LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/10160 05.11.2015 Datum des Originals: 05.11.2015/Ausgegeben: 10.11.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3928 vom 1. Oktober 2015 des Abgeordneten Peter Biesenbach CDU Drucksache 16/9920 Zu Gefängnisstrafe verurteilter Salafist vor Haftantritt untergetaucht? Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 3928 mit Schreiben vom 5. November 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Medienberichten zufolge soll ein zu einer Gefängnisstrafe verurteilter Salafist aus Iserlohn vor Antritt seiner Haftstrafe untergetaucht sein (vgl. Westdeutsche Zeitung vom 30.09.2015). Dies habe ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Wuppertal auf Anfrage bestätigt. Der 31- Jährige gelte als einer der einflussreichsten islamistischen Agitatoren in NordrheinWestfalen . Er soll Organisator einer Gegendemonstration in der Nähe der inzwischen verbotenen radikal-salafistischen Moscheegemeinde „Millatu Ibrahim“ in Solingen gewesen sein, bei der es im Mai 2012 zu massiven Ausschreitungen und Übergriffen auf Polizeibeamte kam. Insgesamt acht Polizeibeamte wurden dabei verletzt. Das Landgericht Wuppertal habe den Mann daraufhin u.a. wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Dieser Strafe hat sich der Salafist nunmehr offenbar erfolgreich entzogen. 1. Welcher genaue Sachverhalt liegt der Verurteilung des o.g. Salafisten zu Grunde ? Die Beantwortung erfolgt insoweit auf der Grundlage eines Berichts des Leitenden Oberstaatsanwalts in Wuppertal, dessen Darstellung im Wesentlichen auf den schriftlichen Gründen des Urteils des Landgerichts Wuppertal vom 28. November 2014 beruht. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/10160 2 Am 20. März 2012 meldete die Partei „Pro NRW“ für den 1. Mai 2012 eine Wahlkampfveranstaltung mit dem Motto „Freiheit statt Islam“ für die Zeit von 11:00 bis 13:00 Uhr an einer Kreuzung schräg gegenüber dem Rathausplatz in Solingen an. Es war bekannt, dass bei dieser Gelegenheit auch Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt werden sollten. Über das soziale Netzwerk Facebook war zu einer Teilnahme an einer Gegendemonstration aufgerufen worden. Der Verurteilte hatte an einer am Abend des 30. April 2012 stattfindenden Besprechung zu der bis dahin nicht angemeldeten Gegendemonstration in der Moschee Konrad-Adenauer-Straße 26 in Solingen teilgenommen. In dieser Besprechung war offenbar geworden, dass zumindest einige der Gegendemonstranten gewalttätig gegen das Zeigen der Mohammed-Karikaturen vorgehen wollten. Am 1. Mai 2012 gegen 10:10 Uhr trat der Verurteilte aus der Moschee, die sich nur etwa 100 m vom Rathaus Solingen entfernt befindet, heraus und teilte dem in der Nähe anwesenden Verbindungsbeamten der Polizei mit, dass er eine Demonstration gegen die Wahlkampfveranstaltung der Partei „Pro NRW“ anmelden wolle. Es seien etwa 70 Demonstranten zu erwarten. Seitens der Polizei wurde dem Verurteilten ein Versammlungsort auf dem Rathausplatz und ein Weg dorthin vorgegeben, um zwar einerseits eine räumliche Nähe zu der Wahlkampfveranstaltung zu ermöglichen, aber andererseits auch ein Zusammentreffen der verschiedenen Gruppen zu vermeiden. Gegen 10:25 Uhr, als die Partei „Pro NRW“ noch mit dem Aufbau des Wahlkampfstandes beschäftigt war, kam eine Gruppe von 58 Personen, die 18 Fahnen mitführten, schnellen Schrittes aus der Moschee und lief unter lauten „Allahu Akbar!“-Rufen den vorgegebenen Weg entlang, so dass die der Gegendemonstration zugewiesenen wenigen Beamten Mühe hatten, mit dem Zug mitzuhalten. Die 58 Personen waren in einer Art gekleidet, wie sie in den Medien als typisch für Mujaheddin kolportiert wird. Um 10:34 Uhr erreichte diese Gruppe den zugewiesenen Veranstaltungsort in etwa 50 m Abstand zum Wahlkampfstand von „Pro NRW“. Anschließend „predigte“ der Verurteilte mit lauter und aggressiver Stimme auf Deutsch, aber auch mit vermutlich arabischen Worten und unterbrochen von durch ihn mit einer Fahne dirigierten „Allahu Akbar!“-Rufen der Gruppe. Um 11:04 Uhr begann die Wahlkampfveranstaltung der Partei „Pro NRW“ mittels Lautsprecherdurchsagen . Um 11:16 Uhr kündigte der Sprecher von „Pro NRW“ an, dass MohammedKarikaturen gezeigt würden, dann wurde ein Schild mit einer Karikatur des dänischen Künstlers Kurt Westergaard hochgehalten, auf dem Mohammed mit Turban gezeigt wird, wobei der Turban eine Bombe mit brennender Zündschnur bildet. Daraufhin ertönte aus der Gruppe der Gegendemonstranten um den Verurteilten herum ein Ruf, gleichzeitig machte ein weiterer, gut sichtbar in weiß gekleideter Gegendemonstrant eine ausholende Armbewegung. Auf diese Zeichen hin stürmten die meisten Gegendemonstranten schlagartig und gleichzeitig nach vorne zu einem sie von der Wahlkampfveranstaltung trennenden Absperrgitter, um es zu überwinden und das Zeigen der Karikaturen zu verhindern. Die eingesetzten Polizeibeamten, die das Überwinden des Gitters zu verhindern versuchten, wurden tätlich angegriffen; auf sie wurde mit Fäusten und Fahnenstangen aus Massivholz eingeschlagen. Auch der Verurteilte schlug mit der von ihm gehaltenen Fahnenstange auf die Beamten ein, die aufgrund einer defensiven Deeskalationsstrategie keine Schutzhelme trugen. Auf einen Polizeibeamten schlug er in einer Vorwärtsbewegung mit seiner Fahnenstange ein und traf ihn am Arm; der Beamte konnte dem Verurteilten die Fahne entreißen. Zwei Teilnehmer der Gegendemonstration warfen kraftvoll Rollkiessteine auf die Polizeibeamten und den Wahlkampfstand der Partei „Pro NRW“. Mehrere Polizeibeamte wurden durch Gegendemonstranten verletzt oder jedenfalls von wuchtigen Schlägen getroffen . LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/10160 3 Wegen der Schläge und der Steinwürfe entschlossen sich die eingesetzten Polizeibeamten, die Gruppe der Gegendemonstranten einzuschließen und vorläufig festzunehmen. Einige der Gruppenmitglieder konnten entkommen, 26 aber - darunter auch der Verurteilte - konnten auf dem Rathausvorplatz unter Kontrolle gebracht, mit Einwegfesseln fixiert und vor dem Rathauseingang versammelt werden. Gegen 11:30 Uhr waren die festgesetzten Gruppenmitglieder unter Kontrolle. Der Verurteilte trat weiterhin als religiöser Führer der Gruppe auf. Wiederholt stimmte er Gebete an. Er erklärte vielfach, dies sei ein guter Tag für ihn, denn er habe sich endlich für seinen Glauben erheben können. Durch sein aufstachelndes Verhalten beruhigten sich auch die anderen Gruppenmitglieder nicht, sondern fielen in seine Gebete ein und stimmten ihm zu, dass dies ein guter Tag für sie sei. Die anwesenden Polizeibeamten wurden immer wieder provoziert und beleidigt. Der Verurteilte fragte z.B. eine Polizeibeamtin, ob es nicht schöner für sie wäre , einen türkischen Freund zu haben, denn ihre deutschen Kollegen wollten sie nur „ficken“. Andere Polizeibeamte bedrohte er mit dem Tod und beleidigte sie als „Hund“, „Bastard“, „Missgeburt“ und ähnlichem. Der Verurteilte wurde schließlich von der Gruppe separiert. 2. Wegen welcher Aktivitäten (ggf. Straftaten) war bzw. ist der o.g. Salafist den nordrhein-westfälischen Behörden - unabhängig von dem seiner jetzigen Verurteilung zu Grunde liegenden Sachverhalt - bekannt? Dem Ministerium für Inneres und Kommunales liegen Erkenntnisse vor, dass der Verurteilte direkte persönliche Kontakte zu Personen des extremistisch-islamistischen Spektrums unterhielt . Unter anderem war er als religiöse und ideologische Führungsperson des im Mai 2012 verbotenen Vereins „Millatu Ibrahim“ in Solingen sowie dessen Nachfolgevereinigung „Tauhid Germany“ aktiv, die im Februar 2015 verboten wurde. Er trat mit Informationsständen der Aktion „LIES!“ und anderen Veranstaltungen der salafistischen Szene in Erscheinung sowie mit Videoveröffentlichungen radikal-islamistischer Inhalte , die seitens der zuständigen Strafverfolgungsbehörde als strafrechtlich nicht relevant bewertet wurden. Über den Gegenstand des hier in Rede stehenden Strafverfahrens hinaus wurden ihm bisher keine weiteren Straftaten nachgewiesen. 3. Wie viel Zeit lag zwischen Rechtskraft des Urteils gegen den o.g. Salafisten und seinem geplanten Haftantritt? (Bitte genaue Daten angeben.) Das Urteil ist seit dem 1. Juli 2015 rechtskräftig. Die Akten gingen nach Abschluss des Revisionsverfahrens am 7. Juli 2015 bei der Staatsanwaltschaft Wuppertal ein. Das Landgericht Wuppertal bescheinigte am 29. Juli 2015 die Rechtskraft des Urteils. Unter dem 19. August 2015 lud die Staatsanwaltschaft Wuppertal den Verurteilten mit einer Stellungsfrist von einer Woche zum Strafantritt. 4. Aus welchen Gründen hat die Staatsanwaltschaft es unterlassen, gegen den o.g. Salafisten rechtzeitig einen Haftbefehl zu beantragen? (Sofern zwischenzeitlich Untersuchungshaft gegen den Mann angeordnet gewesen sein sollte, bitte auch detailliert begründen, warum diese aufgehoben wurde.) Der Leitende Oberstaatsanwalt in Wuppertal hat berichtet: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/10160 4 Der Verurteilte sei in Deutschland geboren und aufgewachsen und habe hier das Abitur gemacht . Er habe den Tatvorwurf in den gegen ihn gerichteten erst- und zweitinstanzlichen Hauptverhandlungen eingeräumt und sei zu allen Hauptverhandlungsterminen erschienen. Zunächst habe er in Hemer gewohnt. Ende August 2014 sei er, nachdem er im Sommer 2014 nach islamischem Ritus geheiratet habe, nach Iserlohn gezogen. In seinen bekannt gewordenen Äußerungen habe der Verurteilte sich grundsätzlich so dargestellt, dass er sich aus religiöser Überzeugung sowohl dem Strafverfahren als auch der Strafvollstreckung stellen werde. Es habe während des gesamten Ermittlungs- und Strafverfahrens kein Anlass für die Beantragung eines Haftbefehls bestanden. Zu keinem Zeitpunkt hätten sich tatsächliche Anhaltspunkte für den einzig in Betracht kommenden Haftgrund der Fluchtgefahr ergeben. Fluchtgefahr bestehe nur, wenn die Würdigung der Umstände des Einzelfalles es wahrscheinlicher mache, dass der Beschuldigte sich dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Gegen Fluchtgefahr sprächen in der Regel starke familiäre Bindungen und der Umstand, dass ein Beschuldigter sich dem Verfahren über einen längeren Zeitraum gestellt habe. Bei der Straferwartung, aus der sich ein Fluchtanreiz ergeben könne, komme es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an. Die Straferwartung allein vermöge eine Fluchtgefahr nicht zu begründen. Der Verurteilte habe von Beginn des Verfahrens an deutlich gemacht, dass er die Verantwortung für sein Handeln übernehme. Schon am Tattage habe er verdeutlicht, dass dieser Tag deshalb ein schöner Tag für ihn sei, weil er sich endlich für seinen Glauben habe erheben können. Am 5. Mai 2012 habe er bei YouTube ein Video mit dem Titel „Die Wahrheit von Solingen“ veröffentlicht, in dem er unter anderem angegeben habe „Es war für mich eine Ehre, für - für Allahs Gesandten geschlagen zu werden, Spray abzubekommen, ins Gefängnis zu gehen, zu leiden und alles…“. 5. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung über den aktuellen Aufenthaltsort des o.g. Salafisten vor? Der Verurteilte ist im Juli 2015 in die Türkei ausgereist, wo er sich mutmaßlich heute noch aufhält. Eine Weiterreise, beispielsweise nach Syrien oder in den Irak, ist nicht bekannt geworden . Über seinen aktuellen Aufenthaltsort in der Türkei liegen der Landesregierung keine Erkenntnisse vor. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/10160