Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/540 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Stephan Bothe (AfD) Antwort des Niedersächsischen Justizministeriums namens der Landesregierung Besondere Behandlung und Radikalisierung von bekennenden religiösen Häftlingen in Justizvollzugsanstalten ? Anfrage des Abgeordneten Stephan Bothe (AfD), eingegangen am 20.02.2018 - Drs. 18/412 an die Staatskanzlei übersandt am 28.02.2018 Antwort des Niedersächsischen Justizministeriums namens der Landesregierung vom 22.03.2018, gezeichnet Barbara Havliza Vorbemerkung des Abgeordneten Vor dem Hintergrund der Tatsachen, dass deutsche Justizvollzugsanstalten überproportional mit Ausländern belegt sind (Süddeutsche Zeitung vom 18.10.2017) und dass es sich nach Medienberichten (Die Zeit vom 17.01.2017) bei einigen verurteilten islamistischen Terroristen um ehemalige Kriminelle bzw. Häftlinge handelt, soll die vorliegende Kleine Anfrage diese Themenkomplexe in Bezug auf Niedersachsen beleuchten. Vorbemerkung der Landesregierung Im Jahr 2017 waren durchschnittlich 4 839 Personen in den niedersächsischen Justizvollzugseinrichtungen inhaftiert, davon rund 69 % mit deutscher Staatsangehörigkeit. 1. Wie setzt sich der prozentuale Anteil der Häftlinge in Straf- und Untersuchungshaft seit dem Jahr 2012 bis heute in Bezug auf die jeweilige Glaubensrichtung (inklusive Konfessionsloser ) zusammen (bitte getrennt nach Jahr und Konfession)? Gefangene sind aufgrund Artikel 4 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht gesetzlich verpflichtet, zu ihrer Religionszugehörigkeit Auskunft zu erteilen. Zwar wird die Religionszugehörigkeit der Gefangenen bei Haftantritt abgefragt, die Angaben dazu sind jedoch freiwillig und stellen zudem besonders schützenswerte persönliche Daten dar. Solche Daten dürfen gemäß § 191 Abs. 1 des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes (NJVollzG) nur verarbeitet werden, wenn es zur Erfüllung der Aufgaben nach diesem Gesetz erforderlich ist. Eine regelmäßige statistische Erfassung erfolgt nicht. Nach einer Stichtagsabfrage haben am 28.02.2018 rund 67 % aller inhaftierten Personen zu ihrer Religionszugehörigkeit keine Angaben gemacht, 11,6 % gaben evangelisch, 6,3 % katholisch und 7,7 % muslimisch als Religionszugehörigkeit an. 2. Welche Kosten pro Tag entstehen für Mahlzeiten, die in den Justizvollzugsanstalten des Landes als halal, koscher, vegan, vegetarisch und ohne eines dieser Merkmale ausgegeben werden (bitte getrennt nach jeweiliger Bezeichnung, Anzahl der jeweiligen Mahlzeiten und Kosten)? Gemäß § 23 NJVollzG sind Gefangene gesund zu ernähren. Auf ärztliche Anordnung wird besondere Verpflegung gewährt. Der oder dem Gefangenen ist es zu ermöglichen, Speisevorschriften ihrer oder seiner Religionsgemeinschaft zu befolgen. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/540 2 Nach der Richtlinie für die Verpflegungswirtschaft ist unter Berücksichtigung der Lebensmittelbestände am Anfang und am Ende des Haushaltsjahrs, der unentgeltlich erhaltenen und abgegebenen Lebensmittel, der Einnahmen und Ausgaben für die Verpflegung aufgrund der Hafttage (abzüglich der Selbstverpflegungstage) am Ende eines jeden Haushaltsjahrs der auf einen Hafttag entfallende Verpflegungsaufwand (Tagessatz) zu errechnen. Zwischen einzelnen Verpflegungsarten wird nicht unterschieden. Im Haushaltsjahr 2017 betrug der Tagessatz 2,78 Euro. 3. Wie viele Seelsorger - unter Angabe des Frauenanteils - sind jeweils für welche Glaubensrichtung (en) in den Justizvollzugsanstalten sowie den Jugendarrestanstalten des Landes tätig? Zurzeit sind 39 haupt- und nebenamtliche christliche Gefängnisseelsorgerinnen und -seelsorger (21 evangelische Geistliche und 18 katholische Geistliche) mit einem Beschäftigungsvolumen von rund 29,05 Vollzeitstellen im niedersächsischen Justizvollzug tätig. Darunter sind elf weibliche Gefängnisseelsorgerinnen . Gemäß der „Ordnung der Gefängnisseelsorge in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers vom 16.09.2009“ und der „Ordnung für den Dienst der katholischen Seelsorge in den Justizvollzugsanstalten, einschließlich den Abschiebungshaftanstalten, den Jugendarrestanstalten und der Forensik des Landes Niedersachsen vom 01.12.2012“ sind die christlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger berechtigt, auch die Gefangenen anderer Konfessionen, anderer Religionsgemeinschaften und ohne religiöses Bekenntnis auf deren Wunsch zu betreuen. Derzeit sind zehn islamische Seelsorgerinnen und Seelsorger, d. h. Personen mit einer abgeschlossenen akademisch-theologischen Ausbildung, im niedersächsischen Justizvollzug tätig, davon zwei auf der Grundlage eines Honorarvertrags, acht auf ehrenamtlicher Basis. Darunter ist eine weibliche Seelsorgerin. Die Betreuung von Inhaftierten anderer Konfessionen oder Religionszugehörigkeit erfolgt, sofern diese das Bedürfnis nach entsprechender seelsorgerlicher Begleitung äußern, durch Geistliche bzw. Religionsvertreter der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft. 4. Welchen Hintergrund weisen diese Seelsorger hinsichtlich ihrer Ausbildung auf? Die haupt- und nebenamtlich tätigen christlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger müssen ein abgeschlossenes Hochschulstudium in evangelischer oder katholischer Theologie, eine abgeschlossene mindestens zweijährige innerkirchliche Ausbildung (Vikariat/innerdiözesane Ausbildung), in der Regel mehrjährige Gemeindepraxis und eine spezielle Ausbildung in Seelsorge vorweisen. Für die islamische Gefängnisseelsorge in Deutschland sind solche Qualitätsanforderungen bislang nicht definiert. Die Justizministerkonferenz der Länder hat dem Votum der Deutschen Islamkonferenz folgend eine offene Länderarbeitsgruppe damit beauftragt, entsprechende Leitlinien bzw. Empfehlungen zu entwickeln. Die zurzeit in den niedersächsischen Justizvollzugsanstalten tätigen islamischen Seelsorgerinnen und Seelsorger haben ein islamtheologisches Hochschulstudium im Ausland, in der Regel in der Türkei, absolviert. Ein Seelsorger hat zudem ein Bachelorstudium in Islamischer Theologie in Deutschland abgeschlossen und befindet sich im Masterstudium. 5. Haben die Seelsorger eine Sicherheitsprüfung zu absolvieren? Die christlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger unterliegen keiner Sicherheitsüberprüfung. Für die islamischen Seelsorgerinnen und Seelsorger gilt folgendes Zulassungsverfahren: Sie müssen von den niedersächsischen Landesverbänden DITIB und Schura vorgeschlagen werden. Sodann führen sie ein Vorstellungsgespräch mit der Anstaltsleitung der jeweiligen Justizvollzugseinrichtung und haben ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen. Zudem wird durch das Landeskriminalamt überprüft, ob dort oder in den polizeilichen Verbunddateien Erkenntnisse - auch aus dem Bereich des polizeilichen Staatsschutzes - vorliegen. Sofern sich hierbei keine auf- Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/540 3 fälligen Erkenntnisse ergeben, werden die Bewerberinnen und Bewerber über ihre Rechte und Pflichten förmlich belehrt und bestätigen dies durch eine schriftliche Verpflichtungserklärung. Es folgt eine mindestens sechsmonatige Kennenlernphase, in der die angehenden Seelsorgerinnen und Seelsorger nur in Begleitung von erfahrenen Seelsorgerinnen und Seelsorgern oder Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Kontakt zu Inhaftierten haben dürfen. Nach erfolgreichem Verlauf dieser Phase erfolgt die Bestellung als Seelsorgerin oder Seelsorger durch das Justizministerium. Nach weiteren sechs Monaten überprüft die jeweilige Justizvollzugsanstalt den Verlauf der Zusammenarbeit . 6. Wie viele Häftlinge (Straf- und Untersuchungshaft) mit radikal religiösem oder politischem Hintergrund sind derzeit in den Justizvollzugsanstalten des Landes untergebracht ? Aktuell befinden sich im niedersächsischen Justizvollzug drei wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung der ausländischen terroristischen Vereinigung „IS“ verurteilte Gefangene in Strafhaft sowie elf weitere Gefangene wegen des Verdachts der Mitgliedschaft oder Unterstützung des IS in Untersuchungshaft . Im letzten Quartal 2017 ließen darüber hinaus bei insgesamt 29 Gefangenen vollzugliche Hinweise oder Erkenntnisse von Sicherheitsbehörden den Schluss zu, dass sie mit radikal-islamischen Überzeugungen sympathisieren. 7. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse darüber vor, dass sich Häftlinge in den Jahren 2014, 2015, 2016 und 2017 während ihrer Haftzeit selbst religiös oder politisch radikalisiert haben? Es liegen Erkenntnisse vor, dass sich in dem genannten Zeitraum ein Gefangener selbst radikalisiert hat. 8. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse darüber vor, dass Häftlinge während ihrer Haftzeit in den Jahren 2014, 2015, 2016 und 2017 von Dritten religiös oder politisch radikalisiert wurden? Es liegen Erkenntnisse vor, dass in dem genannten Zeitraum bei insgesamt drei Gefangenen von Mitgefangenen zumindest Sympathien für radikal-islamische Überzeugungen geweckt worden sind. 9. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse darüber vor, dass Häftlinge in den Jahren 2014, 2015, 2016 und 2017 während ihrer Haftzeit von Dritten für islamistischen Terrorismus rekrutiert wurden? Wurden Inhaftierte muslimischen Glaubens während ihrer Haftzeit erstmalig polizeilich als relevante Personen oder als Gefährder eingestuft? Wenn ja, in wie vielen Fällen? Liegen der Landesregierung Erkenntnisse darüber vor, dass es im genannten Zeitraum zu entsprechenden Versuchen kam, und, wenn ja, in wie vielen Fällen? Es liegen Erkenntnisse darüber vor, dass im Jahr 2017 ein Gefangener versucht hat, einen Mitgefangenen für den islamistischen Terrorismus zu rekrutieren. Durch die Polizei Niedersachsen wurden in den Jahren 2014, 2015, 2016 und 2017 insgesamt vier Personen als Gefährder eingestuft, die zum Zeitpunkt der Einstufung inhaftiert waren. Grundannahme bei der Beantwortung ist, dass eine Person, die aufgrund polizeilicher Erkenntnisse dem islamistischen Spektrum zuzuordnen ist, auch muslimischen Glaubens ist. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/540 4 10. Welche Maßnahmen gegen die in den Fragen 7 bis 9 genannten Phänomene werden in den Justizvollzugsanstalten des Landes bereits umgesetzt? Der niedersächsische Justizvollzug ist sich seiner Verantwortung im Umgang mit Gefangenen, die dem politischen und religiösen Extremismus zuzuordnen sind, bewusst. Radikal-islamische Gefangene werden dezentral in den verschiedenen Justizvollzugseinrichtungen untergebracht. Damit werden einem Gruppendruck entgegengewirkt und die unverzichtbare kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Überzeugung und das Aufbrechen terroristischer Denkstrukturen ermöglicht . Gefangene, die dem politischen und religiösen Extremismus zuzuordnen sind, stehen unter besonderer Beobachtung. Es gilt zu verhindern, dass diese Gefangenen ihre extremistischen Vorstellungen weiter verbreiten oder sich durch Außenkontakte bestärken lassen. Die zur Gefahrenabwehr anzuordnenden Maßnahmen sind vielschichtig und reichen von einer verstärkten Beobachtung über Überwachungsmaßnahmen bei Besuchen, Telefonaten oder des Schriftwechsels bis hin zur unausgesetzten Absonderung von Mitgefangenen. Neben verstärkten Sicherheitsmaßnahmen kommen der Prävention und der Deradikalisierung von Gefangenen, die dem politisch und religiös motivierten Extremismus zuzurechnen sind, besondere Bedeutung zu. Der niedersächsische Justizvollzug verfügt über ein gut ausgebautes Maßnahmenangebot , das darauf abzielt, eine rechtskonforme Lebensweise zu unterstützen. Diese Maßnahmen sind grundsätzlich auch dazu geeignet, einer Hinwendung zu extremistischen und gewaltorientierten Verhaltensweisen entgegenzuwirken. Die Themen (De-)Radikalisierung, Extremismus und Prävention extremistisch motivierter Gewalt stellen zentrale Aufgaben des Justizvollzugs dar. Es geht darum, Radikalisierungsprozessen vorzubeugen , diese möglichst frühzeitig zu erkennen und zu unterbrechen, Distanzierungsprozesse einzuleiten und Ausstiegswillige zu begleiten sowie deren Wiedereingliederung in unsere demokratische Gesellschaft zu ermöglichen. Gleichermaßen wird dem Sicherheitsinteresse unserer Gesellschaft auf der einen Seite und dem Resozialisierungs- und Integrationsauftrag des Justizvollzugs und der Bewährungshilfe auf der anderen Seite Rechnung getragen. Dieses soll durch bedarfsgerechte Angebote zur Stärkung demokratischer Haltungen im Sinne der Extremismusprävention sowie spezifischer Angebote der Distanzierung und des Ausstiegs für bereits radikalisierte islamistische Extremisten ermöglicht werden. Im Bereich islamistischer Extremismus wurde seit dem 01.03.2016 in Zusammenarbeit mit Violence Prevention Network e. V. (VPN), einem bundesweit anerkannten Fachträger, ein Programm zur „De-Radikalisierung und Ausstiegsbegleitung für islamistische Gefangene im niedersächsischen Justizvollzug“ erprobt. Zwischenzeitlich konnte dieses Programm ausgebaut werden und wird seit dem 01.07.2017 als Projekt „Fokus ISLEX - Mobile Maßnahmen zur Prävention und Deradikalisierung im niedersächsischen Justizvollzug und in der Bewährungshilfe“ fortgeführt. Das Projekt wird über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ bis 2019 mit Bundesmitteln unterstützt. Die Schwerpunkte liegen im Bereich islamistischer Extremismus und phänomenübergreifende Gewalt (Antiaggressions- und Antigewaltarbeit). Die Maßnahmen werden im Frauen-, Männer- und Jugendvollzug sowie in der Bewährungshilfe angeboten. Die Hauptzielgruppe sind Menschen, die im Begriff sind, sich zu radikalisieren oder demokratiefeindliche Haltungen zu entwickeln oder bereits radikalisiert sind. Das Maßnahmenpaket umfasst die Prävention, Fortbildung, Intervention und Deradikalisierung im niedersächsischen Justizvollzug und in der Bewährungshilfe. Die Maßnahmen decken alle Phasen von „typischen“ Radikalisierungsprozessen ab und erstrecken sich von der Diagnostik über Interventionsmaßnahmen bis hin zur Reintegration und gegebenenfalls Ausstiegsbegleitung der betroffenen Straftäterinnen und Straftäter. (Verteilt am 28.03.2018) Drucksache 18/540 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Stephan Bothe (AfD) Antwort des Niedersächsischen Justizministeriums Besondere Behandlung und Radikalisierung von bekennenden religiösen Häftlingen in Justizvollzugsanstalten?