LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/1084 08.10.2012 Datum des Originals: 08.10.2012/Ausgegeben: 11.10.2012 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 419 vom 6. September 2012 der Abgeordneten Susanne Schneider FDP Drucksache 16/842 Häusliche Gewalt – Was tut die Landesregierung? Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 419 mit Schreiben vom 8. Oktober 2012 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Justizminister, der Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport und der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Beim Thema der häuslichen Gewalt ist man sich fraktionsübergreifend einig, dass dies ein ernstzunehmendes Problem ist, dem in einer freien und fairen Gesellschaft mit aller Kraft entgegen gewirkt werden muss. Nach aktuellen Medienberichten stieg die Anzahl der Anzeigen wegen häuslicher Gewalt im Jahre 2011 um zehn Prozent an. So wichtig die Strafverfolgung der Täter ist, muss das Ziel zuallererst die Verhinderung solcher Taten sein. Menschenrechte und körperliche wie seelische Unversehrtheit sind ein unveräußerliches Rechtsgut. Vorbeugung ist der beste Opferschutz. Präventives Handeln setzt immer die Kooperation aller Beteiligten voraus: Die Arbeit von Frauenhilfeeinrichtungen, Beratungsstellen , Polizei- und Strafverfolgungsbehörden gilt es ausdrücklich zu würdigen und deren Vernetzung zu unterstützen. Daneben ist die Sensibilität eines jeden Einzelnen in dieser Sache gefragt: Nur wenn alle hinschauen und im Ernstfall couragiert eingreifen, kann effektive Prävention betrieben werden. Insoweit ist hier auch auf eine breite Öffentlichkeitsarbeit zu bauen, die klar den Rücken der möglichen Helfer stärkt und zum Hinsehen und Handeln ermuntert. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1084 2 1. Wie erklärt sich die Landesregierung den massiven Anstieg der Anzeigen wegen häuslicher Gewalt? Dunkelfeldschätzungen1 besagen, dass jede vierte Frau im Lauf ihres Lebens Gewalterfahrungen im Rahmen häuslicher Gewalt macht. Die polizeilich registrierte Kriminalität in diesem Deliktsfeld ist in den letzten 10 Jahren kontinuierlich angestiegen, obwohl die Offenlegung häuslicher und damit zumeist innerfamiliärer Gewalt für die Opfer eine große Belastung darstellt . Dieser registrierte Anstieg zeigt, dass eine größere Anzahl der Opfer zunehmend den Mut findet, sich zu offenbaren und auch in der konkreten Gefahrensituation die Polizei zu rufen. Für den Anstieg der Zahlen im Hellfeld dieser Kriminalität sind Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen relevant, mit denen die Rechte der Opfer gestärkt worden sind. In dem Kontext sind zu nennen: Das Gebot der gewaltfreien Erziehung gem. § 1631 BGB, das Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes im Jahr 2002, den damit einhergehenden Änderungen des Polizeigesetzes NRW (PolG NRW), die Einführung des § 238 StGB Nachstellung im Jahr 2007 und die Opferrechtsreformgesetze von 2004 und 2009, die die Stellung der Opfer im Strafverfahren stärken. Weitere mögliche Einflussfaktoren können die Ergänzung der Verwaltungsvorschrift zum § 34a PolG NRW um die Gefährdungsanalyse der Tatsituation und Gefährderansprache der Täter im Jahr 2005 sein. Die verbesserten Bedingungen für polizeiliches Einschreiten, gezielte Fortbildungen, geänderte Einsatzstrategien und proaktive Beratungsangebote qualifizierter Fachstellen für Opfer können zu den angestrebten Effekten einer deutlich gestiegenen Anzeigebereitschaft und Erfassung von häuslicher Gewalt geführt haben. Auch die mediale Bearbeitung des Themas („Gewalt ist nie privat“) könnte einen kontinuierlichen Anstieg der Anzeigen seit 2003 beeinflusst haben. 2. Wie hat sich das Anzeigeverhalten bei häuslicher Gewalt in den vergangenen 10 Jahren entwickelt (bitte auch statistisch ausgewertet anführen)? Die Polizei erfasst Daten zur häuslichen Gewalt im Führungs- und Informationssystem der Polizei (FISPOL). Die nachfolgenden Tabellen geben daraus einen Überblick über die Entwicklung der registrierten häuslichen Gewalt und die polizeilichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang. Entwicklung der Strafanzeigen und der polizeilichen Maßnahmen 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Strafanzeigen (seit 2007 inkl. Nachstellungen § 238 StGB) 14.300 16.402 16.267 17.991 19.348 20.410 22.638 22.565 22.978 25.073 Entwicklung Strafanzeigen in Prozent - +15% -1% +11% +8% +5% +11% +/- 0 +2% +9% Vermittlungen der Opfer an Beratungsstellen 4.025 5.114 5.245 5.536 7.440 6.977 7.368 7.203 7.552 7.941 Wohnungsverweisungen und Rückkehrverbote 1.020 6.931 7.514 8.066 8.383 9.664 10.774 10.199 10.925 12.087 1 BMFSFJ 2004, Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1084 3 Entwicklung der Strafanzeigen nach Straftatbeständen *) StGB 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Hausfriedensbruch § 123 150 192 196 289 258 258 346 344 289 356 Sex. Missbrauch Schutzbefohlener § 174 59 56 51 48 66 53 84 74 33 8 Sex. Missbrauch v. Kindern § 176 135 166 127 57 121 102 117 74 93 82 Sex. Nötigung und Vergewaltigung § 177 253 335 217 175 266 215 219 206 244 221 Tötungsdelikte §§ 211 ff. 26 26 26 32 65 46 28 19 25 27 Körperverletzung § 223 9.134 10.518 10.229 11.356 12.309 12.886 14.495 14.195 14.555 15.606 Gef. Körperverletzung § 224 2.555 3.040 2.981 3.600 3.431 3.420 3.745 3.650 3.486 3.341 Misshandlung Schutzbefohlener § 225 190 172 183 146 256 207 289 172 184 158 Schw. Körperverletzung § 226 66 57 55 42 46 27 20 20 22 15 Kindesentziehung § 235 29 23 35 29 44 31 34 33 22 36 Nachstellung § 238 0 0 0 0 0 347 564 587 475 523 Freiheitsberaubung § 239 141 178 221 267 290 272 308 347 306 330 Nötigung § 240 228 321 313 348 357 426 573 674 600 638 Bedrohung § 241 1.429 1.701 2.004 2.435 2.795 2.838 3.415 3.461 3.247 3.542 Erpressung § 253 14 30 41 28 25 36 45 28 32 42 Sachbeschädigung § 303-305 478 665 750 1.035 989 1.047 1.286 1.550 1.453 1.512 Straftaten zum Schutz der Ehre 336 547 690 773 575 636 984 1.077 1.182 1.199 *) mehrere Straftatbestände in einer Strafanzeige sind möglich 3. Welche Maßnahmen unternimmt die Landesregierung, um den Ausbau der Vernetzung von Hilfeeinrichtungen und Verfolgungsbehörden zu unterstützen? Basierend auf den Ergebnissen einer Bestandsaufnahme über Kooperationsformen und - strukturen Runder Tische und Arbeitskreise zum Abbau häuslicher Gewalt fördert die Landesregierung bereits seit dem Jahr 2003 kontinuierlich und gezielt den Ausbau regionaler Zusammenarbeit gegen häusliche Gewalt. Insgesamt konnten auf diese Weise bisher ca. 900 Vernetzungsprojekte mit einem Fördervolumen von 1,9 Mio. Euro realisiert werden. In den Jahren 2009 und 2011 hat das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen einen Aktionstag „pro Opfer“ veranstaltet. Ziel war es, Vertreterinnen und Vertretern von Opferschutzverbänden und Opferschutzeinrichtungen, der Wissenschaft, der gerichtlichen, staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Praxis, der Anwaltschaft sowie der Verwaltung und Politik einen intensiven Informationsaustausch zu aktuellen Fragen des Opferschutzes LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1084 4 zu ermöglichen. Thema des zweiten Aktionstages am 5. Mai 2011, der unter dem Motto "Zivilcourage und Opferschutz" stand, war u. a. die "Nachbarschaftsorientierte Interventionsarbeit bei häuslicher Gewalt". In allen 47 Kreispolizeibehörden ist ein Sachgebiet Opferschutz eingerichtet und mit speziell für diesen Themenbereich ausgebildeten Opferschutzbeauftragten besetzt, die u. a. die polizeiliche Netzwerkarbeit mit staatlichen und freien Trägern koordinieren. Neben der Vermittlung von Opfern an geeignete Fachstellen wirken sie in örtlichen kriminalpräventiven Gremien mit. An 72 örtlichen kriminalpräventiven Gremien in NRW zum Thema „Häusliche Gewalt“ ist die Polizei beteiligt. Seit Einführung des Gewaltschutzgesetzes hat das LKA NRW das Thema in den landesweiten Dienstbesprechungen „Opferschutz“ unter verschiedenen Gesichtspunkten bearbeitet. Um den Ausbau der Vernetzung von Hilfeeinrichtungen und Polizei zu unterstützen, hat der Landespräventionsrat NRW einen „Präventionsatlas“ entwickelt. Er hilft, Netzwerke zu finden und regt zur Optimierung der eigenen Netzwerkarbeit an. Er ist unter http://www.justiz.nrw.de/JM/praevention/publikationen/polizeigremien.pdf eingestellt. Die strukturelle Zusammenarbeit im Bereich der Jugendhilfe wurde durch die Veränderung des SGB VIII im Rahmen des Bundeskinderschutzgesetzes deutlich erweitert. 4. Mit welchen Maßnahmen will die Landesregierung präventives Handeln gegen häusliche Gewalt verstärkt unterstützen? Der Schutz der Opfer vor häuslicher Gewalt ist für die Landesregierung von besonderer Wichtigkeit. In diesem Zusammenhang fördert die Landesregierung aktuell 62 Frauenhäuser, 57 allgemeine Frauenberatungsstellen und 46 Fraueninitiativen gegen sexualisierte Gewalt. Die Landesregierung entwickelt derzeit in einem breit angelegten partizipativen Prozess unter Einbeziehung von Akteurinnen und Akteuren der Anti-Gewalt-Arbeit einen umfassenden Landesaktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen in NordrheinWestfalen . Neben der Hilfe und Unterstützung von Gewaltopfern werden hierbei auch präventive Maßnahmen gegen häusliche Gewalt gezielt in den Blick genommen. Auch viele der weiteren landesgeförderten Vernetzungsprojekte haben einen präventiven Ansatz. So werden vor Ort Veranstaltungen an Schulen mit dem Ziel durchgeführt, Mädchen zu stärken und so vor häuslicher Gewalt zu schützen. Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit sind auf eine Kultur des Hinschauens ausgerichtet und Fortbildungen sensibilisieren verschiedene Berufsgruppen, damit sie auf Anzeichen einer Gewaltsituation eingehen können. Daneben wurden mit Landesmitteln zahlreiche oft mehrsprachige Informationsmaterialien entwickelt, die das Recht auf ein Leben ohne Gewalt betonen. Kinder und Jugendliche sind vielfach Mitbetroffene der häuslichen Gewalt, sei es durch eigene Gewalterfahrung oder auch in mittelbarer Form. Familienberatungsstellen und spezialisierte Beratungsstellen bei Gewalt bieten dabei beratende und therapeutische Hilfe an. Im Haushalt 2011 sind rd. 20,4 Mio. € für die Förderung der Familienberatungsstellen veranschlagt; davon entfallen rd. 1 Mio. auf spezialisierte Beratungsstellen bei Gewalt. Im Rahmen der polizeilichen Kriminalprävention ist es vorrangiges Ziel, Tatgelegenheiten zu reduzieren und tatbereite Personen von der Begehung von Straftaten abzuhalten. Die Polizei informiert über die Phänomene, Gefährdungseinschätzungen, Opferverhalten und -risiken, gibt Verhaltensempfehlungen und verdeutlicht potenziellen Tätern die strafrechtliche Konse- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1084 5 quenzen. Sie weist auf Beratungsangebote von Opferschutz- und Hilfeeinrichtungen hin. Von grundlegender Bedeutung für die polizeiliche Kriminalprävention und den polizeilichen Opferschutz ist bei häuslicher Gewalt das schnelle und konsequente Einschreiten. Häusliche Gewalt wird immer von Amts wegen strafrechtlich verfolgt. Zum Schutz der Opfer und der Kinder wird, wenn Wiederholungsgefahr besteht, ein Rückkehrverbot gegen die Gefährder ausgesprochen. Damit wird den Opfern die Möglichkeit gegeben, zur Ruhe zu kommen und gezielt Hilfe in Anspruch zu nehmen. Für Opfer und Täter häuslicher Gewalt stehen mehrsprachige Informationen des LKA NRW zur Verfügung. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit wird das polizeiliche Handeln in der Broschüre „Häusliche Gewalt und polizeiliches Handeln - Information für die Polizei und andere Beteiligte“ des Ministeriums für Inneres und Kommunales dargestellt. Die Polizei bietet zudem Interessierten spezifische Medien aus dem Programm Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK) wie den Film "Wenn Liebe zur Bedrohung wird" an. Darüber hinaus sind Informationen zum Ablauf des Strafverfahrens und Verhaltenshinweise Bestandteil des Internetauftritts www.polizei-beratung.de. Das Justizministerium hat das Projekt "Förderung der Täterarbeit als Mittel der Gewaltprävention und der Haftvermeidung" konzipiert. Im Rahmen dieses Projekts ist in Abstimmung mit dem Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes NordrheinWestfalen eine Handreichung für Justizbedienstete, speziell für Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte erstellt worden. Die Handreichung zeigt das Ausmaß und die Phänomenologie häuslicher Gewalt auf; sie macht deutlich, dass in Fällen häuslicher Gewalt Täterarbeit einen wirksamen, präventiven Beitrag zum Opferschutz leisten kann. Weiter informiert sie über die Ziele und Inhalte von Täterprogrammen sowie die Voraussetzungen für eine Teilnahme. Die Handreichung ist an alle Gerichte und Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen versandt worden. In das Haushaltsgesetz des Landes NordrheinWestfalen für das Jahr 2011 wurde der Titel "Zuwendung an freie Träger zur Förderung der Täterarbeit" mit einem Ansatz von 349.600 € aufgenommen. Neben der Unterstützung bestehender Träger wurde mit diesen Mitteln das Entstehen neuer Einrichtungen gefördert. Im Jahr 2012 wird die Förderung bestehender und neuer Träger fortgeführt.