Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/541 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Belit Onay, Helge Limburg, Anja Piel und Dragos Pancescu (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung Rechtswidrige Abschiebungshaft Anfrage der Abgeordneten Belit Onay, Helge Limburg, Anja Piel und Dragos Pancescu (GRÜNE), eingegangen am 14.02.2018 - Drs. 18/340 an die Staatskanzlei übersandt am 22.02.2018 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung vom 22.03.2018, gezeichnet In Vertretung Stephan Manke Vorbemerkung der Abgeordneten Ende Juli 2017 ist das „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“, von manchen Verbänden auch als „Hau-ab-Gesetz“ betitelt, bundesweit in Kraft getreten. Nach Ansicht des Flüchtlingsrats Niedersachsen sah das Gesetz u. a. vor, „im Asylverfahren durch die Massenauslesung von Handydaten den ‚gläsernen Flüchtling‘ zu schaffen. Schutzsuchende sollen außerdem über die bisherige sechsmonatige Frist hinaus in Erstaufnahmeeinrichtungen festgehalten werden können. Das führt zu einer Dauerisolierung und erschwert für die Betroffenen den Kontakt zu Ehrenamtlichen , Beratungsstellen und Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten. Zudem ermöglicht das Gesetz Abschiebungen ohne vorherige Ankündigung selbst für Menschen, die länger als ein Jahr geduldet sind. Betroffene werden in den Ausreisegewahrsam oder in Abschiebehaft genommen. Hier ist der Zugang zu Rechtsmitteln erschwert. Das bereits vom Bundesverfassungsgericht verworfene Recht zur Vaterschaftsanerkennung soll mit dem Gesetzentwurf nun im neuen Gewand eingeführt werden , was für die Kinder bedeutet, dass sie so lange ohne geklärte Staatsangehörigkeit bleiben.“ Amnesty International sagte in einer Pressemitteilung vom 18.05.2017: „Der aktuelle Gesetzesentwurf steht in einer Reihe von Gesetzen zur inneren Sicherheit, die verschiedene aus menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Sicht kritische Aspekte beinhalten.“ Die damalige rot-grüne Landesregierung hat das Gesetz im Bundesrat nicht mitgetragen. In einer Pressemitteilung vom 11.01.2018 stellte der Flüchtlingsrat Niedersachsen fest, rund ein Viertel aller Inhaftierungen im Rahmen von Abschiebungshaft in Niedersachsen habe sich nach erneuter gerichtlicher Prüfung als rechtswidrig erwiesen; nationale und internationale Grund- und Verfahrensrechte würden viel zu häufig missachtet. Das habe sich im Rahmen seines Projekts „Beratung in Abschiebungshaft“ herausgestellt. Zusammengerechnet kämen die innerhalb eines Jahres beratenen 48 Personen auf insgesamt 953 rechtswidrige Hafttage, womit sich jede von ihnen durchschnittlich 19,85 Tage rechtswidrig in Haft befunden habe. Überdies seien mindestens 29 Personen inhaftiert und sodann wieder aus der Haft entlassen worden, ohne dass es zu einer Abschiebung respektive Überstellung gekommen wäre. Diese 29 Personen seien zusammengerechnet 687 und damit im Durchschnitt ca. 23,7 Tage inhaftiert gewesen. Insbesondere - aber nicht nur - vor dem Hintergrund der Fehlerquote werde laut Flüchtlingsrat zudem deutlich, dass die Landesregierung endlich handeln und ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz erlassen müsse, das die Rechte und Pflichten der Gefangenen verbindlich und justiziabel regelt. Die in der Abschiebungshaftanstalt Langenhagen angewandte „Hausordnung“ tue dies jedenfalls nicht. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/541 2 1. a) Wie oft wurde seit Inkrafttreten des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht in Niedersachsen von der neuen Möglichkeit der Abschiebung ohne vorherige Ankündigung bei Menschen, die länger als ein Jahr geduldet sind, Gebrauch gemacht? Die Fragestellung spricht zwei unterschiedliche Rechtsänderungen an, die zu unterscheiden sind. Mit Inkrafttreten des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes, dem sogenannten Asylpaket I, am 24.10.2015 ist § 59 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) um Satz 8 erweitert worden. Danach darf einem Ausländer nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise der Termin für eine Abschiebung nicht angekündigt werden. Diese Neuregelung schafft keine Möglichkeit, von der die Ausländerbehörden Gebrauch machen können, sondern konstituiert hinsichtlich des konkreten Abschiebungstermins ein striktes Ankündigungsverbot. Mit dem Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, das am 29.07.2017 in Kraft getreten ist, hat § 60 a Abs. 5 Satz 4 AufenthG durch die Einfügung eines neuen Satzes 5 eine Änderung erfahren. Nach Satz 4 ist in den Fällen, in denen die Abschiebung länger als ein Jahr ausgesetzt ist, die durch Widerruf vorgesehene Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen . Diese Ankündigung bezieht sich nicht auf den konkreten Abschiebungstermin, sondern dient dazu, bei langfristigen Duldungen der betroffenen Person für den Fall der Aufenthaltsbeendigung eine gewisse Vorbereitungszeit einzuräumen. Nach dem neuen Satz 5 findet Satz 4 keine Anwendung , wenn der Ausländer die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe durch vorsätzlich falsche Angaben oder durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit selbst herbeiführt oder zumutbare Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen nicht erfüllt. Vom Verbot der Bekanntgabe des genauen Abschiebungstermins gemäß § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG sind die Maßgaben des § 60 a Abs. 5 Sätze 4 und 5 AufenthG zu unterscheiden. Über die Ankündigungen nach § 60 a Abs. 5 Sätze 4 und 5 AufenthG erfassen die Ausländerbehörden keine statistischen Daten. Alle Abschiebungen, die seit Inkrafttreten des sogenannten Asylpakets I vollzogen worden sind, erfolgten ohne vorherige Bekanntgabe des Abschiebungstermins. Insgesamt sind vom 29.07.2017 bis 31.01.2018 aus Niedersachsen 762 Personen abgeschoben worden, davon wurden 262 Personen nach der Dublin-III-VO in den EU-Staat überstellt, der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. b) Wie viele der Betroffenen aus a) wurden in den Ausreisegewahrsam genommen? In Niedersachsen besteht keine Einrichtung, die für einen Ausreisegewahrsam nach § 62 b AufenthG genutzt werden könnte. c) Wie viele der Betroffenen aus a) wurden in Abschiebungshaft genommen? Von den genannten 762 Abschiebungen wurden 132 aus der Abschiebungshaft vollzogen. 2. Wie bewertet die Landesregierung die vom Flüchtlingsrat angegebene Fehlerquote - auch im Vergleich zu den Fehlerquoten bei Strafverfolgungsmaßnahmen (bitte hierzu Zahlen zum Vergleich nennen) - bei der Abschiebungshaft, und welche Konsequenzen zieht sie aus diesen Quoten? Mit Wirkung zum 01.01.2018 sind aufgrund § 8 b der Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten in der Gerichtsbarkeit und der Justizverwaltung (ZustVO-Justiz) für Abschiebungs-, Zurückschiebungs - und Zurückweisungshaftsachen nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, für die die Amtsgerichte zuständig sind, zentral die dort genannten Amtsgerichte zuständig. In Angelegenheiten, die seltener vorkommen und die ein Spezialgebiet betreffen, ist eine bessere Qualität der Rechtsprechung gewährleistet , wenn ein Gericht regelmäßig damit befasst ist. Ebenso werden die Konstanz der Rechtspre- Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/541 3 chung und eine an praktischen Erfahrungen orientierte Rechtsfortbildung gewährleistet und die Spezialisierung der Richterinnen und Richter gefördert. Seit dem Jahr 2014 wurden vier niedersächsische Fortbildungsveranstaltungen zum Thema „Abschiebungshaftrecht“ durchgeführt mit insgesamt 96 Teilnehmenden aus dem richterlichen Dienst. Der Fortbildungsbedarf besteht fort, da die nach der Zuständigkeitskonzentration mit dem Thema befassten Richterinnen und Richter zu schulen sind, soweit dies noch nicht geschehen ist. Die nächste Veranstaltung findet im September 2018 statt. Auch auf Ebene der Deutschen Richterakademie wird zu diesem Thema fortgebildet. Ob und inwieweit bestimmte richterliche Entscheidungen im Instanzenzug der rechtlichen Nachprüfung standhalten, wird vom MJ nicht erhoben. 3. Zu welchen Ergebnissen kommt die Statistik der Landesregierung gemäß Punkt 9 des Rückführungserlasses in der Fassung vom 24.08.2016 über a) die Stellung von Abschiebungshaftanträgen seitens der Ausländerbehörden, b) den Erlass von Haftbeschlüssen durch die Gerichte, c) den Ausgang von Abschiebungshaftverfahren einschließlich der im Verfahren ergangenen richterlichen Beschlüsse in möglichen Beschwerdeverfahren für den Zeitraum vom 01.08.2016 bis heute? Da vom Land entsprechende Daten statistisch nicht generiert werden, erfolgte zur Ermittlung der Statistik zu Punkt 9 des Rückführungserlasses in der Fassung vom 24.08.2016 eine anlassbezogene Abfrage bei den Ausländerbehörden (ABH). 47 der 53 Ausländerbehörden sind der Aufforderung nachgekommen und meldeten folgende Daten: Zu a: Es wurden 550 Haftanträge gestellt. Zu b: Es wurden daraufhin 495 Haftbeschlüsse erteilt. Zu c: Haftanträge zurückgezogen 34 Beschwerden von ABH 4 - davon stattgegeben 0 - davon abgelehnt 4 Beschwerden von ausländischen Personen: 129 * - davon stattgegeben 63 - davon abgelehnt 31 - Offene Verfahren 9 Verfahren eingestellt 2 Abgeschobene Personen 226 Aus Haft entlassen (beispielsweise aufgrund fehlender Papiere) 2 * nicht alle Ausländerbehörden teilten den Ausgang des jeweiligen Beschwerdeverfahrens mit, sodass es zu einer Differenz zwischen der Anzahl der Beschwerdeverfahren und der Summe aus stattgegebenen, abgelehnten und offenen Verfahren kommt. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/541 4 4. Wie bewertet die Landesregierung angesichts der Fehlerquoten bei der Abschiebungshaft die Auswirkungen der Regelungen zur Inhaftierung bei Abschiebungen ohne vorherige Ankündigung für Menschen, die länger als ein Jahr geduldet sind, im Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, und welche Konsequenzen zieht sie daraus ? Die Landesregierung sieht keinen Zusammenhang zwischen der in § 60 a Abs. 5 Satz 5 AufenthG getroffenen Regelung und der Anordnung von Abschiebungshaft. 5. Beabsichtigt die Landesregierung, ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz zu erlassen (bitte die Antwort begründen)? Die Frage, ob ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz des Landes erlassen werden soll, befindet sich noch in der Abstimmung zwischen den beteiligten Ressorts. 6. Beabsichtigt die Landesregierung, ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz zu erlassen (bitte die Antwort begründen)? Siehe Antwort zu Frage 5 (identische Fragestellung). (Verteilt am 28.03.2018) Drucksache 18/541 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Belit Onay, Helge Limburg, Anja Piel und Dragos Pancescu (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport Rechtswidrige Abschiebungshaft