Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/1274 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Martin Bäumer, Helmut Dammann-Tamke, Uwe Dorendorf, Christoph Eilers, Anette Meyer zu Strohen, Dr. Marco Mohrmann und Dr. Frank Schmädeke (CDU) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz namens der Landesregierung Einst fast ausgerottet, heute in Scharen - Wie ist die aktuelle Lage der Gänsepopulation zu beurteilen? Anfrage der Abgeordneten Martin Bäumer, Helmut Dammann-Tamke, Uwe Dorendorf, Christoph Eilers, Anette Meyer zu Strohen, Dr. Marco Mohrmann und Dr. Frank Schmädeke (CDU), eingegangen am 24.05.2018 - Drs. 18/958 an die Staatskanzlei übersandt am 24.05.2018 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz namens der Landesregierung vom 16.07.2018, gezeichnet In Vertretung Frank Doods Vorbemerkung der Abgeordneten Laut dem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 16.05.2018 „Zeit der Gänse“ finden Wildgänse in Deutschland ein reichhaltiges Nahrungsangebot, welches sie während ihrer Rast ausreichend in Anspruch nehmen können. Folglich sind Wildgänse auch immer häufiger im Landesinneren auf Grün- und Ackerland anzutreffen und verursachen dort zunehmend Fraßschäden. Infolge der sich stetig verbessernden Rastbedingungen durch z. B. Vogelschutzgebiete und des reichlichen Nahrungsangebots ist die Anzahl rastender Wildgänse vor allem in den Küstenregionen signifikant gestiegen. Dies wird von Herrn Jasper Madsen, Gänseforscher der Universität Aarhus in Dänemark, im Artikel der Süddeutschen Zeitung wie folgt bekräftigt: „Aber allgemein nehmen die Bestände von Gänsen exponentiell zu, und bei den meisten gibt es kein Anzeichen dafür, dass sie aufhören zu wachsen. Im Gegenteil.“ Vorbemerkung der Landesregierung Niedersachsen besitzt für zahlreiche hier überwinternde nordische Gänsearten eine internationale Verantwortung und damit einhergehend auch entsprechende Schutzverpflichtungen. Um letzteren gerecht zu werden, hat Niedersachsen insgesamt 16 EU-Vogelschutzgebiete mit einer Fläche von ca. 125 000 ha (hier: ohne EU-Vogelschutzgebiet Niedersächsisches Wattenmeer) gemeldet, in denen es signifikante Vorkommen von Gänsearten gibt. Es ist unbestritten, dass große Gänseansammlungen erhebliche Fraßschäden auf landwirtschaftlichen Nutzflächen verursachen können. Aus diesem Grund bietet das Land Niedersachsen mit Unterstützung der EU in den Hauptgebieten der Gänserast Agrarumweltmaßnahmen an. Diese verfolgen das naturschutzfachliche Ziel, ruhige, störungsarme Äsungsflächen für die überwinternden Gänse zur Verfügung zu stellen. Landwirte, die sich an den Agrarumweltmaßnahmen für nordische Gastvögel beteiligen, erhalten für eintretende Biomasseverluste und den entstehenden Mehraufwand in der Flächenbearbeitung einen finanziellen Ausgleich. Derzeit werden landesweit ca. 25 000 ha Acker- und Grünlandflächen mit Agrarumweltmaßnahmen für nordische Gänse bewirt- Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/1274 2 schaftet. Dafür wendet das Land Niedersachsen mit Unterstützung der Europäischen Union (EU) einen Finanzbetrag von ca. 7,0 Millionen Euro pro Jahr auf. Darüber hinaus haben das Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz und das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf der Basis der Landtagsentschließung 17/2223 einen Arbeitskreis Gänsemanagement eingerichtet, dem sowohl Landwirtschafts-, Jagd- und Naturschutzverbände als auch wissenschaftliche Institute angehören. Dieser Arbeitskreis wird entsprechend der Entschließung Vorschläge für ein landesweites Gänsemanagementkonzept erarbeiten. Derzeit werden durch ein erweitertes Gänsemonitoring und die Umsetzung eines Forschungsprojektes zur Auswirkung der Jagd auf Gänse und Gänsefraßschäden die Grundlagen für ein solches Managementkonzept erarbeitet. Die Ergebnisse des Monitorings und des Forschungsprojektes liegen voraussichtlich Ende 2018 oder Anfang 2019 vor. 1. Wie haben sich die Bestände der folgenden Gänsearten in der Bundesrepublik Deutschland und Europa seit 1970 entwickelt? a) Graugans, b) Saatgans, c) Blässgans, d) Nonnengans, e) Ringelgans, f) Kanadagans, g) Nilgans. Bei der Beantwortung der Frage ist zwischen Brut- und Rastbeständen zu differenzieren: Rastbestände: Nordische Gänse, deren Brutgebiete in Skandinavien, den baltischen Staaten, Russland und der arktischen Region liegen, rasten in Niedersachsen im Herbst, Winter und Frühjahr in unterschiedlicher Zahl, unterschiedlichen Regionen und zu artspezifischen Zeiträumen. Es dominieren Nonnengänse und Blässgänse, die auf sichere Schlafplätze im Wattenmeer und an großen Gewässern und Flüssen angewiesen sind und von dort auf weiträumige Flächen mit geeigneter Nahrung ausfliegen. Die meisten arktischen Gänse (Bläss-, Nonnen-, Kurzschnabel-, Ringel- und Zwerggans) sind Arten mit einer hohen Grünland- (bzw. Salzwiesen-)Präferenz. Landesweit zeigen die meisten nordischen Gänsearten derzeit eine stabile bis zunehmende Bestandsentwicklung . Dabei muss allerdings auch erwähnt werden, dass alle Gänsearten in den 1950/1960er-Jahren bedingt durch Lebensraumveränderungen und Verfolgung/Bejagung auf einem historischen Bestandstief angekommen waren. Von der Nonnengans gab es beispielsweise nur noch etwa 20 000 Individuen weltweit. Für die anderen Arten sah es kaum besser aus. Internationaler Schutz sowie die Ausweisung von Schutzgebieten auf der Basis internationaler Abkommen (z. B. Ramsar-Konvention 1974, Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten [jetzt: Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten]) haben danach eine Bestandserholung bewirkt. Starke Zunahmen in den letzten 25 Jahren verzeichnen Nonnen- und Blässgänse, aber auch Graugänse. Dabei treten aus verschiedenen Gründen jährliche Schwankungen in der Größe von Rastbeständen auf. So reagieren Rastvögel insbesondere auf bestimmte Witterungsereignisse, wie z. B. länger anhaltende Winter oder einen wärmeren Herbst, und passen dadurch ihr Zug- und Rastverhalten zeitnah an. Auch anthropogene Veränderungen in der Landschaft wirken sich auf die Aufenthalte rastender Gänse in den Gebieten und somit auf die Ergebnisse von Zählungen aus. Zudem kann die stets unterschiedliche Nahrungsverfügbarkeit auf den Flächen dazu führen, dass sich die Vögel innerhalb größerer Räume unterschiedlich verteilen. Die artspezifische Entwicklung der Rastbestände ist der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen. Der langjährige Trend für Deutschland (25 Jahre) bezieht sich auf Trendzeiträume zwischen 1980/1981 Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/1274 3 und 2011/2012. Belastbare Daten aus der Zeit vor 1980 liegen nicht publiziert vor. Der internationale Trend basiert auf Zahlen oder Schätzungen aus Waterbirds Population Estimates1. Weitere Zahlen und Trendangaben liegen darüber hinaus für den Bereich des Wattenmeeres vor 2.Für einzelne Arten gibt es ferner gesonderte Berechnungen (z. B. Jongejans et al. 2015 für die Blässgans3). Tabelle: Bestandsentwicklung überwinternder Gänsearten in Deutschland (Gesamttrend über 25 Jahre bzw. 12 Jahre) und international (für „Europa“)4, ergänzt um einen internationalen Zehn-Jahre-Trend von 1993 bis 2013 (Kruckenberg, schriftl. Mitt. v. 08.06.2018). Legende: - - - = starke Abnahme (>3 % p. a.), - - = moderate Abnahme (>1 bis 3 % p. a.), - = leichte Abnahme (<1 % p. a.), + / - = fluktuierend, 0 = stabil, + = leichte Zunahme (<1 % p. a.), + + = moderate Zunahme (>1 bis 3 % p. a.), + + + = starke Zunahme (>3 % p. a.). Angaben in Klammern beruhen auf Experteneinschätzung, nicht auf mittlerer jährlicher Änderung Art Trend Deutschland (25 J.) Trend Deutschland (12 J.) Trend international (10 J.) Trend international (>10 J, 1993 bis 2013) 5 Graugans + + + + + + + ++ Tundrasaatgans + + 0 + + Waldsaatgans (- -) (- - -) - - -- Kurzschnabelgans nicht betroffen nicht betroffen + + Blässgans + + 0 0 ++ Nonnengans + + + + + + ++ Ringelgans a) ssp. bernicla b) ssp. hrota - - (+ / -) 0 (+ / -) - - + 0 + Zwerggans unbekannt unbekannt - - - - Kanadagans k. A. k. A. k. A. k. A. Nilgans k. A. k. A. k. A. k. A. Insgesamt zeigen sich deutliche artspezifische Unterschiede in der Bestandsentwicklung rastender nordischer Gänse. Viele Arten haben sich im Langzeittrend deutlich vermehrt. Bei etlichen dieser Arten ist diese Entwicklung inzwischen zum Stillstand gekommen oder hat sich deutlich verlangsamt (z. B. Blässgans, Tundrasaatgans). Für die Ringelgans hat sich Mitte der 1990er-Jahre gezeigt , dass eine Gänsepopulation ganz ohne jagdliches Zutun eine obere Bestandsgrenze erreichen und danach gegebenenfalls sogar wieder sinkende Populationszahlen aufweisen kann, wenn entsprechende „Flaschenhals-Faktoren“ (z. B. innerartliche Konkurrenz, Mangel an geeigneten Brutplätzen, die Ausbreitung von Krankheiten) für die Art erreicht werden. Nur wenige nordische Gänsearten, wie beispielsweise die Nonnengans, wachsen derzeit weiter im Rastbestand an. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass es durchaus auch nordische Gänsearten gibt, die im Bestand abnehmen . Dazu gehört u. a. die Waldsaatgans, deren Rastbestände ganz erheblich eingebrochen sind. Zur Kanadagans und Nilgans liegen keine Angaben zu Rastbeständen und deren Entwicklung in Deutschland und Europa vor. 1 Wetlands International (2012): Waterbird Population Estimates 5. http://wpe.wetlands.org 2 Blew, J. et al. (2016): Trends of Migratory and Wintering Waterbirds in the Wadden Sea 1987/1988 - 2013/2014. Wadden Sea Ecosystem No. 37. Common Wadden Sea Secretariat, Joint Monitoring Group of Migratory Birds in the Wadden Sea, Wilhelmshaven, Germany. http://www.waddensea-secretariat.org/ TMAP/Migratory_birds.html 3 Jongejans, E., B.A. Nolet, H. Schekkerman, K. Koffijberg & H. de Kroon (2015): Naar een effectief en internatrional veraantwoord beheer van de in Nederland overwinterende populatie Kolganzen (Anser albifrons). - Radboud Universiteit Nijmegen, SOVON Vogelonderzoek & Nederland Instituut voor Ecologie. 4 Sudfeldt, C. et al. (2013): Vögel in Deutschland - 2013. DDA, BfN, LAG VSW, Münster 5 Fox et al. (2018): A global audit of the status and trends of arctic and northern hemisphere goose populations . - CAFF Report, in print. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/1274 4 Brutvögel: In Niedersachsen kommen drei Gänsearten (auch) als regelmäßige Brutvögel vor. Ob diese im Winter nach Südwesten abziehen oder andere Zugmuster zeigen, ist derzeit unbekannt. Zur Brutbestandsentwicklung dieser Arten können folgende Angaben gemacht werden: Graugans: Die Graugans ist die einzige heimische Gänseart mit Brutvorkommen. Aufgrund von Lebensraumverlust und menschlicher Nachstellung starb die Art bereits im späten Mittelalter in Niedersachsen und Westeuropa aus. In Ostdeutschland sowie in Skandinavien blieb die Art allerdings erhalten. Ab den 1960er-Jahren und ab 1982 auch in Niedersachsen wurde die Art durch Wiederansiedlung in ausgewählten Gebieten als Brutvogel wieder heimisch6. Ausgehend von diesen Gebieten hat die Graugans heute ihr traditionelles Verbreitungsgebiet weitgehend wieder besiedelt. Entsprechend zeigte die Art einen positiven Bestandstrend über die vergangenen 35 Jahre. Kanadagans: Die Art ist in Deutschland eine etablierte gebietsfremde Brutvogelart, deren Bestand auf Aussetzungen, Gefangenschaftsflüchtlinge und verwilderte Parkvögel zurückzuführen ist. 2009 brüteten in Deutschland 3 600 bis 5 000 Brutpaare. Angaben zum europaweiten Brutbestand liegen nicht vor. Der lang- und kurzfristige Bestandstrend (1985 bis 2009) ist positiv. Der Brutbestand in Niedersachsen umfasst etwa 600 Paare (2014)7. Nilgans: Auch die Nilgans ist mittlerweile in Deutschland eine etablierte gebietsfremde Brutvogelart, deren Ursprung ebenfalls auf Aussetzungen und Gefangenschaftsflüchtlinge zurückgeht. Der bundesdeutsche Bestand wird auf 5 000 bis 7 500 Brutpaare geschätzt. Die Bestandsentwicklung verläuft sowohl langfristig als auch kurzfristig (1985 bis 2009) positiv. Der Brutbestand in Niedersachsen umfasst etwa 2 000 Paare (2014)9. 2. Welche Gänsearten könnten derzeit in Niedersachsen flächendeckend bejagt werden? In Niedersachsen dürfen zurzeit die Grau-, die Nil- und die Kanadagans vom 1. August bis zum 15. Januar flächendeckend bejagt werden. Hierbei gilt die Einschränkung, dass diese Arten in 16 EU-Vogelschutzgebieten, in denen eine oder mehrere Gänsearten wertbestimmend ist bzw. sind, eine eingeschränkte Jagdzeit vom 1. August bis zum 30. November besitzen. 3. Schließt die EU eine Bejagung in Vogelschutzgebieten aus? Die Vorschriften der EU (hier insbesondere die Richtlinie 2009/147/EG) schließen die Bejagung von Vogelarten grundsätzlich nicht aus. Es finden sich dort allerdings Einschränkungen der Jagd bezogen auf bestimmte Arten und bestimmte Zeiten. Artikel 7 Abs. 1 bis 3 erklärt die Arten des Anhangs II zu bejagbaren Arten. Die in Anhang II Teil A aufgeführten Arten dürfen unionsweit bejagt werden (Artikel 7 Abs. 2), die in Anhang II Teil B aufgeführten Arten dürfen nur in den angegebenen Mitgliedstaaten bejagt werden (Artikel 7 Abs. 3). Gemäß Artikel 7 Abs. 4 dürfen die Arten, die laut Artikel 7 Abs. 1 bis 3 zu bejagbaren Arten gehören , nicht während der Nistzeit oder während der einzelnen Phasen der Brut- und Aufzuchtzeit sowie während ihres Rückzugs zu den Nistplätzen bejagt werden. Arten des Anhang I der Richtlinie 2009/147/EG dürfen hingegen nicht bejagt werden (Artikel 4 Abs. 1). 6 Krüger, T., J. Ludwig, S. Pfützke & H. Zang (2014): Atlas der Brutvögel in Niedersachsen und Bremen 2005-2008. - Naturs. und Landschaftspfl. Niedersachsen 48. 7 Krüger, T. & M. Nipkow (2015): Rote Liste der in Niedersachsen und Bremen gefährdeten Brutvögel. Inform .d. Naturschutz Niedersachs. 35 Nr. 4: 181-260, Hannover. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/1274 5 4. Ist die Landesregierung der Auffassung, dass eine Einordnung der Nonnengans in den Anhang I der Richtlinie 2009/174/EG weiter gerechtfertigt ist? Wenn ja, warum? Die Richtlinie über die Erhaltung der wild lebenden Vogelarten (Richtlinie 79/409/EWG) wurde am 2. April 1979 vom Rat der Europäischen Gemeinschaft erlassen und 30 Jahre nach ihrem Inkrafttreten kodifiziert. Die kodifizierte Fassung (Richtlinie 2009/147/EG) ist am 15. Februar 2010 in Kraft getreten. Ziel dieser Richtlinie ist es, sämtliche im Gebiet der EU-Staaten natürlicherweise vorkommenden Vogelarten einschließlich der Zugvogelarten in ihrem Bestand dauerhaft zu erhalten und neben dem Schutz auch die Bewirtschaftung und die Nutzung der Vögel zu regeln. Gemäß Artikel 5 der Richtlinie ist es grundsätzlich verboten, wildlebende Vogelarten zu töten oder zu fangen. Nester und Eier dürfen nicht zerstört, beschädigt oder entfernt werden, auch die Vögel selbst dürfen, besonders während ihrer Brut- und Aufzuchtzeit, weder gestört noch beunruhigt werden . Zusätzliche Verpflichtungen ergeben sich für die in Anhang I aufgelisteten 193 Arten und Unterarten , von denen 114 regelmäßig in Deutschland vorkommen. Dazu gehört auch die Nonnengans . Für sie sind besondere Schutzgebiete zu schaffen (Europäische Vogelschutzgebiete). Ein ebensolcher Schutz muss auch für die Vermehrungs-, Mauser-, Rast- und Überwinterungsgebiete der nicht in Anhang I genannten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten gewährleistet werden. Besondere Regelungen trifft die Richtlinie für die Jagd, die auf 81 Arten zulässig ist (siehe Antwort zu Frage 3). In Artikel 15 der Richtlinie 2009/147/EG ist ein Verfahren zur Änderung (Novellierung) der Anhänge I und V als Anpassung an den „technischen und wissenschaftlichen Fortschritt“ vorgesehen. Diese Änderungen erfolgen erfahrungsgemäß nur in größeren Zeitabständen und bedürfen eines einstimmigen Beschlusses des Rats der Europäischen Union. In Bezug auf die Nonnengans, die sich zweifellos in einem guten Erhaltungszustand befindet, ist zunächst festzustellen, dass selbst bei einem einstimmigen Beschluss des Rates der Europäischen Union auf Streichung der Art aus dem Anhang I diese damit nicht automatisch in den Anhang II der bejagbaren Arten gelangt. Voraussetzung dafür wäre letztlich eine Richtlinienänderung durch die Europäische Kommission. Die Europäische Kommission hat wiederum von 2014 bis 2016 die beiden EU-Naturschutzrichtlinien (die Richtlinie 79/409/EWG von 1979 bzw. Richtlinie 2009/147/EG und die FFH-Richtlinie von 1992) hinsichtlich ihrer Wirksamkeit geprüft. Für die Überprüfung - auch Fitness Check genannt - waren die Evaluierungen im Rahmen der Berichtspflichten nach Artikel 17 FFH-Richtlinie und Artikel 12 Richtlinie 2009/147/EG sowie die Halbzeitbewertung der EU-Biodiversitätsstrategie eine wichtige Grundlage. Die Prüfung ergab, dass die Richtlinien bei einer vollständigen und sachgemäßen Umsetzung effektiv den Druck auf die biologische Vielfalt verringern, Rückgänge verlangsamen und im Laufe der Zeit auch zu Verbesserungen des Zustandes von Arten und Lebensräumen geführt haben. Die bisher getroffenen Maßnahmen genügen jedoch nicht, um die allgemeinen Ziele der Richtlinien und das EU-Ziel, den Verlust an biologischer Vielfalt zu stoppen, zu erreichen. Die EU-Kommission gab schließlich am 7. Dezember 2016 bekannt, dass die Naturschutzrichtlinien nicht geändert werden. Die Landesregierung hält die weitere Einordnung der Nonnengans in den Anhang I der Richtlinie 2009/147/EG aufgrund ihres guten Erhaltungszustandes für fachlich nicht gerechtfertigt. Die für Niedersachsen relevante russisch-baltische Population der Nonnengans wird derzeit auf 1,2 Millionen Vögel geschätzt. Sie hat darüber hinaus in den vergangenen Jahrzehnten ihre Brutverbreitung erheblich ausgedehnt. Niedersachsen vertritt diese Auffassung in einschlägigen Bund-Länder-Gremien und gegenüber der EU-Kommission. Darauf hinzuweisen ist, dass eine mögliche Streichung der Art aus dem Anhang I - wie oben erwähnt - in Bezug auf das Management der Art jedoch zu keinen fassbaren Veränderungen führen würde, da sie damit nicht automatisch bejagbar wird. Auch bei einer Streichung der Nonnengans aus dem Anhang I würde die Art im Übrigen weiterhin dem Regime des besonderen Artenschutzsrechts unterliegen (vgl. § 45 Abs. 7 BNatSchG). Eine durch Niedersachsen angestrebte Aufnahme in den Anhang II ist nur bei einer Überarbeitung der Richtlinie 2009/147/EU möglich. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/1274 6 5. Teilt die Landesregierung die Auffassung des Gänseforschers Herrn Madsen, dass davon auszugehen ist, dass die Bestände weiter exponentiell anwachsen werden? Die Populationsdynamik bei Vogel- und Säugetierarten zeichnet sich nicht durch ein rein exponentielles Wachstum aus. Die maximale Bestandsgröße einer Vogel- und Säugetierart ist limitiert und hängt letztlich von der Tragekapazität der Umwelt ab, auf die unterschiedliche Faktoren (z. B. Nahrungsangebot , Brut- und Aufzuchtmöglichkeiten, Prädatoren, intra- und interspezifische Konkurrenz ) Einfluss nehmen. Richtig ist, dass bei einer Bestandserholung (wie bei den Gänsen) nach einer anfänglichen Stagnationsphase ein exponentielles Wachstum auftreten kann, das bis zur Erreichung der o.g . Kapazitätsgrenze andauert, um dann in einen mehr oder weniger stabilen Verlauf überzugehen. Die positive Entwicklung der Rastbestände einiger arktischer Gänsearten hat unterschiedliche Gründe, die zum Teil auch artspezifisch sind. Grundlegend für die Bestandserholung war sicherlich die deutliche Einschränkung der Jagd bzw. der Entnahme von Individuen in den Brut- und Rastgebieten bis hin zum vollständigen Verbot der Jagd8. Darüber hinaus hat sich das Nahrungsangebot für nordische Gänse in den west- und mitteleuropäischen Rastgebieten durch die intensive Flächenbewirtschaftung in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass die Ernährungsbedingungen in den Überwinterungs- und Rastgebieten Einfluss auf den Bruterfolg nehmen. Allerdings ist keineswegs belegt, dass die Nahrungsverfügbarkeit im Winter der (einzige) bestandsbegrenzende Faktor für nordische Gänsepopulationen ist. Bereits heute zeigt sich am Beispiel der Nonnengans, dass auch andere Faktoren eine Rolle spielen können : Durch Ansiedlung und Bestandzunahme der Art auf Gotland und Öland können aus dem Wattenmeer kommende Nonnengänse diesen Ostseeraum nicht mehr so als Zwischenrastplatz nutzen wie sie es früher taten. Hinzu kommt ferner ein wachsender Einfluss von Prädatoren (hier: Seeadler ) in diesen Regionen. Dies hat dazu geführt, dass Nonnengänse in Norddeutschland und den Niederlanden länger verbleiben und teilweise nun erst im Mai abziehen. Nicht absehbar sind auch die Folgen des Klimawandels auf alle arktischen Zugvogelarten inklusive der dort brütenden Gänse. Hier bestehen gravierende Wissensdefizite (Kruckenberg schriftl. Mitt.). Die Klimaerwärmung stellt sich derzeit in der Arktis sechsmal stärker dar als in hiesigen Breiten9. Zwar nimmt vermutlich dadurch (zunächst) die verfügbare Nahrung und die Zahl der Brutplätze zu, doch treten bereits heute bis dato unbekannte Infektionen, Parasiten und Krankheiten in den arktischen Brutgebieten auf, die bisher aufgrund der niedrigen Temperaturen dort nicht vorkamen. Das filligrane Netz der aufeinander abgestimmten Zwischenrastgebiete (s. o.) kann sich ebenso verlieren wie die Synchronität zwischen Ankunft am Brutplatz und der für die Kükenaufzucht optimalen Vegetationsentwicklung zum Zeitpunkt des Schlupfes. Ob nordische Gänse in der Lage sind, sich den Veränderungen in der Arktis anzupassen, z. B. durch Anpassungen in der Organisation des Zuggeschehens, wird sich zeigen müssen10, 11. Die Klimaveränderungen werden sicherlich auch Auswirkungen auf das Rastgeschehen in den Überwinterungsgebieten haben. Schon heute deutet sich an, dass mildere Winter zu einer Ost- und Nordwärtsverlagerung der Rasträume führen. So werden beispielsweise Wintervorkommen von Bläss- und Nonnengänsen inzwischen auch aus Dänemark und Südschweden berichtet, wo sie vormals nicht auftraten. Nach Auffassung der Staatlichen Vogelschutzwarte im Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft , Küsten- und Naturschutz (NLWKN) sind belastbare Prognosen über die Bestandsentwicklung der genannten Gänsearten aus den o. g. Gründen schwierig und mit großen Unsicherheiten behaftet. Weitere Zunahmen sind zwar bei manchen Arten wahrscheinlich, etwa bei der 8 Nowak, E (1995): Jagdaktivitäten in der Vergangenheit und heute als Einflussfaktor auf Gänsepopulationen und andere Vögel Nordsibiriens. - in: Prokosch, P., H. Hötker [Hrsg]: Faunistik und Naturschutz auf Taimyr - Expeditionen 1989-1991. Corax 16, Sonderheft: 143-159. 9 Loonen, M. et al., Präsentation auf "Migratory birds in a rapidly warming Arctic"-Konferenz, 17.5.2018, Wageningen . 10 Huntley, B., R.E. Green, Y.C. Dollingham & S.G. Willes (2007): A climatic atlas of European breeding birds. - Durham University, RSPB & Lynx Edition, Barcelona. 11 Lameris, T.K., I. Scholten, S. Bauer, M.M.P. Cobben, B.J.Ens & B.A. Notlet (2017): Potential for an arcticbreeding migratory bird to adjust spring migration phenology to Arctic amplifications. - Global Change Bioology 23: 4058-4067 Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/1274 7 Nonnengans, doch gehen auch bei dieser Art die Reproduktionserfolge inzwischen zurück. Daher werden nach Auffassung des NLWKN auch deren Bestände nicht unbegrenzt exponentiell anwachsen . Bei anderen nordischen Gänsearten scheinen die Grenzen des Wachstums bereits erreicht (siehe Tabelle oben). 6. Welche Managementinstrumente setzen die Nordseeanrainerstaaten Belgien, Dänemark und die Niederlande vor dem Hintergrund der anwachsenden Bestände ein? Im Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz (MU) liegen keine detaillierten Informationen zu den Gänse-Managementmaßnahmen in den Nordseeanrainerstaaten Belgien, Dänemark und den Niederlanden vor. In dem für die Beantwortung kleiner Anfragen zur Verfügung stehenden Zeitraum war es nicht möglich, verbindliche Auskünfte aus den benannten Staaten zu erhalten . Auch das vom MU beteiligte Bundesamt für Naturschutz konnte dazu per Mitteilung vom 4. Juni 2018 keine weitergehenden Angaben machen. 7. Wie hoch schätzt die Landesregierung den jährlich entstandenen Schaden in Niedersachsen durch Gänsefraß ein? Das Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz (MU) hat durch die Landwirtschaftskammer in einem Hauptgebiet der Gänserast, dem EU-Vogelschutzgebiet Rheiderland, in den Jahren 2008 bis 2010 umfangreiche Untersuchungen zu Gänsefraßschäden durchführen lassen. Diese führten zu folgendem Ergebnis: Der Gänsefraß bewirkte eine Verringerung der Grasnarbendichte um durchschnittlich 2 % und im Extremfall um 10 %. Die Qualität der Grasnarbe verschlechterte sich hinsichtlich der Futterwertzahl um 0,3 Punkte. Infolgedessen müssen die Landwirte für die Erhaltung der Grünlandfläche höhere Aufwendungen durch Nachsaaten und Pflanzenschutz betreiben . Die Betriebe im EU-Vogelschutzgebiet haben beim ersten Grasschnitt durch die rastenden Gänse im Mittel einen Ertragsverlust von ca. 30 % an Trockenmasse und Energieertrag. Der Ertragsausfall wird im Laufe der Vegetationsperiode nicht kompensiert. Beim zweiten Grasschnitt konnten über alle Versuchsjahre hinweg keine absicherbaren Differenzen zwischen beästen und nicht beästen Probeflächen festgestellt werden. 80 % der ermittelten Verluste traten im Frühjahr auf. Sowohl zum ersten als auch zum zweiten Grasschnitt führte die Gänseäsung zu keiner höheren Verschmutzung des Erntegutes. Derzeit lässt das MU durch die Landwirtschaftskammer eine Neubewertung der Gänserast im EU- Vogelschutzgebiet Rheiderland durchführen, um zu überprüfen, ob sich an der Schadenssituation etwas verändert hat. Landesweite Angaben zu Gänsefraßschäden auf landwirtschaftlichen Nutzflächen liegen im Übrigen nicht vor. Auch können solche Angaben derzeit nicht abgeschätzt werden, da dazu repräsentative Untersuchungen in allen Landesteilen, in denen Brut- und Wintervorkommen auftreten, notwendig wären. 8. Ab welcher Größenordnung des Fraßschadens, bezogen auf den einzelnen Grundeigentümer bzw. Landwirt, ist nach Auffassung der Landesregierung die zu duldende Schwelle in Bezug auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums überschritten? Die Rechtsprechung geht davon aus, dass jedes Grundstück durch seine Lage und Beschaffenheit sowie seine Einbettung in Natur und Landschaft geprägt wird. Aus dieser Situationsgebundenheit entspringen die Nutzungsbeschränkungen des Eigentums; sie zeichnen - bildlich gesprochen - nur das nach, was nach der tatsächlichen Situation schon vorgegeben ist. Der Eigentümer muss bei der Ausübung seiner Befugnisse auf diese „Situation“ Rücksicht nehmen (BVerwG, Urteil vom 24.06.1993, NJW 1993, 236). In diesem Zusammenhang spricht man von der Sozialbindung des Eigentums. Die Schwelle der Sozialpflichtigkeit ist überschritten, wenn im Einzelfall durch Vorschriften des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) oder Vorschriften, die aufgrund des BNatSchG Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/1274 8 bzw. des Naturschutzrechtes der Länder erlassen wurden, Nutzungsbeschränkungen vorliegen, die nicht mehr zumutbar sind (vgl. § 68 Abs. 1 BNatSchG). Es gibt keine allgemein gültigen Prozentsätze für die Beurteilung, wann die Grenze des noch im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums Zumutbaren überschritten ist. Wie viel an Beschränkungen dem Eigentümer durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen entschädigungslos auferlegt werden kann, ist situationsabhängig und bedarf einer wertenden Betrachtung der Kollision zwischen den berührten Interessen des Allgemeinwohls und den betroffenen Eigentümerbelangen. Je stärker die Belange des Naturschutzes sind und je mehr das betroffene Grundstück in seiner konkreten Situation durch sie geprägt wird, umso eher sollen die wirtschaftlichen Folgen einer Nutzungsbeschränkung „entschädigungslos“ hinzunehmen sein. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung wird die Grenze der Sozialpflichtigkeit des Eigentums erst dann überschritten, wenn durch die Bestimmungen des Naturschutzes kein Raum mehr bleibt für einen privatnützigen Gebrauch des Eigentums oder für eine Verfügung über den Eigentumsgegenstand , oder wenn eine bisher ausgeübte oder sich nach der Lage der Dinge objektiv anbietende Nutzung ohne jeglichen Ausgleich unterbunden wird (BVerfG, Beschluss vom 02.03.1999, NJW 1999, 2877 zur Frage der Verfassungsmäßigkeit im Naturschutzrecht normierter Inhalts- und Schrankenbestimmungen; BVerwG, Urteil vom 24.06.1993, NJW 1993, 236.; Beschluss vom 17.01.2000, NVwZ-RR 2000, 339.). Wie viel an Beschränkungen dem Eigentümer letztendlich entschädigungslos auferlegt werden kann, ist in jedem Einzelfall situationsabhängig zu entscheiden. 9. Wie will die Landesregierung sicherstellen, dass eine weitere Ausbreitung bzw. das Anwachsen der invasiven Gänsearten Nilgans und Kanadagans verhindert wird? Bei Nil- und Kanadagans handelt es sich um zwei gebietsfremde Gänsearten, die inzwischen in Niedersachsen weit verbreitet sind. Die Nilgans fällt zudem unter die neue EU-Verordnung Nr. 1143/2014 zum Umgang mit invasiven Arten unionsweiter Bedeutung. Nach Artikel 19 der Richtlinie sind für etablierte invasive Arten Managementmaßnahmen vorzusehen, die eine weitere Ausbreitung verhindern. Die wichtigste Managementmaßnahme im Zusammenhang mit den beiden Gänsearten Nil- und Kanadagans ist sicherlich die Populationskontrolle und (lokale) -beseitigung durch Bejagung. In Niedersachsen unterliegen beide Arten seit vielen Jahren dem Jagdrecht und sind mit Jagdzeiten versehen (Kanadagans: seit 2002; Nilgans: seit 2008). Auf die Antwort zu Frage 2 wird verwiesen. (Verteilt am 18.07.2018) Drucksache 18/1274 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Martin Bäumer, Helmut Dammann-Tamke, Uwe Dorendorf, Christoph Eilers, Anette Meyer zu Strohen, Dr. Marco Mohrmann und Dr. Frank Schmädeke (CDU) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz Einst fast ausgerottet, heute in Scharen - Wie ist die aktuelle Lage der Gänsepopulation zu beurteilen?