Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/4636 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Helge Limburg (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Justizministeriums namens der Landesregierung Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften - EuGH entscheidet: Die deutschen Staatsanwaltschaften dürfen keine EU-Haftbefehle ausstellen Anfrage des Abgeordneten Helge Limburg (GRÜNE), eingegangen am 15.08.2019 - Drs. 18/4364 an die Staatskanzlei übersandt am 20.08.2019 Antwort des Niedersächsischen Justizministeriums namens der Landesregierung vom 23.09.2019 Vorbemerkung des Abgeordneten Mit dem Urteil vom 27.05.2019 (C-508/18; C-82/19; C-509/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, deutsche Staatsanwaltschaften seien nicht zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt, da keine hinreichende Gewähr für die Unabhängigkeit der deutschen Staatsanwartschaften gegenüber der Exekutive bestehe. Denn die deutschen Staatsanwaltschaften seien der Gefahr ausgesetzt, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa einer Justizministerin oder eines Justizministers unterworfen zu werden. Es sei nicht gesetzlich ausgeschlossen, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, z. B. einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, im Einzelfall einer Weisung des Justizministers des betreffenden Bundeslandes unterworfen werden könnte. Das Erfordernis für ihre Einstufung als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses sei damit nicht gegeben. In einem Gastkommentar in der Deutschen Richterzeitung (07/08/19, S. 252) schreibt Heribert Prantl: „Was das Hammerurteil des Europäischen Gerichtshof bedeutet: Die Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaft muss beseitigt werden. Sie ist der Geburtsfehler der deutschen Anklagebehörde .“ Er mahnt an, den „Rechtswillen“ und nicht den „Machtwillen“ des Staates nach Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs in einem Gesetz umzusetzen. Vorbemerkung der Landesregierung Um dem Spannungsverhältnis zwischen notwendiger Steuerung einerseits und einer neutralen staatsanwaltschaftlichen Amtsführung andererseits Rechnung zu tragen, gibt es in Niedersachsen die folgenden selbstbeschränkenden Weisungsgrundsätze für das Justizministerium: 1. Eine Weisung muss überhaupt rechtlich zulässig sein. Die Bindung an Gesetz und Recht gilt auch für die politische Spitze. Konkret heißt dies, dass jeder Weisung ein zumindest vertretbarer Rechtsstandpunkt zugrunde liegen muss, der vor der jeweiligen Kontrollinstanz verantwortet werden kann. Für die Landesjustizverwaltung ist diese Kontrollinstanz der Niedersächsische Landtag. 2. Eine Weisung bedarf in tatsächlicher Hinsicht einer sicheren Beurteilungsgrundlage. Wer Weisungen erteilt, trägt die volle Verantwortung für den dadurch gesteuerten weiteren Gang des Verfahrens. Für die Hauptverhandlung vor Gericht ist mit Rücksicht auf die elementaren Verfahrensgrundsätze der freien Beweiswürdigung und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in besonderem Maße Zurückhaltung geboten, denn Vorgesetzte, welche nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen haben, werden kaum in der Lage sein, sachgerechte Anträge zur Schuld- und Straffrage zu formulieren. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/4636 2 3. Ein der Staatsanwaltschaft gesetzlich zustehendes Ermessen wird von der Landesjustizverwaltung grundsätzlich bis zur Grenze des Nicht- oder des Fehlgebrauchs akzeptiert. Dies gilt in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht. 4. Eine Weisung muss sachlich unabweisbar geboten sein. Beurteilen die Verantwortungsträger bei Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft die Sachlage einvernehmlich, dann besteht gesteigerter Begründungsbedarf für eine gegenteilige Weisung. Neben der rechtlichen Zulässigkeit ist die Frage einer Weisung dann vor allem daraufhin zu prüfen, ob sie nach Abwägung aller gegen sie sprechenden Argumente unerlässlich ist. 5. Eine Weisung muss als solche zweifelsfrei erkennbar sein und sich deutlich von unverbindlichen Ratschlägen unterscheiden. Sie wird deshalb, sofern keine Einigung zu Stande kommt, schriftlich erteilt. Dadurch kommen Einzelfallweisungen außerhalb der Korrektur von Rechtsanwendungsfehlern im Rahmen der Dienstaufsicht praktisch nicht vor. Eine ministerielle Weisung ergeht deshalb auch nur schriftlich und bietet damit für die Betroffenen eine Kontrollmöglichkeit. Insgesamt ist damit sichergestellt , dass Weisungen allein sachlichen Geboten folgen und frei von politischer Opportunität sind. 1. Welche Fälle hat es in Niedersachsen in den vergangenen zehn Jahren gegeben, in denen gegenüber einer oder mehrerer Staatsanwaltschaften in Niedersachsen das politische Weisungsrecht durch die Justizministerinnen oder Justizminister ausgeübt wurde (bitte nach Jahr, Staatsanwaltschaft, Fall und Grund auflisten)? Von dem externen Weisungsrecht wurde in den vergangenen zehn Jahren unter Beachtung der in der Vorbemerkung dargestellten Grundsätze lediglich im Zusammenhang mit der Bearbeitung von weiteren Dienstaufsichtsbeschwerden Gebrauch gemacht. Eine statistische Erfassung der Fälle erfolgt nicht. 2. Welche Gesichtspunkte sprechen aus Sicht der Landesregierung dafür, das Weisungsrecht der Justizministerinnen oder Justizminister abzuschaffen? Durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27.05.2019 ist den Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland nach jetziger Rechtslage die Zuständigkeit zur Ausstellung von Europäischen Haftbefehlen entzogen worden. Durch eine Abschaffung des Weisungsrechts der Justizministerinnen oder Justizminister könnte die alte Rechtslage (Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften zur Ausstellung von Europäischen Haftbefehlen) wiederhergestellt werden. Die vorhandenen eingespielten Rechtshilfestrukturen und -zuständigkeiten blieben erhalten, bestehende Unsicherheiten bei der Ausstellung und Vollstreckung Europäischer Haftbefehle entfielen, die Gerichte müssten nicht mit der Ausstellung von Europäischen Haftbefehlen belastet werden und ein möglicher gesetzgeberischer Handlungsbedarf zur Änderung der Strafprozessordnung (StPO) und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) entfiele. 3. Wird sich die Landesregierung im Bund dafür einsetzen, die generelle externe Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaften abzuschaffen, zumal die Staatsanwaltschaften dies seit Jahren fordern? Wenn nein, warum nicht? Die Abschaffung der generellen externen Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaften könnte nur mit umfangreichen Neuregelungen insbesondere in der StPO einhergehen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf alles staatliche Handeln einer ununterbrochenen demokratischen Legitimationskette. Diese wird für die Organe der Exekutive durch die parlamentarische Legitimation der Regierung und damit der Ministerinnen und Minister und deren Weisungsrecht gegenüber den nachgeordneten Behörden - hier gemäß §§ 146, 147 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) gegenüber den Staatsanwaltschaften - gewährleistet. Das Weisungsrecht der Landesjustizverwaltungen gegenüber den Staatsanwaltschaften in Einzelfällen Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/4636 3 dient ebenso wie das als intern bezeichnete Weisungsrecht der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte der Sicherung des Legalitätsprinzips. Die bisherige Befugnis der Landesjustizverwaltungen zur Erteilung von Weisungen (§ 147 Nr. 2 GVG) - und zwar auch im Einzelfall - führt zu einer umfassend gesicherten Qualitätskontrolle, die es ermöglicht, fehlerhaftes staatsanwaltschaftliches Handeln im Einzelfall unabhängig vom Tätigwerden anderer Verfahrensbeteiligter zu korrigieren bzw. zu unterbinden, um den Rechtswillen und damit auch den gesetzlichen Strafanspruch des Staates zu verwirklichen. Ohne Durchsetzungsmöglichkeit liefe auch die weitere Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Entscheidungen der Generalstaatsanwaltschaft ins Leere. Um der oben angeführten ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, müsste im Falle der Abschaffung der Weisungsbefugnis der Landesjustizverwaltungen als Steuerungsmechanismus ein aufwendiges neues Rechtssystem der gerichtlichen Überprüfbarkeit sämtlicher staatsanwaltschaftlicher Einstellungsentscheidungen eingeführt werden. 4. Wie viele Europäische Haftbefehle wurden in den letzten zwei Jahren durch niedersächsische Staatsanwaltschaften ausgestellt? Wie viele davon wurden vollstreckt? Gemäß einer Erhebung durch das Landeskriminalamt Niedersachsen (Stand 22.08.2019) wurden seit dem 01.01.2017 im Bereich „Internationale Fahndungen neu“ 160 Datensätze erfasst. Mangels statistischer Erhebung kann eine Aussage, wie viele dieser seit dem 01.01.2017 eingeleiteten Fahndungen bereits vollstreckt worden sind, nicht erfolgen. Allerdings sind seit dem 01.01.2017 im Bereich „Internationale Fahndungen erledigt“ 459 Datensätze erfasst worden, wobei diese Zahlen auch Fahndungen enthalten können, die bereits vor 2017 eingeleitet worden sind. Zu den Erledigungsgründen kann im Rahmen der Auswertung keine differenzierte Darstellung vorgenommen werden. Als Gründe können u. a. Festnahmen, eine Fristlöschung oder ein Aufheben des nationalen Haftbefehls in Betracht kommen. Dem Bereich „Internationale Fahndungen“ liegt immer ein Europäischer Haftbefehl zugrunde. 5. Welche Auswirkungen hat die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27.05.2019 (C-508/18; C-82/19; C-509/18) auf die künftige Tätigkeit der Staatsanwaltschaften in Niedersachsen? Wie bereits ausgeführt ist den Staatsanwaltschaften in Niedersachsen durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27.05.2019 die Zuständigkeit zur Ausstellung von Europäischen Haftbefehlen entzogen worden. Es sind daher die bestehenden Europäischen Haftbefehle durch gerichtlich ausgestellte Europäische Haftbefehle ersetzt worden. Auch zukünftig werden die Staatsanwaltschaften nur unter Einbindung der nationalen Gerichte Europäische Haftbefehle erwirken können. Grundlegende Einschränkungen im europäischen Auslieferungsverkehr sind damit jedoch nicht zu erwarten. (Verteilt am 24.09.2019) Drucksache 18/4636 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Helge Limburg (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Justizministeriums Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften - EuGH entscheidet: Die deutschen Staatsanwaltschaften dürfen keine EU-Haftbefehle ausstellen