LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/10460 14.12.2015 Datum des Originals: 11.12.2015/Ausgegeben: 17.12.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4035 vom 5. November 2015 des Abgeordneten Nicolaus Kern PIRATEN Drucksache 16/10168 Übergangsmanagement – Anspruch und Wirklichkeit Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 4035 mit Schreiben vom 11. Dezember 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation , Pflege und Alter beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Gerade langjährig Inhaftierte, die sich aufgrund einer Drogensucht in einem Substitutionsprogramm befinden, benötigen Unterstützung, um im Leben außerhalb der Haftanstalt wieder Fuß fassen zu können und nicht wieder straffällig zu werden. In den „Leitlinien für den Strafvollzug des Landes Nordrhein Westfalen“ wurden unter dem Grundsatz „Behandlung stärken – Resozialisierung sichern“ konkrete Ziele und Handlungsmaßstäbe definiert. Eine der Leitlinien betrifft das Übergangsmanagement. Darin wird eindeutig definiert, dass die Entlassungssituation durch den Strafvollzug möglichst frühzeitig in den Blick zu nehmen und die individuelle Vollzugsplanung um eine über den Entlassungszeitpunkt hinausweisende Integrationsplanung zu erweitern sei. Alles in allem stellt dies offensichtlich jedoch in erster Linie ein Wunschbild dar, denn die Realität sieht oft anders aus. Mitarbeiter aus der Drogen- und Suchtberatung berichten, dass es offensichtlich erhebliche Abstimmungsprobleme zwischen JVAen, Jobcentern und Krankenkassen gibt. In der Regel müssen Haftentlassene einen Antrag auf Sozialleistungen beim für sie zuständigen Jobcenter stellen. Dieses bearbeitet im Rahmen der Antragsbearbeitung auch die Anmeldung bei einer Krankenkasse. Bis der Haftentlassene seine Krankenversicherungskarte erhält, verge- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/10460 2 hen aufgrund der niedrigen Bearbeitungsgeschwindigkeit mancher Jobcenter häufig mehrere Wochen Ärzte weigern sich häufig, einen Haftentlassenen zu substituieren, so lange dieser keine Krankenversichertenkarte vorlegen kann. Sie befürchten, ansonsten auf den Behandlungskosten sitzen zu bleiben. Für die betroffenen Haftentlassenen bedeutet dies, dass sie, um behandelt zu werden, in Vorleistung gehen müssen. Ist ihnen das mangels finanzieller Mittel nicht möglich, springen an dieser Stelle häufig Freunde oder Verwandte ein. Vorbemerkung der Landesregierung Von entscheidender Bedeutung für die Sicherung der insgesamt vollzuglich erreichten Behandlungsergebnisse ist eine Entlassung in geordnete soziale Verhältnisse. Durch Bedienstete des Justizvollzuges wird während der Haft, bereits weit vor dem Zeitpunkt der Entlassung, Kontakt zur Meldebehörde für die Erstellung bzw. Verlängerung des Bundespersonalausweises , Kontakt zu den Krankenkassen, zu anderen Behörden und Institutionen und zu Angehörigen aufgenommen, mit dem Ziel, einen geeigneten sozialen Empfangsraum zu bereiten. Im Zusammenhang mit suchtkranken Inhaftierten ist die Sicherstellung einer möglichst nahtlosen Weiterbetreuung der entlassenen Gefangenen durch die örtlich tätigen Akteurinnen und Akteure der Sucht- und Drogenberatungsstellen sowie die zuständigen medizinischen Strukturen von entscheidender Bedeutung. Hierdurch wird die Gefahr des Rückfalls in frühere Konsumgewohnheiten und Verhaltensmuster mit möglicher Fortsetzung dissozialer Handlungen verringert. Bei Gefangenen, die sich in einer Substitutionsbehandlung befinden, ist die Weiterbehandlung unter suchtmedizinischen Gesichtspunkten eine fachliche Selbstverständlichkeit. Die Vermittlung der weiteren Substitutionsbehandlung nach der Haftentlassung ist implizierter Behandlungsauftrag der während der Inhaftierung verantwortlichen ärztlichen Kräfte. Der medizinische Dienst kooperiert dabei intensiv mit dem Sozialdienst. Die Bediensteten des Justizvollzuges stellen bereits weit vor dem vorgesehenen Entlassungstermin von substituierten Patientinnen und Patienten Kontakt zu substituierenden Ärztinnen und Ärzten zur Sicherstellung der Weiterbehandlung her. Entsprechend wird verfahren bei Gefangenen, die nach der Entlassung den Wohnsitz außerhalb der Kommune nehmen, in der die Justizvollzugsanstalt angesiedelt ist. Bei besonders schwierigen Konstellationen wird das Übergangsmanagement in Form eines Case-Managements durchgeführt. Am 07.04.2011 ist eine entsprechende Vereinbarung über die „Grundsätze für das Übergangsmanagement im Rahmen der Suchtberatung suchtkranker Gefangener“ zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen - vertreten durch das Justizministerium Nordrhein-Westfalen - und den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege, des Städtetages, des Städte- und Gemeindebundes sowie des Landkreistages Nordrhein- Westfalen unterzeichnet worden und wird seither umgesetzt. 1. Hält es die Landesregierung - unter Berücksichtigung der genannten Leitlinien für den Strafvollzug des Landes NRW - für vertretbar, einen zuvor mit Polamidon substituierten Häftling ohne Übergabe einer Übergangsmedikation und ohne vorherige Herstellung eines Kontaktes zu einer Drogenberatungsstelle oder einem weiterbehandelnden Arzt aus der Haft zu entlassen in der Annahme, der Häftling käme auch ohne Hilfe in Freiheit zurecht? Siehe dazu die Vorbemerkung und die Antwort zur Frage 3. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/10460 3 2. Welche Maßnahmen sind nach Meinung der Landesregierung durch die zuständigen Ministerien zu ergreifen, um das geschilderte zeitliche „Loch“ in der Krankenversicherung von Haftentlassenen zu schließen? Inhaftierte haben bis zum Zeitpunkt ihrer Entlassung aus der Haft einen Anspruch auf Krankenbehandlung gegenüber dem Land. Ab dem Zeitpunkt der Entlassung ist grundsätzlich ein Anspruch auf Absicherung für den Krankheitsfall insbesondere aufgrund einer privaten (PKV) oder gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gegeben. Allerdings kann auch ohne Krankenversicherungsschutz eine Absicherung auf der Grundlage von sozialhilferechtlichen Sondervorschriften gewährleistet sein. Soweit und solange ein gesetzliches Versicherungsverhältnis in der GKV nach § 5 Abs.1 Nrn.1 bis12, § 9 oder § 10 SGB V noch nicht besteht und auch eine anderweitige Absicherung nicht gegeben ist, greift in der Regel der Auffangtatbestand des § 5 Abs.1 Nr.13 SGB V (vgl. auch § 5 Abs.8 a SGB V). Danach ist auch diejenige Person gesetzlich versichert, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall hat und zuletzt gesetzlich krankenversichert war, bisher noch gar nicht gesetzlich oder privat krankenversichert war. Die Mitgliedschaft des Versicherungspflichtigen in der GKV beginnt ohne Antrag grundsätzlich mit dem ersten Tag ohne anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall (§ 186 Abs. 11 SGB V). Gemäß § 174 Abs.5 SGB V wird er Mitglied der Krankenkasse, bei der er zuletzt versichert war, andernfalls bei der von ihm nach § 173 Abs.1 SGB V gewählten Krankenkasse. Dieser hat er das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht lediglich anzuzeigen. Unproblematisch ist auch der Fall, wenn das Krankenversicherungsverhältnis weiterbesteht und lediglich für die Zeit der Haft ein Ruhen der Leistungen nach § 16 SGB V eingetreten ist. Ist die oder der Entlassene dagegen zuletzt privatversichert gewesen oder aus anderen Gründen der PKV zuzuordnen, ist sie oder er verpflichtet, sich bei ihrem oder seinem früheren privaten Krankenversicherungsunternehmen im Basistarif abzusichern. Für das PKV- Unternehmen besteht Kontrahierungszwang. Zur Information der Inhaftierten steht ein entsprechendes Merkblatt zur Verfügung, das ihnen ausgehändigt wird. Für die Bediensteten ist ein Checkheft "Entlassungsvorbereitung" erstellt worden. Rechtzeitig vor dem Haftende ist die krankenversicherungsrechtliche Zuständigkeit zu klären . Hierzu sind die Gefangenen bereits bei Haftantritt nach ihrer letzten Krankenversicherung zu befragen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass bei Haftentlassung bereits die zuständige Krankenkasse, bekannt ist und die oder der Gefangene sich rechtzeitig vor der Haftentlassung wieder an diese Krankenkasse wenden kann. Die oder der Gefangene ist frühzeitig vor der Entlassung durch die Vollzugsanstalt darauf hinzuweisen, sich bei der Krankenkasse, bei der sie oder er zuletzt versichert war, anzumelden bzw. zu versichern. Ist keine frühere Krankenkasse der gesetzlichen Krankenversicherung vorhanden und besteht Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V, wird sie oder er gem. § 173 Abs. 1 SGB V Mitglied der von ihr oder ihm gewählten Krankenkasse, wobei die gewählte Krankenkasse die Mitgliedschaft nicht ablehnen darf. Zur Frage, ob die Wiedereingliederung von Gefangenen durch Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung bereits für die Dauer ihrer Inhaftierung noch verbessert werden kann, hat der Strafvollzugsausschuss der Länder auf seiner letzten Tagung beschlossen, dass die Grundlagen und Auswirkungen einer Einbeziehung von Gefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung in einer Arbeitsgruppe geprüft werden sollen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/10460 4 3. Ist es nach Meinung der Landesregierung nicht notwendig, einem Haftentlassenen bei seiner Entlassung eine ausreichende Menge an Substitut zur Verfügung zu stellen, um ggf. zeitliche Schwierigkeiten bis zur Übernahme der Substitution durch einen behandelnden Arzt zu vermeiden? Nach § 13 Betäubungsmittelgesetz dürfen Betäubungsmittel, zu denen auch Substitutionsmittel wie Methadon zählen, von Ärztinnen und Ärzten nur im Rahmen einer ärztlichen Behandlung verschrieben, verabreicht oder zum unmittelbaren Verbrauch überlassen werden. Dabei erfolgt die Überlassung des Substitutionsmittels nur in der zum unmittelbaren Verbrauch bestimmten Menge. Die Behandlung von Inhaftierten durch den justizeigenen ärztlichen Dienst endet mit dem Zeitpunkt der Entlassung. Durch die Beendigung der Behandlung entfällt auch die Rechtsgrundlage für die Verabreichung oder Überlassung von Betäubungsmitteln. Die Abgabe einer über die zum unmittelbaren Verbrauch hinausgehende Menge an Substitutionsmitteln für die Zeit nach der Entlassung kommt deshalb nicht in Betracht. Ausnahmsweise kann eine Ärztin oder ein Arzt der Patientin oder dem Patienten, der oder dem ein Substitutionsmittel zum unmittelbaren Verbrauch überlassen wird, in Fällen, in denen die Kontinuität der Substitutionsbehandlung nicht anderweitig gewährleistet werden kann, ein Substitutionsmittel in der bis zu zwei Tagen benötigten Menge verschreiben und ihr oder ihm dessen eigenverantwortliche Einnahme gestatten, sobald der Verlauf der Behandlung dies zulässt, Risiken der Selbst- oder Fremdgefährdung soweit wie möglich ausgeschlossen sind sowie die Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs nicht beeinträchtigt werden (§ 5 Abs. 8 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung). Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/10460