Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3047 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Harm Rykena (AfD) Antwort des Niedersächsischen Kultusministeriums namens der Landesregierung Wie steht die Landesregierung zum Kopftuchtragen an Grundschulen? Anfrage des Abgeordneten Harm Rykena (AfD), eingegangen am 25.01.2019 - Drs. 18/2702 an die Staatskanzlei übersandt am 31.01.2019 Antwort des Niedersächsischen Kultusministeriums namens der Landesregierung vom 28.02.2019 Vorbemerkung des Abgeordneten Welt-Online berichtete am 23.08.3018 über die Petition „Den Kopf frei haben“ der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ (TdF), in der diese von der Bundesregierung ein Kopftuchverbot für alle muslimischen Mädchen unter 18 Jahren fordert.1 Zu den Unterzeichnern sollen „Necla Kelek, Ali Ertan Toprak, Sibel Kekilli, Ahmad Mansour, Alice Schwarzer, Lisa Fitz, Maria von Welser, Ingrid Noll und Boris Palmer“ gehören. Die Organisation begründet ihre Forderung damit, Mädchen die Chance zu geben, gleichberechtigt, selbstbestimmt und frei aufwachsen und leben zu können. Im Artikel wurde von Schwierigkeiten der Organisation beim Sammeln der Unterschriften berichtet. Viele Menschen würden nur unter der Hand, aber nicht öffentlich ihre Zustimmung geben. Denn: „Viele haben Angst, als rassistisch und rechtspopulistisch abgestempelt zu werden“, so die TdF- Geschäftsführerin, Christa Stolle. Im Artikel wird darauf verwiesen, dass von wissenschaftlicher Seite eine Zunahme dieses Phänomens beobachtet werde. „‚Vor 20 Jahren habe es Mädchen mit Kopftüchern an Grundschulen noch nicht gegeben‘, betonte die Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, Susanne Schröter. Genaue Zahlen fehlten zwar. Inzwischen sei dieses Phänomen aber vielerorts zu beobachten. ‚Die Mädchen sollen schon als Kinder lernen, sich als Frauen zu unterwerfen.‘“ Vorbemerkung der Landesregierung Der von dem Fragesteller in Bezug genommene Bericht auf www.welt.de kann über den in der Fußnote ausgebrachten Link aufgerufen und eingesehen werden. Aus dem Artikel ergibt sich, dass die vom Fragesteller im dritten Absatz der Vorbemerkung herausgestellte „Zunahme dieses Phänomens “ sich auf das Ausmaß des Kopftuchtragens, das im nachfolgenden Absatz der Vorbemerkung erstmals erwähnt wird, bezieht. 1 https://www.welt.de/politik/deutschland/article181284488/Islamismus-Terre-des-Femmes-will-Kopftuch-Ver bot-fuer-Kinder.html?fbclid=IwAR0nGH4Dc2bzoaYzAL5GKm_OA_wezZ-5srClqIgEdB4KdvTcRi_RuUtpa_4 (Zugang am 18.12.2018 15:04) Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3047 2 1. Wie viele Grundschülerinnen gehen in Niedersachsen/in der Region Hannover/in Hannover -Stadt im aktuellen Schuljahr mit Kopftuch in den Unterricht? Allgemein kann ein Kopftuch aus ganz verschiedenen, z. B. modischen, medizinischen oder auch religiösen Gründen getragen werden. Der Landesregierung liegen zu der Fragestellung keine Erkenntnisse vor; derartige Daten werden statistisch nicht erhoben. Insbesondere vor dem nachfolgend dargestellten rechtlichen Hintergrund, aber auch mit Blick auf eine fehlende datenschutzrechtliche Grundlage sieht die Landesregierung von einer Erhebung an den rund 1 700 Grundschulen in deren rund 14 800 Klassen im Land ab. Die Unzulässigkeit der Erhebung, wie viele Grundschülerinnen in Niedersachsen, der Region und der Stadt Hannover mit Kopftuch in den Unterricht gehen, folgt daraus, dass sich eine solche unter keinen der Tatbestände der gesetzlichen Regelung des § 31 NSchG subsumieren lässt. 2. Welche Position vertritt die Landesregierung gegenüber dem Kopftuchtragen von Grundschülerinnen? Die durch Artikel 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) geschützte Religionsfreiheit umfasst nicht nur die Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den als verbindlich empfundenen Lehren des jeweiligen Glaubens auszurichten und im Alltag seiner Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.04.1972, Az. 2 BvR 75/71, BVerfGE 33, 23 ff. und BVerwG, Urt. v. 11.09.2013, Az. 6 C 25.12, BVerwGE 147, 362 ff.). In diesen Schutzbereich fällt auch das Tragen des Kopftuchs durch muslimische Schülerinnen. Die Religionsfreiheit von Artikel 4 GG wird durch das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen nach Artikel 7 Abs. 1 GG i. V. m. Artikel 4 Abs. 2 der Niedersächsischen Verfassung begrenzt. Beide Grundrechte sind im Wege der praktischen Konkordanz so gegeneinander auszugleichen, dass ihnen jeweils möglichst weitgehende Wirksamkeit verschafft wird. Dies gilt im Ergebnis auch für Grundschülerinnen; für religionsmündige Schülerinnen gilt Artikel 4 GG direkt, vor Eintritt der Religionsmündigkeit in Verbindung mit dem elterlichen Erziehungsrecht nach Artikel 6 Abs. 2 GG. Vor dem Hintergrund der Gewährleistungen der Artikel 140 GG i. V. m. Artikel 136 ff. der Weimarer Reichsverfassung steht es dem Staat nicht zu, sich für oder gegen eine bestimmte Position oder Interpretation bezüglich einer von einer Religionsgemeinschaft als verbindlich erachteten Vorgabe zu entscheiden und in der Folge eine Beeinflussung im Sinne einer bestimmten Richtung zu betreiben. Stattdessen muss es den einzelnen Angehörigen der Religionsgemeinschaft überlassen bleiben, für sich selbst zu entscheiden, welche religiösen Vorgaben sie für sich als verbindlich erachten. Es ist insbesondere nicht Voraussetzung, dass eine bestimmte Auffassung bezüglich einer Glaubensüberzeugung von der Mehrheit der Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft geteilt wird. Für die Eröffnung des Schutzbereiches der Religionsfreiheit nach Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG reicht vielmehr die plausible Darlegung einer persönlichen religiösen Motivation bzw. eines daraus abgeleiteten Verhaltens aus (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.04.1972, Az. 2 BvR 75/71, a.a.O., BVerfG, Urt. v. 24.09.2003, Az. 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 ff. und BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015, Az. 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10, BVerfGE 138, 296 ff.). Im Übrigen schließt sich die Landesregierung dem Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages „Schule und Religionsfreiheit - Wäre ein Kopftuchverbot für Schülerinnen zulässig?“ vom 26.01.2017 (Az.: WD 3 - 3000 - 277/16) an, wonach ein generelles Kopftuchverbot auch bei religionsunmündigen Schülerinnen nicht mit dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag gemäß Art Artikel 7 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden kann. Der Staat und damit auch die Schule sind aufgrund des verfassungsrechtlichen Gebots religiöser Neutralität verpflichtet, die weltanschaulichen und religiösen Zusammenhänge unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Realitäten zu vermitteln, ohne sie zu werten bzw. zu bewerten. Dies hat in § 3 Abs. 2 Satz 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes eine einfachgesetzliche Ausprägung gefunden. Danach ist in der Erziehung und im Unterricht die Freiheit zum Bekennen religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zu achten und auf die Empfindungen Andersdenkender Rücksicht zu nehmen. Der Staat darf keine Bewertung verschiedener Glaubensüberzeugungen vorneh- Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3047 3 men und auch keine gezielte Beeinflussung hinsichtlich einzelner Überzeugungen betreiben (vgl. BVerfG, Urt. v. 20.09.2000, Az. 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102,370 ff.). 3. Ist das Kopftuchtragen von Grundschülerinnen aus Sicht der Landesregierung vereinbar mit dem Kindeswohl sowie dem Recht eines jeden Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit? Für die Frage nach dem Kindeswohl sowie dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist zu berücksichtigen, dass Schülerinnen, die das 14. Lebensjahr bereits vollendet haben, als religionsmündig anzusehen sind und ihnen daher nach Artikel 4 Abs. 2 GG die Entscheidung, ob sie im Sinne einer ungestörten Religionsausübung ein Kopftuch tragen, persönlich obliegt. Grundschülerinnen sind in der Regel jedoch jünger, sodass bei ihnen die Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung und Tragweite der Glaubensfreiheit noch fehlen kann. Insoweit ist jedoch zu beachten, dass Artikel 6 Abs. 2 GG Eltern das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder garantiert und i. V. m. Artikel 4 Abs. 1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht umfasst . Auf die Antwort zu Frage 2 wird verwiesen. In dem Spannungsfeld zwischen dem nach Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder und dem Kindeswohl beschreibt der Begriff der Kindeswohlgefährdung die Interventionsschwelle des Staates in das Elternrecht. Von einer Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch kann vor dem Hintergrund verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung erst im Falle einer „gegenwärtigen, in einem solchen Maß vorhandenen Gefahr, dass sich bei weiterer Entwicklung ohne Intervention eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ gesprochen werden (BVerfG, Beschl. v. 19.11.2014, Az. 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112; BVerfG, Beschl. v. 03.02.2017, Az. 1 BvR 2569/16, FamRZ 2017, 524; BGH in FamRZ 16, 1752). Diese Voraussetzungen werden im Regelfall allein durch das Tragen eines Kopftuchs auch im Grundschulalter nicht erfüllt. Bei Maßnahmen im Rahmen einer Kindeswohlgefährdung geht es nicht darum, einen wie auch immer definierten Erziehungsstil abzuwehren, sondern vielmehr darum , eine konkrete Gefahrensituation abzuwenden. Ob die vorstehend beschriebene Interventionsschwelle überschritten ist, wäre im Rahmen einer konkreten Einzelfallprüfung festzustellen. Es kann nicht der Rückschluss gezogen werden, dass allein das Kopftuchtragen von Grundschülerinnen per se unvereinbar mit dem Kindeswohl ist und das Kind dadurch in seiner freien Entfaltung der Persönlichkeit beeinträchtigt wäre. 4. Wie sollen sich die Grundschulen verhalten, wenn Mädchen mit Kopftuch in den Unterricht gehen? Auf die vorstehend in den Antworten zu den Fragen 2 und 3 dargestellte Rechtslage wird verwiesen . Spezifischer Handlungsempfehlungen für Schulleitungen oder Lehrkräfte an Grundschulen bedarf es nicht. Sollte es an einer Grundschule in dem in der Frage dargestellten Kontext zu Problemen kommen, die eine Beratung erforderlich machen, steht hierfür die Niedersächsische Landesschulbehörde zur Unterstützung zur Verfügung. (Verteilt am 01.03.2019) Drucksache 18/3047 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Harm Rykena (AfD) Antwort des Niedersächsischen Kultusministeriums Wie steht die Landesregierung zum Kopftuchtragen an Grundschulen?