Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/955 1 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Belit Onay (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung Wie gefährlich sind „Gefährder“ in Niedersachsen? Anfrage des Abgeordneten Belit Onay (GRÜNE), eingegangen am 19.04.2018 - Drs. 18/740 an die Staatskanzlei übersandt am 25.04.2018 Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung vom 24.05.2018, gezeichnet Boris Pistorius Vorbemerkung des Abgeordneten Laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 17. Dezember 2017 geht von fast der Hälfte der etwa 720 in Deutschland als Gefährder eingestuften radikalen Islamisten womöglich kein besonderes terroristisches Risiko aus. Dies soll das Bundeskriminalamt (BKA) mit einem neuen Analysesystem namens Radar-iTE (regelbasierte Analyse potenziell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus) herausgefunden haben. Dieses System hat das BKA seit Anfang 2015 gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie der Universität Konstanz entwickelt. Die in der Süddeutschen Zeitung zitierte Neubewertung sei dabei Ende November 2017 in Zusammenarbeit zwischen dem BKA und den Polizeibehörden der Länder erfolgt. Radari TE soll den Sicherheitsbehörden helfen, ihre Überwachung auf besonders relevante Personen zu richten. Für „eine einzelfallorientierte Bedrohungsbeurteilung und individuelle Maßnahmenberatung für die festgestellten Hoch-Risiko-Personen“ soll nach Angaben des BKA das zweistufige Risikoanalysesystem RISKANT entwickelt werden. Vorbemerkung der Landesregierung Die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern sind seit über 15 Jahren mit einer stetig steigenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus konfrontiert. Die Folge waren strukturelle, strategische und operative Fortentwicklungen bei der Bekämpfung des Phänomens, etwa durch die Einrichtung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ), die Einführung einer bundesweit einheitlichen Definition von Gefährdern und Relevanten Personen sowie die Festlegung von sogenannten Standardmaßnahmen für den Umgang mit Gefährdern. Seit Sommer 2017 wird mit RADAR-iTE ein Instrument eingesetzt, das den Polizeien in Bund und Ländern nun erstmals aufgrund einheitlich festgelegter Kriterien eine Bewertung des Risikopotenzials ermöglicht, das von Personen des militant-salafistischen Spektrums ausgeht. Die Einordnung erfolgt in einer dreistufigen Skala, das Ergebnis kann ein hohes, auffälliges oder moderates Risiko sein. Um diese Personen in einem weiteren Schritt effizient mit einheitlichen, abgestimmten Maßnahmen belegen zu können, wird derzeit das zweistufige Risiko-Analyse-System RISKANT entwickelt. Ziel ist es, dem kontinuierlich wachsenden Personenpotenzial im islamistischen Terrorismus mit einem einheitlichen Risikomanagement zu begegnen und polizeiliche Ressourcen gezielt und effektiv einsetzen zu können. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/955 2 Mit der bundesweiten Implementierung von RADAR-iTE stehen der niedersächsischen Polizei drei standardisierte Einstufungs- bzw. Bewertungssysteme mit unterschiedlichen Zielrichtungen im Kontext des militant-salafistischen Spektrums zur Verfügung. Während unter Zuhilfenahme des achtstufigen Prognosemodells des BKA eine Wahrscheinlichkeitsaussage hinsichtlich eines potenziellen Schadenseintritts getroffen wird, steht eine Einstufung als Gefährder/Relevante Person stellvertretend für die Annahme, dass sich eine Person in unterschiedlicher Art und Weise an politisch motivierten Straftaten beteiligen wird oder eine bestimmte Rolle in der (Salafisten-)Szene einnimmt. Das Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE stellt nunmehr ein zusätzliches Hilfsmittel für eine bundesweit einheitliche Bewertung und Differenzierung des bekannten Personenpotenzials dar, sofern eine Mindestmenge an Informationen zu Ereignissen aus dem Leben der Akteure bekannt ist. Vorgeschaltet sind den dargestellten Bewertungssystemen regelmäßig Fallkonferenzen auf örtlicher Ebene. 1. Wie viele Personen werden aktuell in Niedersachsen als sogenannte Gefährder nach welchem System eingestuft, und wie viele davon sind als radikale Islamisten mit einem besonders terroristischen Risiko eingestuft? Derzeit sind in Niedersachsen etwa 70 Personen als Gefährder gemäß der bundeseinheitlich festgelegten Definition eingestuft. Bei diesen Personen rechtfertigen bestimmte Tatsachen die Annahme, dass sie sich in unterschiedlicher Art und Weise an politisch motivierten Straftaten von erheblicher Bedeutung beteiligen könnten. Etwa die Hälfte der als Gefährder eingestuften Personen hat nach aktuellen Erkenntnissen ihren regelmäßigen Aufenthalt in Niedersachsen. Nach einer Bewertung mit RADAR-iTE geht von etwa der Hälfte der Gefährder auf freiem Fuß in Niedersachsen ein „hohes Risiko“ aus. 2. Seit wann werden die Gefährder/Islamisten in Niedersachsen durch das Analysesystem Radar-iTE eingestuft? Das Risikobewertungsinstrument „RADAR-iTE“ wurde mit Inkrafttreten der Richtlinie „Regelbasierte Analyse potenziell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus (RADAR-iTE)“ - VS NfD - am 10.04.2017 in Niedersachsen implementiert und wird seit Sommer 2017 effektiv genutzt. 3. Aus welchen Gründen hat sich die Landesregierung zur Nutzung des Analysesystem Radar-iTE entschieden, und wie bewertet die Landesregierung dieses neue Verfahren? RADAR-iTE wurde unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse vom BKA entwickelt und den Bundesländern zur Verfügung gestellt. Es bietet einen bundesweit einheitlichen Bewertungsmaßstab, macht analysierte Personen vergleichbar und erleichtert die Kommunikation über die bewerteten Personen. Da sich das Risikobewertungsinstrument derzeit noch in der Evaluierungsphase durch das BKA befindet , können keine validen Angaben hinsichtlich einer Bewertung zu dem Verfahren gemacht werden. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/955 3 4. Auf welcher Grundlage erfolgt bzw. erfolgte die Einstufung von Gefährdern bisher, und welche Kategorien der Einstufung wurden dabei zugrunde gelegt? Die Einstufung des Personenpotenzials erfolgte bisher sowie auch aktuell in die polizeilichen Kategorien „Gefährder“ und „Relevante Personen“. Hierbei handelt es sich um eine bundesweit einheitliche Kategorisierung, welche in Niedersachsen durch das LKA Niedersachsen (Dezernat 43) vorgenommen wird. Die Einstufung erfolgt unter Würdigung aller vorliegenden Erkenntnisse im Rahmen einer Einzelfallprüfung. Die polizeiliche Definition von Gefährder sieht keine weitere Untergliederung vor. Das eingestufte Personenpotenzial wurde bisher zudem anlassbezogen und im Rahmen von Einzelfallprüfungen Gefährdungsbewertungen mittels des achtstufigen Prognosemodells des BKA unterzogen . 5. Welche Erfahrungen gibt es in anderen Ländern und im Bund mit dem Analysesystem Radar-iTE-Verfahren? Das System befindet sich noch in der Evaluierungsphase. Erfahrungen in anderen Ländern sind nicht bekannt. 6. Wie war Niedersachsen bei der der genannten Neuanalyse mit dem sogenannten Radar -iTE eingebunden und, wenn ja, in welcher Form, und was ist das Ergebnis dieser Neuanalyse? Nach einer Beschulung von Beamtinnen und Beamten der niedersächsischen Polizei durch das BKA wurde die „Neuanalyse“ des betroffenen Personenkreises mit RADAR-iTE durch die Polizei Niedersachsen vorgenommen. Hinsichtlich der Ergebnisse dieser Analyse wird auf die Antwort zur Frage 1 verwiesen. Zur Evaluation des Analyseinstruments wurden und werden dem BKA die in Niedersachsen durchgeführten Risikobewertungen zugesandt. Dort bilden sie die Grundlage für statistische Auswertungen . Insofern dürften auch Ergebnisse aus Niedersachsen in die von der Süddeutschen Zeitung zitierten Untersuchung des BKA eingeflossen sein. In welchem Umfang dies geschah, ist nicht bekannt . 7. Hat es dabei auch in Niedersachsen bei als Gefährder eingestuften Personen ein abweichendes Bewertungsergebnis beim Radar-iTE-Verfahren zum bisherigen Bewertungsverfahren gegeben und wenn ja, in welchem Umfang und bezüglich welcher Kriterien ? Es wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. Da die zur Verfügung stehenden Einstufungs-/Bewertungsverfahren unterschiedliche, sich in der Gesamtheit jedoch ergänzende, Zielrichtungen haben, stehen partiell abweichende Bewertungsergebnisse der Plausibilität der Gesamtbetrachtung nicht entgegen. 8. Hat es eine Neubewertung älterer Fälle gegeben (z. B. Safia S oder die Absage der Fußballländerspiels November 2015)? Wenn ja, wie viele und mit welchem Ergebnis? Bei RADAR-iTE handelt es sich um ein Risikobewertungsmodell, welches eine fortlaufende Bewertung des Risikopotenzials von Personen des militant-salafistischen Spektrums ermöglicht. Gemäß der niedersächsischen Richtlinie „Regelbasierte Analyse potenziell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus (RADAR-iTE)“ - VS-NfD - werden seit Mitte 2017 im Rahmen einer Priorisierung alle in Niedersachsen eingestuften Gefährder sowie Re- Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode Drucksache 18/955 4 levanten Personen mittels RADAR-iTE bewertet. Dies beinhaltet somit auch die erneute Bewertung „älterer Fälle“, bei denen zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse einbezogen werden. Ein Ergebnis kann aus ermittlungstaktischen Gründen nicht dargestellt werden. 9. Auf welcher gesetzlichen Grundlage geschah die bisherige Einstufung und wird das Radar-iTE-Verfahren angewendet? Da es sich bei den bundesweit einheitlichen Definitionen von Gefährdern und Relevanten Personen sowie dem Riskobewertungsmodell RADAR-iTE lediglich um polizeiliche Kategorisierungen zur maßnahmenorientierten Priorisierung handelt, bedarf es keiner gesetzlich normierten Grundlage. Die Durchführung von (Eingriffs-)Maßnahmen selbst erfolgt nach Einzelfallprüfung entsprechend der geltenden Gesetzeslage. 10. Welche rechtlichen Folgen hatte die Einstufung einer Person als Gefährder bisher, und gibt es eine Veränderung durch das Radar-iTE-Verfahren? Die Einstufung einer Person als Gefährder sowie die Risikobewertung mittels RADAR-iTE zieht in ihrer Eigenschaft keine unmittelbaren rechtlichen Folgen nach sich. 11. Wann ist damit zu rechnen, dass das zweistufige Risikoanalysesystem RISKANT, welches das BKA derzeit entwickelt, auch in den Ländern angewendet werden kann, und welche Erkenntnisse erhofft sich die Landesregierung hieraus? Nach Auskunft des BKA ist der Abschluss der Entwicklung des Risikoanalysesystems RISKANT, welches die Evaluierung des standardisierten Risikobewertungsinstrumentes RADAR-iTE sowie den Ausbau einer zweiten Stufe bezüglich eines einzelfallorientierten Bedrohungsmanagements beinhaltet, bis 2020 geplant, wobei die Fertigstellung von mehreren Faktoren abhängig ist und derzeit nicht punktgenau terminiert werden kann. Ziel dieser Software ist eine einzelfallorientierte Bedrohungsbeurteilung und individuelle Maßnahmenberatung für die festgestellten Hoch-Risiko-Personen. Bereits jetzt stehen den Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Landesebene zahlreiche Werkzeuge im Kampf gegen Islamisimus und islamistischen Terrorismus zur Verfügung. Begleitend zur Entwicklung von RISKANT wurde im Juli 2017 die Arbeitsgruppe „Risikomanagement “ im GTAZ eingerichtet. Diese Arbeitsgruppe führt u. a. personenbezogene Fallkonferenzen auf Grundlage der Ergebnisse der RADAR-iTE-Bewertung durch und sorgt für den maßnahmenorientierten Informationsaustausch mit den betroffenen Sicherheitsbehörden und weiteren Stellen. Auch auf regionaler und Landesebene gehören einzelfallbezogene Fallkonferenzen zu den bewährten Instrumenten bei der Betrachtung von Gefährdern und Relevanten Personen und fördern den Informationsaustausch aller beteiligten Akteure. Diese und weitere Maßnahmen orientieren sich u. a. an der „Richtlinie über die Zuständigkeit und Verfahrensweisen im Phänomenbereich Politisch motivierte Ausländerkriminalität (PMAK)“ (VS-nfD) des Landeskriminalamts sowie am vom BKA erstellten Katalog „Standardmaßnahmen bei Gefährdern und Relevanten Personen“ (VS-nfD). Unter Geschäftsführung des Ministeriums für Inneres und Sport werden in der „Arbeitsgruppe Einzelfälle “ frühzeitig aufenthalts-, asyl-, staatsangehörigkeits- oder passrechtliche Maßnahmen zur Abwehr einer Gefährdung durch Personen mit islamistisch-extremistischem oder terroristischem Hintergrund geprüft und initiiert. Hieraus resultierten u. a. die beiden bundesweit ersten Abschiebungen von Gefährdern nach § 58 a AufenthG in 2017. (Verteilt am 25.05.2018) Drucksache 18/955 Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung Anfrage des Abgeordneten Belit Onay (GRÜNE) Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport Wie gefährlich sind „Gefährder“ in Niedersachsen?