Niedersächsischer Landtag − 17. Wahlperiode Drucksache 17/8770 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/8646 - Muss der Einsatz von Wärmedämmverbundsystemen nach dem Brand von London neu bewertet werden? Anfrage des Abgeordneten Martin Bäumer (CDU) an die Landesregierung, eingegangen am 22.08.2017, an die Staatskanzlei übersandt am 25.08.2017 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung namens der Landesregierung vom 21.09.2017, gezeichnet Cornelia Rundt Vorbemerkung des Abgeordneten Der Hochhausbrand von London im Grenfell-Tower am 14.06.2017 hat die Diskussion um die Verwendung von Wärmedämmverbundsystemen auf der Basis von Styropor neu entfacht (NDR-online vom 15.06.2017). Bundesbauministerin Barbara Hendricks habe die zuständigen Bauminister der Länder aufgefordert, sie sollten kurzfristig erheben, wo in Deutschland Risikobauten stehen könnten . Nach einem Artikel in der WirtschaftsWoche vom 07.07.2017 „sucht die Politik nach dem Hochhausbrand in London aber an der falschen Stelle nach Gefahrenquellen.“ Auch in Bauten unter 22 m Höhe sei der Baustoff Polystyrol seit Jahren in riesigen Mengen verbaut worden. Dazu sagt der Leiter der Berufsfeuerwehr Dortmund, Dirk Aschenbrenner: „Bei der Masse der mit brennbaren Stoffen gedämmten Bauten unterhalb der Hochhausgrenze tickt die wirkliche Zeitbombe.“ Am 17.05.2016 waren in Duisburg bei einem Feuer in einem mit Dämmstoffplatten verkleideten Haus drei Menschen gestorben. Nach Einschätzung von Experten hat es seit dem Jahr 2005 in Deutschland 99 Brandfälle in Verbindung mit Wärmedämmverbundsystemen gegeben, bei denen 124 Menschen verletzt und elf Menschen getötet wurden. Unter Bezugnahme auf die Urteile des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 29.01.2016, Az. StGH 1, 2 und 3/15, Rn. 46, und vom 22.08.2012, Az. StGH 1/12, Rn. 54-56, weise ich darauf hin, dass ich ein hohes Interesse an einer vollständigen Beantwortung meiner Fragen habe, die das Wissen und den Kenntnis-/Informationsstand der Ministerien, der ihnen nachgeordneten Landesbehörden und, soweit die Einzelfrage dazu Anlass gibt, der Behörden der mittelbaren Staatsverwaltung aus Akten und nicht aktenförmigen Quellen vollständig wiedergibt. Vorbemerkung der Landesregierung Nach § 28 Abs. 2 der Niedersächsischen Bauordnung (NBauO) müssen Außenwände und Außenwandteile so ausgebildet sein, dass eine Brandausbreitung auf und in diesen Bauteilen ausreichend lang begrenzt ist. Diese Forderung wird in § 6 der Allgemeinen Durchführungsverordnung zur Niedersächsischen Bauordnung (DVO-NBauO) hinsichtlich der Dämmstoffe dahin gehend konkretisiert , dass diese bei Gebäuden ab einer Höhe der Fußbodenoberkante des höchstgelegenen Aufenthaltsraumes über der Geländeoberfläche von mehr als 7 m (Gebäudeklassen 4 und 5 im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 4 und 5 NBauO) zwar brennbar sein dürfen, aber schwer entflammbar im Sinne der einschlägigen Prüfnormen sein müssen. Bei niedrigeren Gebäuden (Gebäudeklassen 1 bis 3 im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 NBauO; z. B. Ein- und Zweifamilienhäuser ) müssen Dämmstoffe, die nicht mindestens normal entflammbar im Sinne der Prüfnormen sind, durch die Art der Verarbeitung oder des Einbaus ausreichend gegen Entflammen geschützt sein. Bei Gebäuden, deren Höhe der Fußbodenoberkante des höchstgelegenen Aufent- Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/8770 2 haltsraumes mehr als 22 m beträgt (sogenannte Hochhäuser), handelt es sich bauordnungsrechtlich um Sonderbauten, an die nach § 51 NBauO als besondere Anforderung von den unteren Bauaufsichtsbehörden im Baugenehmigungsverfahren u. a. vorgeschrieben wird, dass die Außenwände einschließlich der Dämmstoffe und Bekleidungen aus nichtbrennbaren Baustoffen bestehen müssen. Besondere Anforderungen an Außenwände, die über diejenigen nach § 6 DVO-NBauO hinausgehen, werden auch für Verkaufsstätten und Versammlungsstätten aufgrund von Rechtsverordnungen oder für weitere Sonderbauten einzelfallbezogen von den unteren Bauaufsichtsbehörden gestellt. Diese Rechtslage entspricht im Wesentlichen den Regelungen der Musterbauordnung und der Landesbauordnungen der anderen Bundesländer. 1. Ist die Landesregierung der Aufforderung der Bundesministerin Hendricks bereits nachgekommen, und wie sind die Ergebnisse der Erhebung? Bundesministerin Hendricks hat mit Schreiben vom 05.07.2017 an den Vorsitzenden der Bauministerkonferenz der Länder ein gemeinsames und abgestimmtes Vorgehen zur Bewertung und Beseitigung möglicherweise vorhandener Mängel an Hochhäusern als erforderlich erachtet. Da zu diesem Zeitpunkt aus Anlass des Hochhausbrandes in London bereits Bauaufsichtsbehörden in Deutschland mit Erhebungen an Gebäuden begonnen hatten, hat Ministerin Hendricks den Vorsitzenden der Bauministerkonferenz in dem Schreiben gebeten, über diese Erhebungen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse kontinuierlich und zeitnah informiert zu werden. Mit Schreiben vom 07.07.2017 an den Vorsitzenden der Bauministerkonferenz hat Frau Ministerin Rundt im Sinne eines unter den für das Bauordnungsrecht zuständigen Ländern abgestimmten Vorgehens vorgeschlagen, die Projektgruppe Brandschutz als Fachgremium der Bauministerkonferenz zu beauftragen, alsbald über erforderliche bauaufsichtliche Konsequenzen aus dem Hochhausbrand in London zu beraten. Diesem Vorschlag ist der Vorsitzende der Bauministerkonferenz gefolgt verbunden mit dem Auftrag an den Ausschuss für Stadtentwicklung, Bau- und Wohnungswesen , auf der nächsten Bauministerkonferenz im November 2017 über den Sachstand zu berichten . Mit Erlass vom 28.07.2017 hat das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung die unteren Bauaufsichtsbehörden in Niedersachsen aufgefordert, die Beschaffenheit der Fassadenkonstruktion von Hochhäusern hinsichtlich ihrer Brennbarkeit kurzfristig zu ermitteln, soweit sie den Behörden nicht schon bekannt ist. Nach dem Erlass haben die Bauaufsichtsbehörden im Falle vorhandener brennbarer Fassadenkonstruktionen entsprechende bauaufsichtliche Maßnahmen zu prüfen. Die Bauaufsichtsbehörden müssen dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung bis Ende Oktober dieses Jahres zu ihren Ermittlungsergebnissen und etwaigen erforderlichen bauaufsichtlichen Konsequenzen berichten. Obwohl diese Berichtsfrist noch nicht abgelaufen ist, haben bis zum 05.09.2017 bereits folgende untere Bauaufsichtsbehörden berichtet: die Region Hannover, die Landkreise Ammerland, Celle, Diepholz, Emsland, Grafschaft Bentheim, Hameln- Pyrmont, Helmstedt, Holzminden, Lüchow-Dannenberg, Lüneburg, Nienburg (Weser), Northeim, Peine, Rotenburg (Wümme), Verden und Wittmund sowie die Städte Alfeld, Barsinghausen, Bückeburg, Celle, Diepholz, Duderstadt, Emden, Hameln, Meppen, Stadthagen und Wolfenbüttel. Danach existieren im Gebiet dieser Bauaufsichtsbehörden insgesamt zwölf Hochhäuser, bei denen allerdings weitere bauaufsichtliche Maßnahmen nicht erforderlich sind. 2. Wie viele Häuser sind in Niedersachsen insgesamt mit Wärmedämmverbundsystemen ausgerüstet worden? Die erfragte Anzahl ist der Landesregierung nicht bekannt. Entsprechende Daten sind weder im Erhebungsprogramm der Bautätigkeit des Landesamtes für Statistik enthalten noch waren sie Gegenstand der Gebäude- und Wohnungszählung im Rahmen des Zensus 2011. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/8770 3 Auch die unteren Bauaufsichtsbehörden verfügen nicht über entsprechendes Zahlenmaterial. Zum einen ist nach Nummer 13.4 des Anhangs zu § 60 Abs. 1 NBauO außer bei Hochhäusern das Anbringen von Außenwandbekleidungen, zu denen auch Maßnahmen der Wärmedämmung gehören, nicht baugenehmigungsbedürftig. Daher wird das Anbringen von Wärmedämmverbundsystemen von den unteren Bauaufsichtsbehörden im Allgemeinen nicht in den Bauakten erfasst. Zum anderen haben die Bauaufsichtsbehörden weder nach dem öffentlichen Baurecht noch nach dem Statistikrecht die Aufgabe, Fälle des Anbringens von Wärmedämmverbundsystemen zu erheben. 3. Wie schätzt die Landesregierung das Risiko von Bränden in und an diesen Gebäuden ein? 6. Welche Konsequenzen zieht die Landesregierung aus der Studie „Brandereignisse in Verbindung mit Wärmedämm-Verbundsystemen“, die von den Berufsfeuerwehren und dem Deutschen Feuerwehrverband erstellt wurde? Die Fragen 3 und 6 werden wegen des Sachzusammenhangs zusammen beantwortet. Eine Reihe von Brandereignissen an Wärmedämmverbundsystemen mit Polystyroldämmstoffen in verschiedenen Bundesländern hat in den Medien und der Fachöffentlichkeit die Frage nach der ausreichenden Brandsicherheit von Bauarten für die Wärmedämmung, insbesondere gegen Brände von außen und während der Bauphase, aufgeworfen. Die Bauministerkonferenz hat sich deshalb bereits in ihrer Sitzung am 20./21.09.2012 mit dieser Problematik befasst. Sie hat mit der Zustimmung Niedersachsens bestätigt, dass entsprechend den allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen des Deutschen Instituts für Bautechnik (DIBt) hergestellte Wärmedämmverbundsysteme mit Polystyrol-Dämmstoffen sicher sind, aber auch beschlossen, die bekanntgewordenen Brandfälle unter Berücksichtigung der besonderen Umstände und Gefahren im Bauzustand daraufhin untersuchen zu lassen, ob ein bauordnungsrechtlicher Handlungsbedarf besteht. In der Folge wurde ein Forschungsvorhaben unter Beteiligung von Vertretern der Feuerwehren initiiert, um eine weitere Verbesserung der Widerstandsfähigkeit dieser Fassadensysteme auch unter Brandeinwirkungen von außen zu prüfen. Als Ergebnis wurden im Rahmen von allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen für Neubauten und Modernisierungen modifizierte technische Regelungen für als schwer entflammbar einzustufende Fassadensysteme mit Polystyroldämmplatten vorgesehen. Für Bestandsbauten mit Fassadensystemen aus Polystyrol wurden den Eigentümerinnen und Eigentümern und anderen Verfügungsberechtigten in einem Merkblatt der Bauministerkonferenz - Stand 18.06.2015 - Maßnahmen zu einer Erhöhung der Sicherheit empfohlen, die diese eigenverantwortlich umsetzen können und die auf der Internetseite des DIBt veröffentlicht sind (https://www.dibt.de/ de/Fachbereiche/data/Merkblatt_Sicherstellung_der_Schutzwirkung_von_EPS-WDVS_18062015. pdf). Dieses Merkblatt ist seitens der Fachgremien der Bauministerkonferenz mit der Zustimmung Niedersachsens am 07./08.05.2015 von der Fachkommission Bauaufsicht und am 10./11.06.2015 von der Fachkommission Bautechnik beschlossen sowie am 18./19.06.2015 vom Ausschuss für Stadtentwicklung, Bau- und Wohnungswesen zur Kenntnis genommen worden. Darin werden regelmäßige Kontrollen auf Beschädigungen der Fassade, eine Vermeidung von Brandlasten wie Brennholz direkt an der Fassade und eine nichtbrennbare Einhausung von direkt an der Fassade stehenden Müllcontainern aus Kunststoff empfohlen sowie Hinweise für den Brandschutz während der Bauphase bei nachträglichem Aufbringen von Wärmedämmverbundsystemen aus Polystyrol gegeben. Aufgrund auch nach dem Erscheinen des Merkblatts der Bauministerkonferenz noch aufgetretener Brandereignisse bei Wärmedämmverbundsystemen aus Polystyrol und wegen der von Feuerwehrseite erhobenen Bedenken gegen die derzeit nach dem Bauordnungsrecht der Länder zugelassenen derartigen Systeme hält es die Landesregierung für erforderlich, dass sich die Fachgremien der Bauministerkonferenz erneut mit der Problematik befassen. Entsprechende Schritte sind bereits eingeleitet. Im Hinblick auf die von den Ländern gerade im Brandschutz verfolgte und auch seitens des Bundes für erforderlich erachtete Harmonisierung des Bauordnungsrechts der Länder hält es die Landesregierung für geboten, vor weiteren landesrechtlichen Schritten die Beratungen der Gremien der Bauministerkonferenz abzuwarten. Niedersächsischer Landtag – 17. Wahlperiode Drucksache 17/8770 4 Die Forderungen der Feuerwehren und des Deutschen Feuerwehrverbandes finden nach Ansicht der Landesregierung damit hinreichend Berücksichtigung. 4. Sind die niedersächsischen Hauseigentümer über diese Risiken nach Einschätzung der Landesregierung genügend aufgeklärt? 5. Fühlt sich die Landesregierung für das Problem zuständig, und, falls ja, wie übt die Landesregierung diese Zuständigkeit aus? Die Fragen 4 und 5 werden wegen des Sachzusammenhangs zusammen beantwortet. Die Landesregierung hält die Information durch das in der Antwort zu den Fragen 3 und 6 genannte Merkblatt der Bauministerkonferenz, das sich an Eigentümerinnen und Eigentümer und andere Verfügungsberechtigte von Gebäuden mit Wärmedämmverbundsystemen aus Polystyrol unterhalb der Hochhausgrenze richtet (bei Hochhäusern sind Wärmedämmverbundsysteme mit Polystyrol grundsätzlich nicht zulässig), nach dem derzeitigen Erkenntnisstand für ausreichend. Dort werden die zur Sicherstellung der Schutzwirkung derartiger Fassaden im Fall einer Brandeinwirkung von innen oder außen erforderlichen Maßnahmen genannt. Es ist allerdings Sache der Gebäudeeigentümerinnen und Gebäudeeigentümer oder der anderen Verfügungsberechtigten, im Rahmen ihrer Eigenverantwortung nach § 56 NBauO die in dem Merkblatt veröffentlichten Empfehlungen und Hinweise zu berücksichtigen. 7. Welchen Schriftverkehr hat es nach dem Hochhausbrand in London mit den unteren Baubehörden gegeben? Davon ausgehend, dass nur nach dem Schriftverkehr mit den unteren Bauaufsichtsbehörden im Zusammenhang mit dem Hochhausbrand gefragt wird, ist der in der Antwort zu Frage 1 genannte Erlass des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vom 28.07.2017 zu nennen. 8. Warum ist Styropor in der Wärmedämmung in Deutschland erlaubt, obwohl es in Dänemark baurechtlich verboten ist? Ein Wärmedämmverbundsystem aus Polystyrol (bei Styropor handelt es sich um Polystyrol) ist entweder als normalentflammbar oder bei Einhaltung bestimmter konstruktiver Randbedingungen, insbesondere im Zusammenwirken mit Brandriegeln aus mineralischen Baustoffen, als schwer entflammbar einzustufen. Wie in der Vorbemerkung dargestellt, erfordert das Sicherheitskonzept der NBauO in Verbindung mit der DVO-NBauO wie auch das der Musterbauordnung bei Gebäuden, die keine Sonderbauten sind, grundsätzlich nicht die Verwendung nicht brennbarer Wärmedämmstoffe für Außenwände. Bei Gebäuden der Gebäudeklassen 1 bis 3 sind nicht einmal schwer entflammbare Baustoffe vorgeschrieben, weshalb dort z. B. auch Holz als Fassadenbaustoff verwendet werden darf. Nach Auffassung der Landesregierung ist nach dem derzeitigen Erkenntnisstand an diesem Sicherheitskonzept festzuhalten und ein generelles Verbot der Verwendung von Polystyrol als Wärmedämmstoff bei Gebäuden bauordnungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Die Bauvorschriften in Dänemark hinsichtlich der Verwendung von Polystyrol als Wärmedämmung von Gebäuden, der Zusammenhang mit den sonstigen dortigen Brandschutzvorschriften sowie die Gründe für die Vorschriften sind der Landesregierung nicht bekannt, sodass sie diese Vorschriften nicht bewerten kann. (Ausgegeben am 26.09.2017) Drucksache 17/8770 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung - Drucksache 17/8646 Muss der Einsatz von Wärmedämmverbundsystemen nach dem Brand von London neu bewertet werden? Anfrage des Abgeordneten Martin Bäumer (CDU)