Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3523 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Anja Piel und Meta Janssen-Kucz (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung namens der Landesregierung Wie werden Opfer von Medikamenten- und Impfversuchen in Niedersachen entschädigt? Anfrage der Abgeordneten Anja Piel und Meta Janssen-Kucz (GRÜNE), eingegangen am 27.03.2019 - Drs. 18/3401 an die Staatskanzlei übersandt am 02.04.2019 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung namens der Landesregierung vom 16.04.2019 Vorbemerkung der Abgeordneten Am 14. März 2019 hat das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung die Ergebnisse einer medizinhistorischen Studie zu Medikamenten- und Impfversuchen in der Nachkriegszeit vorgestellt. Medikamenten- und Impfversuche wurden demnach an den kinderpsychiatrischen Abteilungen des Psychiatrischen Krankenhauses Wunstorf und der Universität Göttingen , der Kinderklinik der Universität Göttingen, den Rothenburger Anstalten und im heilpädagogischen Kinder- und Jugendheim Brunnenhof in Rehburg-Loccum durchgeführt. Zu den getesteten Substanzen gehörten Neuroleptika, Antidepressiva, Bromverbindungen, Barbiturate, Antiandrogene , Antiepileptika und Vitaminderivate. Impfversuche fanden u. a. mit Polioimpfstoffen statt. Das Sozialministerium hat ein weiterführendes Forschungsprojekt angekündigt, um u. a. die Auswirkungen auf die Betroffenen zu untersuchen, da Untersuchungsergebnisse den Verdacht zulassen , dass die Versuche ohne Einwilligung der Eltern, ohne erwartbaren Nutzen für die Kinder und Jugendlichen und damit jenseits fachlicher und ethischer Standards stattfanden. 1. Welche Möglichkeiten der Entschädigung gibt es für noch lebende Opfer? Eine Entschädigung der betroffenen Menschen ist über die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ möglich . Grundlage ist eine Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung eines Hilfesystems für Menschen , die als Kinder oder Jugendliche in den Jahren 1949 bis 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben. Die Vereinbarung wurde am 1. Dezember 2016 nach intensiven und aufwändigen Vorarbeiten zwischen dem Bund, den Ländern und den Kirchen geschlossen. Die Stiftung ist zum 1. Januar 2017 errichtet worden. Ihre Laufzeit ist auf fünf Jahre (31. Dezember 2021) festgelegt. Die Anmeldefrist für Betroffene endet am 31. Dezember 2020. Die Stiftung sieht drei Elemente von Anerkennungsleistungen vor: 1. Das Leid und Unrecht wird benannt und öffentlich anerkannt. 2. Die damaligen Geschehnisse werden wissenschaftlich aufgearbeitet. 3. Das von den Betroffenen erlittene Leid und Unrecht wird durch Gespräche mit Beraterinnen und Beratern der in den Ländern eingerichteten Anlauf- und Beratungsstellen individuell anerkannt . Als Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen zum selbstbestimmten Einsatz erhalten Betroffene eine einmalige pauschale personenbezogene Geldleistung in Höhe von Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3523 2 9 000 Euro, sofern sie glaubhaft machen, in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe oder in einer stationären psychiatrischen Einrichtung Leid und Unrecht erfahren zu haben und heute noch eine Folgewirkung zu haben. Ferner kann unter bestimmten Voraussetzungen ein finanzieller Ausgleich für entgangene Rentenansprüche in Höhe von 3 000 Euro bzw. 5 000 Euro in Betracht kommen. Zu den Leid- und Unrechtserfahrungen gehören ausdrücklich auch Experimente mit Medikamenten oder beispielsweise eine Medikation zur Ruhigstellung. In Niedersachsen sind Anlauf- und Beratungsstellen beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales , Jugend und Familie an vier Standorten (Braunschweig, Hildesheim, Hannover und Oldenburg) eingerichtet worden. Ihre Arbeit beschränkt sich nicht nur auf die Beratung und Unterstützung bei der Anmeldung. Die Beraterinnen und Berater sollen auch, bei Bedarf, über Angebote und Leistungen der Regelsysteme informieren („Lotsenfunktion“), beispielsweise über das Opferentschädigungsgesetz oder die Stiftung Opferhilfe. 2. Welche Nachweise sind dafür zu erbringen? Die unter Frage 1 genannten Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen erhalten Personen, die 1. in der Zeit von 23. Mai 1949 bis 31. Dezember 1975 in der Bundesrepublik Deutschland oder in der Zeit von 7. Oktober 1949 bis 2. Oktober 1990 in der DDR 2. in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder stationären psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren, 3. dort als Kind oder Jugendliche/Jugendlicher 4. Leid und Unrecht erfahren haben und 5. heute noch eine Folgewirkung aus dem Aufenthalt haben. Die ferner unter Frage 1 genannten Rentenersatzleistungen erhalten Personen, die 1. in der Zeit von 23. Mai 1949 bis 31. Dezember 1975 in der Bundesrepublik Deutschland oder in der Zeit von 7. Oktober 1949 bis 2. Oktober 1990 in der DDR 2. in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder stationären psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren, 3. dort als Kind oder Jugendliche/Jugendlicher dem Grunde nach sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben und 4. deren Rentenansprüche sich aufgrund nicht gezahlter Sozialversicherungsbeiträge gemindert haben. Bei den in der Vorbemerkung beschriebenen Medikamenten- und Impfversuchen geht es um die Frage, ob im Einzelfall eine Anerkennungs- und Unterstützungsleistung in Betracht kommen kann. Der Nachweis für die unter 1. bis 3. genannten Anforderungen wird nach den Erfahrungen der niedersächsischen Anlauf- und Beratungsstellen unproblematisch durch Aufenthaltsbescheinigungen, Zeugenaussagen, Fotos, Zeugnisse, Personenstandsurkunden erbracht. Zu den Leid- und Unrechtserfahrungen können, wie bereits erwähnt, Experimente mit Medikamenten , also auch Impfversuche, gehören. Folgewirkungen können Traumatisierungen, bedrückende Lebensumstände oder besondere Hilfebedarfe sein, die im Zusammenhang mit den Leid- und Unrechtserfahrungen stehen und die zusätzliche Erschwernisse darstellen. Bei betroffenen Menschen wirken bis heute belastende Erinnerungen nach. Diese können sich in körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen, auch in Problemen der zwischenmenschlichen Beziehungen äußern. Insbesondere das Vorliegen von Leid- und Unrechtserfahrungen und von Folgewirkungen muss, wenn ein Nachweis nicht erbracht werden kann, nur glaubhaft gemacht werden. Bewusst ist auf eine hohe Anforderung an die Nachweispflicht verzichtet worden, um eine Verängstigung oder gar Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3523 3 Retraumatisierung der Betroffen zu vermeiden. Glaubhaftmachung bedeutet, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Tatsache gegeben ist. Diese Vorgaben sind nach den bisherigen Erfahrungen gut geeignet, um zu sachgerechten Entscheidungen kommen zu können. Für die Anlauf- und Beratungsstellen sind ferner Möglichkeiten gegeben, auch in Zweifelsfällen zu Lösungen zu kommen. Dazu gehören die Konsultation von Expertinnen und Experten, die Thematisierung bei den Austauschtreffen mit den Anlauf- und Beratungsstellen der anderen Bundesländer sowie die Einschaltung der in der Stiftung eingerichteten Unterstützungsstellen (Fachbeirat, Lenkungsausschuss ). 3. Wonach bemisst sich die Höhe der Entschädigung für Opfer von Medikamenten- und Impfversuchen? Bei der Anerkennungs- und Unterstützungsleistung handelt es sich um einen in der Höhe feststehenden Betrag. 4. Wie viele Opfer von Medikamenten- und Impfversuchen haben bereits eine Entschädigung beantragt? Bei den niedersächsischen Anlauf- und Beratungsstellen haben sich bisher 113 Personen gemeldet , die neben anderen Leid- und Unrechtserfahrungen auch die missbräuchliche Verwendung von Medikamenten angegeben haben. Eine weitergehende Aufschlüsselung (u .a. Zahl der Impfversuche ) ist leider nicht möglich. Die von den Betroffenen gemachten Angaben lassen solche Rückschlüsse sehr oft nicht zu. 5. Wie viele Anträge auf Entschädigung sind bewilligt, wie viele abgelehnt worden? Von den 113 Personen haben 102 bereits Leistungen erhalten. Neun Fälle liegen der Geschäftsstelle zur Mitprüfung und gegebenenfalls Auszahlung vor. In zwei Fällen ist eine ablehnende Nachricht ergangen. 6. Plant das Land Niedersachsen einen eigenen Entschädigungsfonds für die Opfer? Eine Entschädigung ist im Rahmen der sich bewährenden Arbeit der Stiftung Anerkennung Hilfe vorgesehen, ein eigener Entschädigungsfonds ist nicht geplant. 7. Inwiefern kann die Veröffentlichung der Abschlussstudie das Unrecht sichtbar machen ? Der Abschlussbericht der Studie „Medikamenten- und Impfversuche an Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Heimerziehung in Niedersachsen zwischen 1945 und 1978“ demonstriert das Unrecht , das im Zusammenhang mit Arzneimittel- und Impfstudien an Kindern und Jugendlichen in Heimen und Kliniken begangen wurde. Die in der Studie dokumentierten Fälle können aber nur exemplarisch das Unrecht darstellen. Aufgrund fehlender Nachweise, bereits vernichteter Akten und des Faktes, dass die Historikerinnen und Historiker vielfach auf Zufallsfunde angewiesen sind, wird sich das Ausmaß der Arzneimittelund Impfstudien in Niedersachsen und Deutschland niemals komplett darstellen lassen. Die durch die Historikerinnen und Historiker in der niedersächsischen Studie, aber auch in Studien anderer Bundesländer demonstrierten Fälle müssen als exemplarisch betrachtet werden für eine Forschungspraxis und eine Praxis der Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Menschen in öffentlicher Obhut, die für die 50er- bis 70er-Jahre symptomatisch war. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/3523 4 8. Welche Maßnahmen leitet die Landesregierung aus den Ergebnissen der medizinhistorischen Studie ab? Das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung beauftragte im Februar 2019 ein weiterführendes Forschungsprojekt, welches mittels Auswertung von Einzelakten die Medikamentenund Impfversuche vertiefend untersuchen soll insbesondere in Bezug auf die Rolle der öffentlichen Verwaltung und die Auswirkungen auf die Probandinnen und Probanden. Auf der Basis des Anfang 2020 zu erwartenden Abschlussberichtes des weiterführenden Forschungsprojekts wird die Landesregierung über weitere Schritte entscheiden. (Verteilt am 18.04.2019) Drucksache 18/3523 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Anja Piel und Meta Janssen-Kucz (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Wie werden Opfer von Medikamenten- und Impfversuchen in Niedersachen entschädigt?