Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/938 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Julia Willie Hamburg, Helge Limburg, Anja Piel und Belit Onay (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung Rechtswidrige Speicherung von Daten über Göttinger Aktivistinnen und Aktivisten Anfrage der Abgeordneten Julia Willie Hamburg, Helge Limburg, Anja Piel und Belit Onay (GRÜNE), eingegangen am 12.04.2018 - Drs. 18/694 an die Staatskanzlei übersandt am 18.04.2018 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung vom 22.05.2018, gezeichnet In Vertretung Stephan Manke Vorbemerkung der Abgeordneten Die Polizeidirektion Göttingen hat in den Klageverfahren zu Speicherungen von Daten linker Aktivistinnen und Aktivisten in Göttingen nun die Rechtswidrigkeit anerkannt. In einer Erklärung gegenüber dem Verwaltungsgericht Göttingen wurde mitgeteilt, dass die Speicherung der Daten ohne Kenntnis der Datenschutzbeauftragten rechtswidrig war. Im vergangenen Sommer 2017 hatten 24 Betroffene Klage eingereicht, weil über Jahre massenhaft Daten über sie in einem Ordner mit der Bezeichnung „LiMo“ gesammelt wurden. Zu diesen Ordnern in der Staatsschutzabteilung der Polizeidirektion Göttingen lag zu keinem Zeitpunkt eine offizielle Dateibeschreibung vor. Vor Bekanntwerden der Speicherung wurden die Akten vernichtet. Vorbemerkung der Landesregierung Nach Bekanntwerden des Vorwurfs einer rechtswidrigen Datensammlung in der Polizeiinspektion Göttingen über Angehörige der dortigen linken Szene im Ministerium für Inneres und Sport wurde die Polizeidirektion Göttingen erstmals am 19.06.2017 zur Stellungnahme durch das Ministerium für Inneres und Sport aufgefordert. Anlass der Berichterstattung war die Einreichung von 24 Klageschriften beim Verwaltungsgericht Göttingen, in denen der Polizeidirektion Göttingen u. a. die rechtswidrige Erhebung und Speicherung personenbezogener Daten durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fachkommissariats „Staatsschutz“ der Polizeiinspektion Göttingen vorgeworfen wurde. Auslöser der Klageverfahren war ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren gegen einen früheren und mittlerweile pensionierten Mitarbeiter des Fachkommissariats Staatschutz, der Unterlagen unerlaubt kopiert und mit nach Hause genommen hatte. Die Entscheidung über die Eröffnung der Anklage steht derzeit noch aus. Die Polizeidirektion Göttingen hat ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ruht. Bezüglich der Einzelheiten zu den Klagevorwürfen sowie der noch laufenden Klageverfahren wird auf die Pressemitteilung der Polizeidirektion Göttingen vom 11.04.2018 verwiesen. Die Polizeidirektion Göttingen hat gegenüber dem Verwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit aus formalen Gründen in elf der eingereichten Klagen betreffend die Erhebung und Speicherung von Daten in Aktenordnern anerkannt, weil eine datenschutzrechtlich erforderliche Dateibeschreibung Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/938 2 gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG) fehlte. Die Bestimmung sieht vor, dass abweichend von § 8 Abs. 1 Satz 1 des Niedersächsischen Datenschutzgesetzes (NDSG) auch für die in einer nicht automatisierten polizeilichen Datei zu speichernden Daten eine Dateibeschreibung zu erstellen ist. Hintergrund der nicht automatisierten Datensammlung in Form von Ordnern mit der Bezeichnung „LiMo“ war nach Darstellung der Polizeidirektion Göttingen eine bis zum Jahr 2009 zurückreichende Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Bereich Göttingen. Danach war und ist die staatsschutzpolizeiliche Lage in Göttingen in besonderem Maße durch linksmotivierte Gefahrenlagen und Kriminalität geprägt und reicht von Hausfriedensbrüchen, Beleidigungen, Diebstählen und Sachbeschädigungen über Nötigungen bis hin zu Körperverletzungsdelikten und Brandstiftungen. Bei einem signifikanten Anteil der verübten Delikte handelt es sich um Gewalttaten, die mit erheblichen Schäden und Gefahren für Menschen einhergehen. Im Jahr 2010 wurde daraufhin im Fachkommissariat Staatsschutz der Polizeiinspektion Göttingen mit dem Aufbau einer Datensammlung in Form von Papierakten begonnen, um personenbezogene Erkenntnisse im Phänomenbereich der politisch motivierten Kriminalität - Links abzulegen. Bei den in den „LiMo“-Ordnern gespeicherten Daten handelte es sich überwiegend um Formblätter mit Meldedaten und Fotos. In Einzelfällen wurden diese Blätter mit Informationen zu Strafverfahren, aus Fernschreiben oder um sonstige polizeiliche Feststellungen ergänzt. Die Datensammlung diente als Ermittlungshilfe bei der Verfolgung und Aufklärung der politisch motivierten Kriminalität, der Verhütung von Straftaten und dem Erkennen von Tatzusammenhängen. Nach internen Untersuchungsergebnissen umfasste die Sammlung mutmaßlich fünf übliche Büro-Aktenordner. Nachdem bei einer Überprüfung im Jahr 2015 festgestellt worden war, dass die Datensammlung im Sinne repressiver und präventiver Maßnahmen im Bereich der Verfolgung linksmotivierter Straftaten nicht mehr zielführend und somit nicht mehr erforderlich war, wurden die fünf Aktenordner vom Fachkommissariat Staatsschutz Mitte des Jahres 2016, also zeitlich deutlich vor Bekanntwerden der Vorwürfe, rückhaltlos vernichtet. Aufgrund der vollständigen Vernichtung der Unterlagen sind keine konkreten und vollständigen Angaben zu den nicht mehr rekonstruierbaren Inhalten möglich. Derzeit sind nach Informationen der Polizeidirektion Göttingen insgesamt 26 Klageverfahren beim Verwaltungsgericht Göttingen anhängig. Zwölf dieser Verfahren betreffen die „LiMo“-Ordner. Die nach Bekanntwerden der Vorwürfe in der Polizeidirektion Göttingen durchgeführten internen Untersuchungen haben keinen Hinweis darauf ergeben, dass während des Bestands der Sammlung materiell -rechtswidrig Daten in die Ordner aufgenommen wurden. Der Rechtsanwalt der Kläger hat wegen der Aktenvernichtung eine Strafanzeige gegen unbekannte Polizeibeamte wegen Urkundenunterdrückung, Strafvereitelung im Amt pp. erstattet. Nach Darstellung der Polizeidirektion Göttingen hat die Staatsanwaltschaft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen fehlender Voraussetzungen abgelehnt. Diese Entscheidung wurde von der Generalstaatsanwaltschaft im Dezember 2017 bestätigt. Der behördliche Datenschutzbeauftragte der Polizeidirektion Göttingen hat vor dem Hintergrund der fehlenden Verfahrensbeschreibung die Einleitung von Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen den Leiter sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Staatsschutzkommissariats gemäß § 29 NDSG geprüft. Die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens wurde abgelehnt, da ausschließlich ein Verstoß gegen Formvorschriften festgestellt wurde und die Datenverarbeitung in materieller Hinsicht mit der Vorschrift des Nds. SOG in Einklang stand. 1. Welche Informationen hat die Landesregierung zu Art, Umfang und Hintergrund der rechtswidrigen Speicherungen? Siehe Vorbemerkung der Landesregierung. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/938 3 2. Welche Schritte hat die Landesregierung in diesem Zusammenhang bisher wann veranlasst ? Unmittelbar nach der Veröffentlichung am 17.06.2017 in den Printmedien wurde die Polizeidirektion Göttingen am 19.06.2017 um Berichterstattung gebeten, in deren Folge es weitere Berichterstattungen bzw. weiteren Informationsaustausch zwischen der Polizeidirektion Göttingen und dem Landespolizeipräsidium gab. Die Polizeidirektion Göttingen veranlasste unverzüglich eine intensive rechtliche und fachliche Prüfung. Die erste Berichterstattung der Polizeidirektion Göttingen erfolgte mit Datum vom 21.06.2017. Am 23.06.2017 erfolgte die Aufforderung zur wöchentlichen Fortschreibung des Sachstandes, am 03.07.2017 wurde die weitere fernmündliche wöchentliche Berichterstattung über wesentliche Sachstandsänderungen erbeten. Eine weitere schriftliche Berichterstattung durch die Polizeidirektion Göttingen erfolgte am 19.09.2017. Des Weiteren erfolgte in internen Dienstbesprechungen eine Sensibilisierung hinsichtlich der Notwendigkeit von Dateibeschreibungen. Auf die externe Öffentlichkeitsarbeit der Polizeidirektion Göttingen wird verwiesen. 3. Welche weiteren Schritte sind für eine lückenlose Aufklärung dieses Sachverhaltes geplant ? Seitens der Polizeidirektion Göttingen wurde unmittelbar nach Bekanntwerden die stabsinterne „Arbeitsgruppe Datensammlung“ zur Aufklärung der Vorwürfe eingesetzt. Gegebenenfalls weitere erforderliche Maßnahmen werden nach Vorliegen der Ergebnisse der Klageverfahren geprüft. 4. Welche Konsequenzen zieht die Landesregierung aus den rechtswidrigen Speicherungen in diesem Fall? Die Thematik wurde in einer Dienstbesprechung des Ministeriums für Inneres und Sport mit den Behördenleiterinnen und Behördenleitern der Polizei aufgegriffen, damit diese eine Sensibilisierung in ihrem jeweiligen Geschäftsbereich vornehmen. Des Weiteren ist eine Thematisierung in den Besprechungen des Landespolizeipräsidiums mit den Polizeibehörden sowie in weiteren Besprechungen der Polizeibehörden und -einrichtungen vorgesehen. Die Erstellung einer Dateibeschreibung im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 2 Nds. SOG ist Aufgabe der die Sammlung zusammenstellenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese müssen der Behördenleitung die erforderlichen Informationen zukommen zu lassen, damit diese die Dateibeschreibung gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG erlassen kann. Dass die Erstellung einer Dateibeschreibung unterblieben ist, stellt ein individuelles Versagen im Einzelfall dar, hat aber keine strafrechtliche Relevanz . Aufgrund des individuellen Versäumnisses besteht keine Notwendigkeit für weitergehende strukturelle Konsequenzen. Im Übrigen siehe Vorbemerkung und Beantwortung der Frage 2. 4. a) Werden die rechtswidrigen Speicherungen eine Fehleranalyse des Innenministeriums nach sich ziehen? Siehe Vorbemerkung und Beantwortung der Frage 2. 4. b) Welche unmittelbaren personellen und strukturellen Konsequenzen werden in der Göttinger Polizeidirektion gezogen? Siehe Vorbemerkung und Beantwortung der Fragen 2 und 4. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/938 4 4. c) Welche disziplinarischen oder strafrechtlichen Maßnahmen wurden oder werden in der Göttinger Polizeidirektion ergriffen? Siehe Vorbemerkung und Beantwortung der Frage 4. 4. d) Wird es grundsätzliche strukturelle Veränderungen in den Polizeibehörden/Staatsschutzabteilungen geben, um solche Grundrechtsverstöße in Zukunft zu vermeiden? Siehe Vorbemerkung und Beantwortung der Frage 4. 4. e) Gedenkt die Landesregierung, die betroffenen Personen der rechtswidrigen Speicherungen angemessen zu informieren und gegebenenfalls zu entschädigen/rehabilitieren ? Aufgrund der bereits erfolgten Vernichtung der Sammlung können über die bei den Klägern vorliegenden Informationen hinaus keine weiteren Einzelheiten mitgeteilt werden. Öffentlichkeitsarbeit wurde vonseiten der Polizeidirektion Göttingen aktiv geleistet. Anlass für eine darüber hinausgehende Rehabilitation oder eine Entschädigung wird nicht gesehen. 5. Sind der Landesregierung weitere Datenschutzverstöße dieser Art in den Polizeibehörden in den letzten 15 Jahren bekannt (bitte aufschlüsseln nach Polizeidirektion, Zeitraum der Speicherung, Ort)? Dem Ministerium für Inneres und Sport wurde am 26.04.2018 im Rahmen der Behördenabfrage zu dieser Kleinen Anfrage bekannt, dass in der Polizeidirektion Hannover möglicherweise ein vergleichbarer Fall vorliegt. Die Behörde hat mitgeteilt, dass nach derzeitigem Kenntnisstand seit 2016 eine aktenmäßige Datensammlung im Zusammenhang mit sogenannten Reichsbürgern und Selbstverwaltern besteht, für die ebenfalls keine Dateibeschreibung gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 Nds. SOG vorliegt. Eine Prüfung wurde eingeleitet. Weitere Datenschutzverstöße dieser Art sind den Polizeibehörden nicht bekannt. 6. Gedenkt die Landesregierung vor dem Hintergrund dieses Vorfalls, eine Überprüfung der Datenspeicherungen im Bereich politisch motivierte Kriminalität vorzunehmen? Das Ministerium für Inneres und Sport hat im Zuge dieser Kleinen Anfrage die unter Frage 5 dargestellte Abfrage zu vergleichbaren Sammlungen und damit eine Überprüfung in allen Polizeibehörden vorgenommen. 6. a) In der Polizeidirektion Göttingen? Siehe Vorbemerkung und Beantwortung der Fragen 2 und 6. 6. b) In anderen Polizeidirektionen? Siehe Beantwortung der Frage 6. 7. Wurde die Landesbeauftragte für Datenschutz eingeschaltet, wenn ja, wie hat sie den Fall bewertet? Wenn nein, ist eine Befassung geplant? Die Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen hat mit Schreiben vom 31.08.2017 gemäß § 22 Abs. 4 NDSG die Ergebnisse der stabsinternen „Arbeitsgruppe Datensammlung“ von der Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/938 5 Polizeidirektion Göttingen angefordert und erhalten. Weiterer Schriftwechsel mit der Landesbeauftragten für Datenschutz ist derzeit nicht bekannt. (Verteilt am 23.05.2018) Drucksache 18/938 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage der Abgeordneten Julia Willie Hamburg, Helge Limburg, Anja Piel und Belit Onay (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport Rechtswidrige Speicherung von Daten über Göttinger Aktivistinnen und Aktivisten