die Gesellschaft haftet den Gläubigern gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 AktG nur mit dem Gesellschaftsvermögen, nicht dagegen haften - auch nicht subsidiär - die Aktionäre. Unmittelbare rechtliche oder finanzielle Konsequenzen sind somit aus der gesellschaftsrechtlichen Konstellation für das Land als Anteilseigner durch eine Pflichtverletzung eines von diesem entsandten Aufsichtsratsmitglieds nicht zu erwarten. Mittelbar wird sich jedoch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Beteiligung zumindest ein Image-Schaden für das Land als entsendende Stelle ableiten lassen. 4. Wäre die öffentliche Äußerung eines Aufsichtsratsmitgliedes über Interna mit den Anforderungen an Aufsichtsräte nach dem Deutschen Corporate Governance Kodex und nach der Business Judgement Rule vereinbar? Nein. Insbesondere gilt das Haftungsprivileg, welches sich aus der sogenannten Business Judgement Rule ergibt, nicht für Pflichtverletzungen wie den Verstoß gegen die Verschwiegenheitsverpflichtung gemäß §§ 116, 93 AktG. 5. Wie schätzt die Landesregierung die Auswirkungen der öffentlichen Preisgabe von Interna durch einen seitens des Landes in den Aufsichtsrat der Volkswagen AG entsandten Aufsichtsrat auf den Investitionsstandort Niedersachsen ein? Eine Aufsichtsratstätigkeit erfordert im Hinblick auf die Überwachungsaufgaben zum einen eine kritische Distanz zum Vorstand, gleichzeitig ist sie jedoch in hohem Maße von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht nur mit den anderen Aufsichtsratsmitgliedern, sondern auch mit dem Vorstand des Unternehmens geprägt. Eine Preisgabe vertraulicher Informationen an die Öffentlichkeit könnte dieses Vertrauensverhältnis nachhaltig beeinträchtigen und eine effektive Aufsichtsratstätigkeit anschließend erheblich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Eine Preisgabe von unternehmensinternen Informationen durch ein vom Land Niedersachsen in den Aufsichtsrat des Volkswagenkonzerns entsandtes Mitglied würde zudem dessen Glaubwürdigkeit schwächen und insgesamt das Vertrauen der Wirtschaft in die Landesregierung belasten. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/8726 3 Weitere Auswirkungen wären abhängig vom Einzelfall direkt bei VW denkbar bis hin zu Kursverlusten und der Gefährdung von Arbeitsplätzen. 6. Ist es bereits vorgekommen, dass ein Mitglied des VW-Aufsichtsrates Interna öffentlich gemacht hat, und welche Konsequenzen hat dies im konkreten Fall? Der Landesregierung ist kein solcher Fall bekannt. Insbesondere haben sich die Aufsichtsratsmitglieder , welche von dieser Landesregierung in den Aufsichtsrat der Volkswagen AG entsandt worden , stets an die für Aufsichtsräte geltenden Regeln gehalten. 7. Welche besondere Situation lag im Herbst 2015 bei Volkswagen vor, die eine besonders besonnene Kommunikation des Ministerpräsidenten aus Sicht der Landesregierung erforderlich machte? Im September 2015 hatten das US-amerikanische California Air Resources Board (CARB) und der United States Environmental Protection Agency (EPA) Ergebnisse von Straßentests zur Emissionsabweichung gegenüber Prüfstandläufen von VW-Fahrzeugen mit Dieselmotoren des Typs EA 189 veröffentlicht. Volkswagen hatte gegenüber CARB und EPA eingeräumt, Fahrzeuge mit einem „Defeat Device“ ausgerüstet zu haben, um die Abgastests zu manipulieren bzw. zu umgehen. Die darauf folgenden Monate waren eine höchst kritische Zeit für das Unternehmen Volkswagen. Während der laufenden Untersuchungen und der Aufarbeitung der Vorgänge wären unbedachte öffentliche Äußerungen als Gefahr für das Unternehmensinteresse an einer gütlichen Einigung im Hinblick auf die Folgen von Dieselgate anzusehen gewesen. Insbesondere im Hinblick auf mögliche Auswirkungen auf rechtliche und finanzielle Belange des Volkswagenkonzerns war eine besonnene Kommunikation von Ministerpräsident Weil in dieser Phase unabdingbar. 8. Welche Folgen - national wie international - hätten eintreten können, wenn der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen zu Beginn der Dieselgate-Affäre im Herbst 2015 unbedacht kommuniziert und Interna öffentlich preisgegeben hätte? Dies hätte zu einer potenziellen Erhöhung der Rechtsrisiken in den USA führen und die dort drohenden Strafzahlungen erhöhen können. Im Übrigen wird auf die Antworten zu den Fragen 5 und 7 verwiesen. 9. Ist es für die Landesregierung vorstellbar, dass eine Person im Sinne des Wohles des Landes Niedersachsen und im Sinne des Wohles der Volkswagen AG in den Aufsichtsrat derselben entsandt wird, die bereits zuvor angekündigt hat, die Pflichten eines Aufsichtsrates nicht einhalten zu wollen? Nein. Nach dem Deutschen Corporate Governance Kodex ist jedes Mitglied des Aufsichtsrats dem Unternehmensinteresse verpflichtet und hat Interessenkonflikte offenzulegen. Ist ein Aufsichtsratsmitglied im Einzelfall nicht in der Lage, diesen Vorrang zu respektieren, bleibt ihm nur die Möglichkeit , im äußersten Fall sein Amt niederzulegen. Auch in einem solchen Kollisionsfall ist das Aufsichtsratsmitglied nicht berechtigt, seine strafrechtlich sanktionierte Verschwiegenheitspflicht zu verletzen. Kündigt eine Person bereits im Vorfeld an, die Pflichten eines Aufsichtsratsmitglieds nicht einhalten zu wollen, verbietet sich mit Rücksicht auf das Unternehmenswohl deren Entsendung in den Aufsichtsrat. 10. Ist es für die Landesregierung akzeptabel, dass ehemalige Minister und Kandidaten für höchste Staatsämter öffentlich einen Verstoß gegen das Aktienrecht ankündigen? Nein. Dies widerspricht fundamental dem Wohl des Landes Niedersachsen und dem Wohl des Unternehmens . Nach Artikel 31 der Niedersächsischen Verfassung haben sich die Mitglieder der Lan- Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/8726 4 desregierung bei der Amtsübernahme vor dem Landtag zu den Grundsätzen eines freiheitlichen, republikanischen, demokratischen, sozialen und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteten Rechtsstaates zu bekennen und in ihrem Eid u. a. zu schwören, dass sie die Gesetze wahren und verteidigen werden. Damit wäre eine Ankündigung, gegen das Aktiengesetz verstoßen zu wollen, nicht vereinbar. (Ausgegeben am 18.09.2017) Drucksache 17/8726 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/8590 Ist „Verletzung des Aktienrechts“ durch ein Mitglied des VW-Aufsichtsrates ein Kavaliersde-likt? Anfrage des Abgeordneten Grant Hendrik Tonne (SPD) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr