Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/6965 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Stephan Bothe (AfD) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung Nachfrage zur Drucksache 18/6534: Was meint der niedersächsische Verfassungsschutzchef mit „Augenwischerei“? Anfrage des Abgeordneten Stephan Bothe (AfD), eingegangen am 30.05.2020 - Drs. 18/6648 an die Staatskanzlei übersandt am 08.06.2020 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung vom 06.07.2020 Vorbemerkung des Abgeordneten Die folgenden Fragen beziehen sich auf die Antworten der Landesregierung in der Drucksache 18/6534 auf meine Kleine Anfrage in der Drucksache 18/6323 sowie zu Aussagen des Ministers Pistorius. 1. Wer sind nach Kenntnis der Landesregierung die Funktionsträger des ehemaligen „Flügels “ in Niedersachsen, und welche Aufgaben nehmen/nahmen diese in Form ihrer Funktion wahr? Der niedersächsische Verfassungsschutz nimmt keine öffentliche Nennung bzw. Bewertung von Personen als extremistisch oder Teil einer extremistischen Bestrebung vor, sofern diese nicht bereits öffentlich als erwiesen extremistisch oder Teil einer extremistischen Bestrebung bekannt sind. 2. Welche Landtagsabgeordneten haben „enge Kontaktverhältnisse“ zu „zentralen Akteuren “ des ehemaligen „Flügels“, und wie stellen sich diese konkret dar? Siehe Antwort zu Frage 1. 3. Welche konkreten Kriterien gelten aus Sicht der Landesregierung, um ein Anhänger bzw. Unterstützer des ehemaligen „Flügels“ zu sein? Die Zuordnung von Personen zum „Flügel“ erfolgt anhand einheitlicher Kriterien. Valide Kriterien sind z. B. ein Selbstbekenntnis zum „Flügel“ oder die Übernahme einer offiziellen Funktion, etwa die eines sogenannten Obmannes oder Ansprechpartners. Auch die ausdrückliche und unmittelbare Unterstützung des „Flügels“ kann im Zusammenhang mit anderen Kriterien, wie etwa einer wiederholten Teilnahme an „Flügel“-Treffen oder der Unterzeichnung der sogenannten Erfurter Resolution, eine Zuordnung zum „Flügel“ ermöglichen. Eine Zuordnung zum „Flügel“ basiert somit ausschließlich auf individuellen Verhaltensweisen. 4. Reichen bloße Abonnements von AfD-Mitgliedern in den sozialen Medien mittels „Liken“, „Folgen“ etc. aus, um aus Sicht der Landesregierung als Anhänger und/oder Unterstützer /Sympathisant des ehemaligen „Flügels“ zu gelten? Ein bloßes Abonnement von dem „Flügel“ zuzuordnenden Profilen bzw. deren „Liken“ oder „Folgen“ stellt für den niedersächsischen Verfassungsschutz kein ausreichendes Zuordnungskriterium dar. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/6965 2 5. Reichen zustimmende Kommentierungen in den sozialen Medien unter Beiträgen von „Flügelrepräsentanten“ aus, um aus Sicht der Landesregierung als Anhänger und/oder Unterstützer/Sympathisant des ehemaligen „Flügels“ zu gelten? Die wiederholte ausdrückliche und unmittelbare Unterstützung des „Flügels“, beispielsweise in Form von Kommentierungen in den sozialen Medien, kann im Zusammenhang mit weiteren Kriterien eine Zuordnung ermöglichen. (siehe Antwort zu Frage 3) 6. Welche in Wort und Schrift erfolgten fortlaufenden Verstöße wurden von „Flügel“-Funktionären und Anhängern gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und deren Wesensmerkmal der Menschenwürde sowie gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip getätigt (bitte um Angabe der konkreten Äußerung, der Person, des Zeitpunktes und des jeweiligen Mediums sowie Umfang des erreichten Personenkreises)? Am 28. Mai 2020 erging der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin zum Eilverfahren der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) gegen das Bundesinnenministerium. Mit dem Eilverfahren wollte die AfD die Nennung des „Flügels“ im Verfassungsschutzbericht 2019 gerichtlich unterbinden lassen. Der Eilantrag wurde jedoch vom Verwaltungsgericht Berlin vollumfänglich abgewiesen.1 Demnach bestehen „tatsächliche Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht dafür, dass zentrale politische Vorstellungen des Flügels der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand ist und ethnisch ‚Fremde‘ nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben sollen.“ Weiter heißt es: „Ein dergestalt völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff verstößt gegen die Menschenwürde. Denn die Menschenwürde nach Art.ikel1 Abs. 1 GG umfasst die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, ungeachtet aller tatsächlich bestehenden Unterschiede.“2 Als Beleg zieht das Verwaltungsgericht verschiedene öffentlich zugängliche Aussagen von „Flügel“- Vertretern heran.3 Allein die Grundrechtsverstöße gegen die Menschenwürde würden nach Ansicht des Verwaltungsgerichts reichen, um die Verfassungsfeindlichkeit des „Flügels“ zu belegen: „Nach Auffassung der Kammer liegen damit bereits ausreichend tatsächliche Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht dafür vor, dass Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung beim Flügel gegeben sind.“4 Verstöße des „Flügels“ gegen das Demokratieprinzip sind vor allem durch eine vollumfängliche Ablehnung der gegenwärtigen politischen Ordnung und deren Verantwortungsträger zu beobachten. Belege hierfür finden sich u. a. in Redebeiträgen beim sogenannten Kyffhäusertreffen 2019 des „Flügels “, wenn die etablierten politischen Parteien bzw. deren Vertreter als „Kartellparteien“, „Deutschlandhasser “ oder „Antideutsche“ bezeichnet werden. Auch der Vergleich und der damit einhergehende Versuch einer Gleichsetzung der gegenwärtigen politischen Ordnung der Bundesrepublik mit der eines totalitären Staates wie der DDR stellt ein gängiges Narrativ des „Flügels“ dar, welches dazu geeignet ist, den Parlamentarismus sowie die demokratischen Parteien und Institutionen verächtlich zu machen. Das Rechtsstaatsprinzip wird vom „Flügel“ dadurch angetastet, dass Teile seiner Anhängerschaft das staatliche Gewaltmonopol infrage stellen, etwa durch die Forderung nach Bürgerwehren, oder die Bindung der Staatsgewalt an Recht und Gesetz durch kontinuierliche Andeutungen in Abrede gestellt wird. Die genannten tatsächlichen Anhaltpunkte lassen sich aus öffentlich zugänglichen Quellen bzw. Äußerungen erheben und sind Personen zuzurechnen, die anhand der o. g. Kriterien objektiv dem „Flügel“ zugeordnet werden können (siehe Antwort zu Frage 3). 1 Beschluss Az. VG 1 L/97/20. 2 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S.17. 3 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 17ff. 4 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 20. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/6965 3 7. Welche in Wort und Schrift erfolgten fortlaufenden Verstöße wurden von niedersächsischen „Flügel“-Funktionären und Anhängern gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und deren Wesensmerkmal der Menschenwürde sowie gegen das Demokratie - und Rechtsstaatsprinzip getätigt (bitte um Angabe der konkreten Äußerung, der Person, des Zeitpunktes und des jeweiligen Mediums sowie Umfang des erreichten Personenkreises )? Siehe Antworten zu den Fragen 1 und 6. 8. Wie stellen sich die „in Niedersachsen ausgebauten und professionalisierten Strukturen “ dar (bitte um detaillierte Angabe)? In dem o. g. Beschluss geht das Verwaltungsgerichts Berlin auch auf die Organisationsstruktur des „Flügels“ ein. Das Gericht bestätigt darin die Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutzes , welcher sich auch der niedersächsische Verfassungsschutz anschließt: „Beim Flügel handelt es sich um einen Personenzusammenschluss (…) Hinter dem Begriff Flügel verbirgt sich eine Mehrheit von Personen. Dies folgt schon aus der Anzahl der Erstunterzeichner der ‚Erfurter Resolution‘, der erklärten ‚Gründungsurkunde des Flügels‘.“5 Im Beschluss heißt es weiter: „Die Existenz des Flügels wird im Übrigen auch durch die Antragstellerin (die Partei ‚Alternative für Deutschland‘, Anm. d. Verf.) dem Grunde nach nicht in Abrede gestellt. Dies zeigt nicht zuletzt der Beschluss des Bundesvorstandes der Antragstellerin vom 6. April 2020, aus dem sich im Übrigen auch ablesen lässt, dass der Flügel über eine Organisationsstruktur verfügt.“6 Die Existenz dieser Organisationsstruktur sieht das Verwaltungsgericht Berlin u. a. dadurch belegt, dass der „Flügel“ am 20. März 2020 vom AfD-Bundesvorstand aufgefordert wurde, er solle bis zum 30. April 2020 alle „Obleute (Landesbeauftragte) abberufen und diese Strukturen auflösen, die Logonutzung ‚Der Flügel‘ beenden (…) die Webseite(n) des Flügels abschalten und die Flügel-Facebookseiten (…) beenden.“7 Da es sich beim „Flügel“ um einen bundesweit tätigen, ziel- und zweckgerichteten Personenzusammenschluss handelt, sind die angeführten ausgebauten und professionalisierten Strukturen auch für niedersächsische Anhänger nutz- und verfügbar. 9. Wie stellen sich die „bundesweit einheitlichen Ansichten, Zielsetzungen und Führungspersonen “ des ehemaligen „Flügels“ konkret dar? Das Verwaltungsgericht Berlin hat sich auch zu dieser Thematik geäußert. In dem o. g. Beschluss heißt es wörtlich: „Diese Personenmehrheit (Unterzeichner der ‚Erfurter Resolution‘, Anm. d. Verf.) verfolgt auch einen gemeinsamen Zweck, wie sich schon aus der ‚Erfurter Resolution‘ ablesen lässt. Darin wird der gemeinsame Zweck im Kern dahin gehend beschrieben, dass der Flügel dazu dienen solle, gegenzusteuern gegen Anpassung der Antragstellerin (der Partei „Alternative für Deutschland“, Anm. d. Verf.) an den etablierten Politikbetrieb. Die Antragstellerin solle sich vielmehr für eine grundsätzliche politische Wende in Deutschland einsetzen.“8 Die konkrete Definition dieser Anpassungsverhinderung wird aus Sicht des niedersächsischen Verfassungsschutzes in erster Linie von den Führungspersonen des „Flügels“ vorgenommen. Die damit einhergehende Fixierung der übrigen Anhänger auf die Vorgaben der Führungspersonen schließt aus, dass sich regionale Gruppen des „Flügels“ herausbilden können, die davon abweichende, eigenständige Ansichten formulieren. Hieraus resultiert eine bundesweit einheitliche politische Zielsetzung . Darüber hinaus ist die „Erfurter Resolution“ nicht auf eine spezifisch regionale Anwendung 5 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 16; siehe auch LT-Drs. 18/6534. 6 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 16. 7 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 16. 8 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 16. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/6965 4 ausgerichtet, sondern auf den politischen Kurs der Gesamtpartei und damit auf die Entfaltung bundesweiter Wirkung.9 10. Welche konkreten Aussagen von in Niedersachsen wohnhaften bzw. tätigen Anhängern und Unterstützern des ehemaligen „Flügels“ beziehen sich auf die „bundesweit einheitlichen Ansichten, Zielsetzungen und Führungspersonen“? Siehe Antworten zu den Fragen 1 und 9. 11. Wie valide sind die Angaben über das zahlenmäßige Anhängerpotenzial des ehemaligen „Flügels“ von Prof. Meuthen, wenn dieser selbst keine gesicherten Zahlen hat und spekuliert ? Das Verwaltungsgericht Berlin stellte im Eilverfahren der AfD gegen das Bundesinnenministerium am 28. Mai 2020 fest, dass die beabsichtigte Erwähnung der vom Bundesamt für Verfassungsschutz geschätzten 7 000 Mitglieder des „Flügels“ rechtmäßig ist. Analog zum niedersächsischen Verfassungsschutz wurde hierbei von 20 % der AfD-Mitglieder ausgegangen.10 Das Verwaltungsgericht Berlin hält es für eine plausible Herangehensweise, dass diese Schätzung anhand „von Aussagen exponierter Vertreter des Flügels erfolgt sei.“11 Weiter heißt es, das auf 20 % geschätzte Personenpotenzial sei „zurückhaltend geschätzt, denn nach einem Facebook-Eintrag von Björn Höcke vom 28. November 2019 fühlten sich mindestens ein Drittel der rund 35 000 Mitglieder der Antragstellerin (der Partei „Alternative für Deutschland“, Anm. d. Verf.) dem Flügel verbunden.“12 Das Gericht fügt ergänzend hinzu: „Das diese Schätzung nicht aus der Luft gegriffen ist, verdeutlichen die jüngsten Beschlüsse des Bundesvorstandes der Antragstellerin. So macht die Aufforderung vom 6. April 2020 an den Flügel, sich aufzulösen, bei verständiger Wirkung nur Sinn, wenn dieser nicht nur von völlig untergeordneter Bedeutung wäre. (…) Auch der Beschluss des Bundesvorstandes vom 15. Mai 2020, die Parteimitgliedschaft von Andreas Kalbitz aufzuheben, kann als Indiz für die Bedeutung des Flügels herangezogen werden, da die Antragstellerin selbst diesen Schritt als gegen den Flügel gerichtete Initiative verstanden wissen will. Kommt dem Flügel aber kein nennenswertes (personelles) Gewicht innerhalb der Antragstellerin zu, verwundert das äußerst knappe Abstimmungsergebnis .“13 Die Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage „Was meint der niedersächsische Verfassungsschutzchef mit ‚Augenwischerei‘?“ (Drs. 18/6534) und der darin enthaltene Verweis auf die Schätzung des AfD-Bundessprechers ist auch vor diesem Hintergrund zu verstehen. 12. Liegen der Landesregierung neben den Aussagen von Prof. Meuthen zu dem vermeintlichen Anhängerpotenzial des ehemaligen „Flügels“ weitere Informationen vor, oder wie rechtfertigt sie ihre Erhebung, dass 20 % der niedersächsischen AfD-Mitglieder potenzielle ehemalige „Flügel-Anhänger“ sein sollen? Siehe Antwort zu Frage 11. 9 Siehe auch LT-Drs. 18/6534. 10 Siehe auch LT-Drs. 18/6534. 11 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 24 12 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 24 13 Beschluss Az. VG 1 L/97/20, S. 24 Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/6965 13 Di „F Di te (s ru zu ve (V 5 . Wen oder was meint Minister Pistorius konkret mit „völkischen Zusammenschluss“ innerhalb der AfD-Niedersachsen, der seitens des Verfassungsschutzes beobachtet wird? ese Aussage bezieht sich auf den Personenzusammenschluss, der nach den o. g. Kriterien dem lügel“ bzw. einer etwaigen Nachfolgestruktur zugeordnet werden kann (siehe Antwort zu Frage 3). e Bezeichnung als „völkischer Zusammenschluss“ basiert auf den o. g. tatsächlichen Anhaltspunkn für einen ethnischen Volksbegriff, der durch diesen Personenzusammenschluss vertreten wird iehe Antwort zu Frage 6). Ein solcher Volksbegriff impliziert den Ausschluss bestimmter Bevölkengsgruppen , die als fremd oder fremdartig wahrgenommen werden, er steht damit im Widerspruch Artikel 1 Abs. 1 GG (Schutz der Menschenwürde) und zu Artikel 3 Abs. 3 GG (Diskriminierungsrbot ). erteilt am 10.07.2020) Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LTmit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Stephan Bothe (AfD) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung Nachfrage zur Drucksache 18/6534: Was meint der niedersächsische Verfassungsschutzchef mit „Augenwischerei“?