LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/10762 18.01.2016 Datum des Originals: 15.01.2016/Ausgegeben: 21.01.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4177 vom 17. Dezember 2015 des Abgeordneten André Kuper CDU Drucksache 16/10564 „Beleidigende Gegenstände“ im Sinne des neuen Abschiebungshaftvollzugsgesetzes – ein undefinierbarer Rechtsbegriff? Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 4177 mit Schreiben vom 15. Januar 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Justizminister beantwortet . Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Am 16.12.2015 hat der Landtag gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU und PIRATEN bei Enthaltung der FDP-Fraktion das Gesetz über den Vollzug der Abschiebungshaft (Abschiebungshaftvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen – AHaftVollzG NRW) beschlossen. § 8 Abs. 4 S. 1 AHaftVollzG NRW sieht vor, dass in Abschiebungshaft untergebrachte Personen keine Gegenstände besitzen dürfen, welche die Sicherheit und Ordnung in den Einrichtungen gefährden können. Gemäß § 8 Abs. 4 S. 2 AHaftVollzG gehören dazu „insbesondere Gegenstände, die geeignet sind, Personen zu verletzen oder zu beleidigen […].“ Den Tatbestand einer Beleidigung im Sinne des § 185 StGB erfüllen ausschließlich Äußerungen . Diese können wörtlich, schriftlich, bildlich oder durch schlüssige Handlungen erfolgen. Gegenstände können daher regelmäßig keinen beleidigenden Charakter aufweisen. Folgerichtig waren auch die Vertreter der regierungstragenden Fraktionen – trotz mehrmaliger Nachfragen der Opposition – weder im Innen- noch im Rechtsausschuss dazu in der Lage, Gegenstände zu benennen, die dazu geeignet sind, Personen zu beleidigen. Im Rahmen der 2. Lesung des Gesetzentwurfs erklärte die Rednerin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schließlich, dass beispielsweise „Mohammed-Karikaturen“ beleidigende Gegenstände seien. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/10762 2 1. Welche Gegenstände sind aus Sicht der Landesregierung „beleidigend“ im Sinne des § 8 Abs. 4 S.2 AHaftVollzG NRW? (Bitte konkrete Beispiele benennen.) 2. An welchem Bewertungsmaßstab bemisst sich, ob ein Gegenstand als „beleidigend “ im Sinne des Art. 8 Abs. 4 S. 2 AHaftVollzG NRW einzustufen ist? 3. Inwieweit teilt die Landesregierung die Ansicht, dass Karikaturen, die als Verunglimpfung eines Propheten aufgefasst werden können, als beleidigend im Sinne des Art. 8 Abs. 4 S. 2 AHaftVollzG NRW einzustufen sind? 4. Inwieweit können Gegenstände, die ggf. dazu geeignet sind, das religiöse bzw. ästhetische Empfinden eines Abschiebehäftlings zu stören (z.B. Kruzifixe, muslimische Kopftücher, Aktfotografien, etc.) als beleidigend im Sinne es Art. 8 Abs. 4 S. 2 AHaftVollzG NRW eingestuft werden? Wegen des engen Sachzusammenhangs werden die Fragen 1 bis 4 gemeinsam beantwortet: Für das Verständnis des § 8 Abs. 4 Satz 2 AHaftVollzG NRW und damit auch des dort u.a. enthaltenen Begriffes des „beleidigenden Gegenstandes“ ist zu berücksichtigen, dass mit dieser Bestimmung das Verbot des § 8 Abs. 4 Satz 1 AHaftVollzG NRW näher erläutert wird. Danach dürfen Untergebrachte keine Gegenstände besitzen, welche die Sicherheit oder Ordnung in den Einrichtungen gefährden können. Schutzzweck beider Sätze ist eine möglichst konflikt- und gewaltfreie Unterbringung ausreisepflichtiger Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Bekenntnissen , Religionszugehörigkeiten und Weltanschauungen. Für die Auslegung des Begriffs „beleidigender Gegenstand“ im Sinne von § 8 Abs. 4 Satz 2 AHaftVollzG NRW können Straftatbestände herangezogen werden, die insbesondere Ehrverletzungen sanktionieren. Hierzu zählen zunächst die Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung (§§ 185 bis 187 StGB). Darüber hinaus ist in Tateinheit auch die Erfüllung der Straftatbestände der Volksverhetzung (§ 130 StGB) und der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen (§ 166 StGB) möglich. Von Relevanz wären demnach z. B. Druckerzeugnisse oder auch Fotographien, Zeichnungen und Bilder, die unmittelbar eine gewollte Missachtung anderer untergebrachter Personen zum Ausdruck bringen oder in Verbindung mit einem naheliegenden Gebrauch eine Beleidigung anderer untergebrachter Personen oder auch Besuchern herbeiführen können. Sakrale Gegenstände und aus religiösen Gründen getragene Bekleidungsstücke scheiden grundsätzlich als zur Beleidigung geeignete Gegenstände aus, da durch diese nicht die Missachtung einer anderen Person oder Personengruppe zum Ausdruck gebracht wird. Nicht ausreichend sind als bloße Provokation empfundene Gegenstände, mit denen aber keine bestimmbare Beleidigung einer Person oder Personengruppe verbunden werden kann, etwa ein Kruzifix oder ein Kopftuch. Karikaturen und Satiren fehlt nach einschlägiger Rechtsprechung und Kommentierung ein beleidigender Charakter, wenn die Überzeichnung menschlicher Schwächen eine ernstliche Herabwürdigung der Person nicht enthält. Inwieweit eine Mohammed-Karikatur als beleidigender Gegenstand im Sinne von § 8 Abs. 4 AHaftVollzG NRW einzustufen wäre, ließe sich nur im konkreten Einzelfall beurteilen. Würden durch ihre Verwendung auch in Abschiebungshaft ge- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/10762 3 nommene Angehörige einer Religionsgruppe - hier des Islam - in beleidigender Weise herabgewürdigt oder bestünde hierzu die Möglichkeit, käme ein Entzug durch die Einrichtungsleitung in Betracht. Zur Bestimmung, ob ein Gegenstand einen beleidigenden Charakter im Sinne von § 8 Abs. 4 Satz 2 AHaftVollzG NRW aufweist, ist im Ergebnis immer eine Einzelfallbewertung im konkreten Fall erforderlich. 5. Hält die Landesregierung es für erforderlich, in Anlehnung an Art. 8 Abs. 4 S. 2 AHaftVollzG NRW nunmehr auch in anderen Vollzugsgesetzen des Landes Nordrhein -Westfalen (Strafvollzugsgesetz, Jugendstrafvollzugsgesetz, Jugendarrestvollzugsgesetz , Untersuchungshaftvollzugsgesetz, Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz , Maßregelvollzugsgesetz) Vorschriften einzufügen, die den Besitz „beleidigender “ Gegenstände untersagen? (bitte jeweils einzeln begründen, warum eine solche Vorschrift in den genannten Vollzugsgesetzen für sachgerecht bzw. unsachgerecht erachtet wird.) Wie bereits ausgeführt, unterscheidet sich der Vollzug von Abschiebungshaft maßgeblich von anderen Vollzugsformen, namentlich vom Strafvollzug. Die besonderen europa- bzw. bundesrechtlichen Vorgaben und die spezifischen tatsächlichen Umstände, welche die Abschiebungshaft prägen, waren Gegenstand der parlamentarischen Beratungen über das am 17. Dezember 2015 verabschiedete Gesetz über die Abschiebungshaft sowie zur Änderung des Landesbeamtengesetzes und des Gesetzes zur Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes . Auch § 8 Abs. 4 AHaftVollzG NRW trägt diesen Unterschieden - unter Berücksichtigung der Herkunft untergebrachter Personen auch aus Konfliktgebieten - Rechnung. Eine Übertragung speziell für den Abschiebungshaftvollzug getroffener Vorschriften auf andere Vollzugsformen erscheint aus der Sicht der Landesregierung nicht angezeigt. Das StVollzG NRW bietet in § 15 Abs. 2 die Möglichkeit, Gegenstände, welche die Sicherheit und Ordnung einer Anstalt gefährden, zu untersagen. Unter Ordnung ist das geordnete Zusammenleben in der Anstalt zu verstehen, das heißt eine zivilisierte und menschenwürdige Gestaltung des Zusammenlebens. Zur Wahrung der Ordnung gehören alle Voraussetzungen, die erforderlich sind, um den Betrieb einer Justizvollzugseinrichtung sachgerecht ablaufen zu lassen. Die Ordnung erfordert über die Inhaftierung hinausgehende Freiheitsbeschränkungen, die mit der Sicherheit des Anstaltspersonals, der Vermeidung von Spannungen zwischen den Gefangenen und dem Aufsichtspersonal sowie dem Schutz der Gefangenen vor unnötigen zusätzlichen Belästigungen zusammenhängen. Dieser Grundsatz gilt in allen Vollzugsanstalten (selbstverständlich auch in der Abschiebungshaft ). Im Jugendstrafvollzug ist er in § 58 Abs. 2 JStVollzG NRW enthalten, im Untersuchungshaftvollzug in den §§ 12 Abs. 3 und 13 Abs. 4 UVollzG NRW. In der Sicherungsverwahrung können Verbote auf die §§ 15 Abs. 2 und 18 Abs. 2 SVVollzG NRW gestützt werden. Das Jugendarrestvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen sieht für den Jugendarrest die §§ 11 Abs. 1 und 22 Abs. 1 JAVollzG NRW vor, der Maßregelvollzug den § 7 Abs. 3 MRVG. § 8 Abs. 4 AHaftVollzG NRW trägt den Besonderheiten der Abschiebungshaft Rechnung. Auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen nationalen und kulturellen Herkunft, der in Abschiebungshaft untergebrachten Personen, sollen auf diese Weise mögliche Konfliktpotentiale erheblich verringert werden. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/10762