Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3146 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Dr. Stefan Birkner, Dr. Marco Genthe und Björn Försterling (FDP) Antwort des Justizministeriums namens der Landesregierung Missbrauchsskandal - Opferentschädigung durch die Kirche? (Teil 2) Anfrage der Abgeordneten Dr. Stefan Birkner, Dr. Marco Genthe und Björn Försterling (FDP), eingegangen am 01.02.2019 - Drs. 18/2752 an die Staatskanzlei übersandt am 06.02.2019 Antwort des Niedersächsischen Justizministeriums namens der Landesregierung 07.03.2019 Vorbemerkung der Abgeordneten Mit der Antwort in der Drucksache 18/2669 antwortete die Landesregierung auf eine Anfrage von Abgeordneten der FDP-Fraktion, dass Justizministerin Havliza unmittelbar nach Erscheinen der Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (sogenannte Missbrauchsstudie) die katholischen Bistümer dazu aufgefordert habe, den Staatsanwaltschaften alle Sachverhalte mitzuteilen, die Anlass zu einer strafrechtlichen Klärung geben könnten, und vorhandene Dokumente zur Verfügung zu stellen. Eine finanzielle „Wiedergutmachung“ durch die Kirche sei bei dem Gespräch am 16. November 2018 nicht thematisiert worden. Justizministerin Havliza habe die Einrichtung einer Kommission beim Landespräventionsrat Niedersachsen (LPR) angeregt, die sich mit der Prävention von sexuellem Missbrauch befassen solle. Darüber hinaus finde keine sonstige Koordinierung von Dialogen zwischen Opfern und der Kirche seitens des Justizministeriums statt. 1. Haben die katholischen Bistümer seit dem Gespräch am 16. November 2018 den Staatsanwaltschaften alle Einzelheiten (Namen von möglichen Tätern und Opfern, konkrete Tatorte) und die entsprechenden Unterlagen der aufgeführten Fälle der Studie übermittelt? Vertreter des Bistums Hildesheim haben bei einer vom Bistum initiierten Besprechung mit Vertretern der Staatsanwaltschaft Hildesheim am 24.10.2018 mitgeteilt, dass sich aus der sogenannten Missbrauchsstudie Anhaltspunkte für eine Vielzahl von Übergriffen von Priestern des Bistums Hildesheim ergeben. Für die noch lebenden Beschuldigten hat das Bistum Hildesheim alle erbetenen Informationen und Unterlagen zeitnah zur Verfügung gestellt. Das Bistum Osnabrück, das sowohl den Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Osnabrück als auch den Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Aurich betrifft, war in der sogenannten Missbrauchsstudie mit insgesamt 35 Verdachtsfällen vertreten. Zu allen 35 Fällen hat die Staatsanwaltschaft Informationen und Unterlagen angefordert und erhalten. Hinsichtlich des Bistums Münster, zu dem das im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Oldenburg liegende Offizialat Vechta gehört, arbeitet die Staatsanwaltschaft Oldenburg seit Herbst mit der Staatsanwaltschaft Münster zusammen. Bei der Staatsanwaltschaft Münster erfolgt derzeit eine Überprüfung der Vorgänge, die noch nicht abgeschlossen sei. Das Bistum Münster zeigte sich kooperativ. Nach einer Absprache zwischen den Staatsanwaltschaften Münster und Oldenburg 1 Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3146 werden Vorgänge, die den Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Oldenburg betreffen, von Münster nach Oldenburg abgegeben. 2. Wie viele neue Ermittlungsverfahren wurden nach dem Gespräch am 16. November 2018 in dieser Angelegenheit eingeleitet? Seit dem Gespräch am 16.11.2018 hat das Bistum Hildesheim zwei weitere Fälle der Staatsanwaltschaft Hildesheim zur strafrechtlichen Prüfung vorgelegt, in denen Verfahren eingeleitet wurden. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück hat aufgrund der durch das Bistum Osnabrück zur Verfügung gestellten Informationen 35 sogenannte Vorprüfungsverfahren mit AR-Aktenzeichen eingeleitet. Diese haben zum Stand 11.02.2019 zu sechs neuen Ermittlungsverfahren mit Js-Aktenzeichen geführt. 3. We lc h e Erke n n tn is s e h a t d ie La nd e s re gie ru n g h ins ic h tlic h de r Wie d e rg u tm a c h un g u n d En ts c h ä d ig u n g vo n Op fe rn vo n s e xu e lle m Mis s b ra u c h im in s titu tio n a lis ie rte n Ko n te xt in Nie d e rs a c h s e n , b e is p ie ls we is e in d e r e va n g e lis c h e n. o d e r ka th o lis c he n Kirc h e , in S p o rtve re in e n e tc . d u rc h d ie je we ilig e n In s titu tio ne n ? Mit Bescheid des Ministeriums für Wissenschaft und Kultur vom 30.04.2010 wurde der Universität Göttingen eine Zuwendung in Höhe von 100.000,00 Euro für das Vorhaben „Heimerziehung in der Zeit von 1949 bis 1975“ (Az. 11.2-76221-10-4/09; Bewilligungszeitraum 01.04.2010 bis 31.05.2011) bewilligt. Grundlage für diese Bewilligung war die in der 40. Sitzung des Landtages am 17.06.2009 erfolgte Entschließung „Verantwortung für das Schicksal früherer Heimkinder übernehmen: Aufklärung für die Betroffenen niedersächsischer Institutionen ermöglichen – runden Tisch in Berlin unterstützen“. Aus dem Protokoll der 1. Sitzung des Gesprächsarbeitskreises vom 05.10.2009, der gemäß Nr. 6 des o. g. Landtagsentschlusses eingerichtet wurde, ergibt sich die Festlegung der Inhalte des Forschungsprojektes. Es wurden zwei Themengebiete aufgeführt: a) Bestandsaufnahme zu Trägerstrukturen, vorhandenen Einrichtungen, Strukturen der Unterbringung und Aufsicht sowie zu Beschwerden und besonderen Vorkommnissen unter Beachtung des zeitgeschichtlichen Kontextes und der Erfahrung bereits geleisteter Aufarbeitung sowie b) Verantwortung des Landes im Hinblick auf die Fürsorgeerziehung, die Entwicklung der Heimaufsicht und das Landesjugendheim Göttingen sowie die Frage nach den historischen Entscheidungsmotiven der Gerichte und die Frage nach der Verantwortung von staatlichen Stellen unterhalb der Landesebene. Darauf basierend wurde das o. g. Forschungsvorhaben initiiert unter Berücksichtigung eines 17 Punkte umfassenden Fragenkataloges gemäß Landtagsdrucksache 16/1815. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes wurden dem auf Bundesebene tagenden Runden Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ zur Verfügung gestellt. Daraus resultierte der auf einer Vorlage des Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration beruhende nachfolgende Kabinettsbeschluss (s. Niederschrift über die 39. Sitzung der Nds. Landesregierung am 24.05.2011): „Die Landesregierung nimmt den Vorschlag des Runden Tisches Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren, sich an einem Fonds/einer Stiftung für ehemalige Heimkinder zu beteiligen, zur Kenntnis. Ferner wird das MS ermächtigt, einem für Mai 2011 geplanten allgemeinen Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) zur Beteiligung der alten Bundesländer an einem Fonds/einer Stiftung für ehemalige Heimkinder zuzustimmen.“ Die Evangelische Kirche in Deutschland, vertretend zugleich das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, und die (Erz-)Bistümer der Katholischen Kirche im Bundesgebiet, vertretend zugleich den Deutschen Caritasverband und die Deutsche Ordensobernkonferenz, haben sich an der Errichtung des (bis zum 31.12.2018 bundesweit tätigen) Fonds „Heimerziehung in 2 Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3146 der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ beteiligt. Auf die Ausführungen unter Ziffer 2 der Beantwortung zu Frage 4 wird insoweit Bezug genommen. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die (Erz-)Bistümer der katholischen Kirche im Bundesgebiet sind auch (Mit-)Errichter der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“. Sie haben die maßgebliche Verwaltungsvereinbarung vertretend zugleich für die Diakonie - Evangelischer Bundesverband/Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. bzw. für den Deutschen Caritasverband und die Deutsche Ordensobernkonferenz unterschrieben. 4. We lc h e Erke n n tn is s e h a t d ie La nd e s re gie ru n g h ins ic h tlic h de r Wie d e rg u tm a c h un g u n d En ts c h ä d ig u n g vo n Op fe rn vo n s e xu e lle m Mis s b ra u c h im in s titu tio n a lis ie rte n Ko n te xt in a n d e re n Bu n d e s lä n d e rn ? 1. Das Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz OEG) regelt bundesweit die Ansprüche von Personen, die infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben. Hierunter fallen dem Grunde nach auch die Opfer sexuellen Missbrauchs in Institutionen. Hinsichtlich der Leistungsansprüche für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung verweist das Opferentschädigungsgesetz auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Bundesversorgungsgesetz sieht einen umfangreichen Leistungskatalog einkommensunabhängiger wie auch einkommensabhängiger Leistungen wie zum Beispiel Grundrente, Schwerstbeschädigtenzulage, Pflegezulage, Ausgleichsrente und Ausgleichsleistungen für eine dauerhafte berufliche Beeinträchtigung vor. Er beinhaltet Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation sowie im Bedarfsfall Leistungen der sogenannten Kriegsopferfürsorge. 2. Betroffene, die als Kinder und Jugendliche in den nachstehend genannten Zeiträumen während ihrer Heimunterbringung Leid und Unrecht erfahren haben, konnten bis zum 30. September 2014 beziehungsweise 31. Dezember 2014 Anträge auf Leistungen gegenüber dem Fonds „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“ und „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ stellen. Die Leistungen der Fonds richteten sich an Personen, die als Kinder oder Jugendliche - in der Zeit von 1949 bis 1975 in einem westdeutschen Heim oder in der Zeit von 1949 bis 1990 in einem Heim in der ehemaligen DDR untergebracht waren, - zum Zwecke der öffentlichen Erziehung eingewiesen wurden und - denen während der Heimunterbringung in diesem Zeitraum Unrecht und Leid zugefügt wurden. Eine finanzielle Hilfe setzte voraus, dass Folgeschäden, wie etwa Traumatisierungen oder ein besonderer Hilfebedarf aufgrund von durch die Heimerziehung entstandenen Beeinträchtigungen bestehen und diese nicht über die bestehenden Hilfe- und Versicherungssysteme abgedeckt werden konnten. Des Weiteren konnte in Fällen, in denen wegen seinerzeit nicht gezahlter Sozialversicherungsbeiträge eine Minderung von Rentenansprüchen eingetreten ist, ein finanzieller Ausgleich gewährt werden. Die Fonds haben ihre Tätigkeit satzungsgemäß jeweils zum 31. Dezember 2018 eingestellt. 3 Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode 5. Drucksache 18/3146 Lie g t d e r La n d e s re g ie ru n g e in e S ta tis tik zu d e r Entwic klu n g de r Ve rd a c h ts fä lle u n d /o d e r g e ric h tlic h e n En ts c h e id u ng e n in Be zu g a u f s e xu e lle n Mis s b ra u c h im in s titu tio n a lis ie rte n Ko n te xt in Nie d e rs a c h s e n vo r? Fa lls ja , inwie we it is t d e r La n d e s re g ie run g b e ka n n t, o b e n ts p re c h e n d e En ts c h ä dig u n ge n g e za h lt wu rd e n ? Eine statistische Auswertung zu der Entwicklung der Verdachtsfälle und/oder gerichtlichen Entscheidungen in Bezug auf sexuellen Missbrauch in institutionalisiertem Kontext liegt in Niedersachsen nicht vor. Eine notwendige händische Auswertung aller relevanten Vorgänge bei den Staatsanwaltschaften wäre mit einem Arbeitsaufwand verbunden, der im Rahmen der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage nicht zu leisten ist. Allein im Jahr 2018 gab es 5181 Neuzugänge bei den Niedersächsischen Staatsanwaltschaften hinsichtlich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. 6. We lc h e fin a n zie lle n Hilfe le is tu n g e n kö n ne n Be tro ffe ne , d ie in e in e r In s titu tio n s e xue lle Ge wa lt e rlitte n h a b e n u n d d ie n ic h t a u f a n d e re n g e s e tzlic h e n o d e r g e ric h tlic h e n We g e n Le is tu n g e n e rh a lte n , in Nie d e rs a c h s e n e rwa rte n? In Niedersachsen wurde am 04.09.2001 durch die Landesregierung die Stiftung Opferhilfe Niedersachsen mit dem Ziel errichtet, Opfer von Straftaten außerhalb der gesetzlichen und über die Hilfe anderer Opferhilfeeinrichtungen hinaus materielle Hilfe zu leisten. Die verschiedenen Hilfs- und Unterstützungsangebote der Stiftung orientieren sich ausschließlich an den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen und können demzufolge sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Dies können exemplarisch unbürokratische Soforthilfen zur Schaffung neuer Wohn- oder Arbeitssituationen sein oder im Einzelfall auch die Leistung finanzieller Beiträge zu psychischen Stabilisierungsmaßnahmen wie Traumatherapien. Darüber hinaus geht die Stiftung Opferhilfe Niedersachsen in einigen Fällen auch in Vorleistung und unterstützt bei der Antragsstellung für den „Fonds sexueller Missbrauch“, um zeitnah finanzielle Unterstützung zu erhalten. 7. S ie h t d ie La n d e s re g ie ru n g Ha n d lu n g s b e d a rf b e zü g lic h En ts c h ä dig u n ge n fü r Op fe r s e xu e lle r Ge wa lt in In s titu tio n e n ? Fa lls ja , we lc h e Plä n e /Ma ß n a h m e n we rd e n ve rfo lg t o d e r e rg riffe n ? Das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung begleitet kritisch und konstruktiv das Reformvorhaben zur Novellierung des Sozialen Entschädigungsrechts und insbesondere des Opferentschädigungsgesetzes. Der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts greift insoweit einen Teil der Empfehlungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen“ und des Runden Tisches „Heimerziehung“ auf. Dies gilt beispielsweise hinsichtlich der Einführung der neuen Leistung schneller Hilfen (Leistungen in Traumaambulanzen und Leistungen des Fallmanagements) als niedrigschwellige Angebote und einer Erleichterung des Verfahrens. 8. Wie g e s ta lte n s ic h d a s Ko n ze p t u n d d e r Ze itp la n d e r ne u e n Kom m is s io n , d ie s ic h m it d e r P rä ve n tio n vo n s e xu e lle m Mis s b ra u c h b e fa s s e n s o ll? Der Vorstand des Landespräventionsrates Niedersachsen hat am 22. November 2018 beschlossen, eine Kommission einzurichten, die sich mit der Prävention sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen befasst. Aufgabe der Kommission ist es, mit Blick auf Niedersachen eine fachübergreifende, ganzheitliche Bestandsaufnahme durchzuführen, die sowohl die Besonderheiten des Landes und seiner Strukturen erfasst als auch bereits vorhandene Arbeiten und Erkenntnisse einbezieht. 4 Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3146 Die Kommission befindet sich derzeit in der Gründungsphase. Mehr als 30 Institutionen, Organisationen und Personen aus Niedersachsen mit Expertise in den unterschiedlichsten Fachrichtungen wurden um die Mitwirkung in der Kommission ersucht. Auch bei mehreren Betroffenenorganisationen wurde eine Mitarbeit angefragt. Hierzu hat eine Auftaktveranstaltung am 27. Februar 2019 stattgefunden. Im Verlauf des Jahres werden die Mitglieder der Kommission zu konkreten Fragestellungen in Arbeitsgruppen tätig werden. In insgesamt drei Treffen der Kommission werden bis zum Ende dieses Jahres die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zusammengetragen und diskutiert. Ziel ist, im Anschluss spezifische Handlungsempfehlungen für Politik und Praxis vorzulegen, die sich für eine Umsetzung im Land Niedersachsen eignen und damit zu einem deutlich effektiveren Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen und einer verbesserten Arbeit mit Geschädigten führen. (Verteilt am 13.03.2019) 5