LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/11107 11.02.2016 Datum des Originals: 11.02.2016/Ausgegeben: 16.02.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4287 vom 13. Januar 2016 des Abgeordneten Gregor Golland CDU Drucksache 16/10741 Fremdenfeindliche Übergriffe in NRW seit der Silvesternacht Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 4287 mit Schreiben vom 11. Februar 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Justizminister beantwortet . Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Ausschreitungen von asylsuchenden oder migrierten Straftätern in der Silvesternacht nutzen rechtsextreme und fremdenfeindliche Kreise zur Rechtfertigung von wahllosen Angriffen auf nicht-deutsche Menschen. Der WDR berichtet, dass sich gezielt Personen aus der Rechtsextremen-, Hooligan-, Rockerund Türsteher-Szene über sozialen Netzwerke verabreden, um in Köln „das Recht selbst in die Hand zu nehmen“. Diese Form der Selbstjustiz und Jagd auf unschuldige Menschen ist nicht zu rechtfertigen. Am Sonntagabend [Anm.: 10.01.2016] hat es offenbar mehrere gewalttätige Ausschreitungen gegen Migranten rund um den Kölner Hauptbahnhof gegeben haben: - Eine Gruppe von etwa 20 Menschen ging gegen 18:40 Uhr in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofes auf sechs Pakistaner los. Zwei von ihnen mussten im Krankenhaus behandelt werden. - Rund zwanzig Minuten später kam es nicht weit entfernt zu einer zweiten Attacke: Acht Täter sollen einen Mann aus Frechen mit syrischer Staatsangehörigkeit angegriffen haben. Der 39-Jährige wurde verletzt, musste aber nicht ärztlich behandelt werden. - Drei Männer aus Guina wurden kurze Zeit später in der Nähe des Doms angegriffen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11107 2 - Ein 19-jähriger Syrer wurde am Andreaskloster verprügelt. Ob es sich bei allen Angriffen um die gleichen Täter handelt, ist noch unklar.“ Binnen einiger Stunden sind offenbar 153 deutsche Personen überprüft und 199 Platzverweise ausgesprochen worden. Die Polizei hatte nach Hinweisen auf die organisierte Selbstjustiz ihre Truppenstärke in der Innenstadt erhöht. Die Instrumentalisierung der schlimmen Vorkommnisse der Silvesternacht für rechtsextremistische Übergriffe ist ebenso schlimm, wie die Ausschreitungen selbst. Die Täter auf beiden Seiten haben keinen Respekt gegenüber unserer Gesellschaft, unserem Rechtsstaat und unserer Verfassung. 1. Welche rechtsextremen bzw. fremdenfeindlichen Übergriffe hat es seit dem 2. Januar 2016 in NRW gegeben? (Bitte detailliert auflisten nach Datum, Zeit, Ort, Tat, Täter, Opfer, Schaden, ggf. Anzeigen/Konsequenzen, aktueller Ermittlungsstand.) Der KPMD-PMK liefert als Verlaufsstatistik zeitnah eine detaillierte Übersicht über das polizeilich relevante Geschehen im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität . Die Fallzahlen im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität sind eine Zusammenstellung aller der Polizei bekannt gewordenen, politisch motivierten, strafrechtlich relevanten Sachverhalte unter Beschränkung auf ihre erfassbaren, wesentlichen Inhalte. Diese Fallzahlen führen unter Anwendung der Bewertungskriterien des Definitionssystems Politisch motivierte Kriminalität (Definitions -system PMK) auf polizeilicher Seite zu einem überschaubaren und ver-zerrungsfreien Lagebild. Politisch motivierte Straftaten werden hinsichtlich des Begründungszusammenhangs (Motiv) einem oder mehreren Themenfeldern zugeordnet. Diese Themenfelder sind in einem bundes-einheitlichen Katalog festgelegt und bilden somit die Grundlage für die einheitliche Erfassung und Auswertung. „Übergriffe“ sind im Definitionssystem der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) nicht enthalten und dementsprechend als Schlagwort oder Begrifflichkeit nicht recherchierbar. Im Zeitraum vom 02.01.2016 bis 21.01.2016 konnten elf Gewaltdelikte der Politisch motivierten Kriminalität -Rechts gezählt werden. Dabei handelte es sich um acht Körperverletzungs- und drei Branddelikte . In allen Fällen wurden Strafverfahren eingeleitet. Die Ermittlungen dauern an. Einzelheiten ergeben sich aus der Anlage 1. 2. Ist das Phänomen, dass rechtsextreme oder fremdenfeindliche Personen sich über soziale Netzwerke gezielt verabreden, um Jagd auf Migranten zu machen, auch außerhalb der Kölner Vorfälle zu beobachten? (Bitte Beispiele aufzählen) Seit den Geschehnissen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln gibt es bundesweit Feststellungen über sogenannte „Bürgerwehren“, die sich vornehmlich über soziale Netzwerke zusammenfinden und zu Aktionen im öffentlichen Raum verabreden. Bislang liegen weder Erkenntnisse darüber vor, dass diese Gruppen von rechtsmotivierten Straftätern gesteuert oder personell dominiert sind, noch sich verabreden, um gezielt Straftaten zum Nachteil von Migranten zu begehen. Die bisher festgestellten Gruppen sind als sehr heterogen zu bezeichnen. Darunter befinden sich Personen, die als Straftäter polizeilich bekannt sind, rechtsmotivierte Straftäter, Angehörige von Rockergruppierungen und Personen, die der gewaltbereiten Fußballfanszene zuzurechnen sind, genauso wie Personen, zu denen es keine polizeilichen Erkenntnisse gibt, bis hin zu Personen, die selbst einen Migrationshintergrund haben. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11107 3 In verschiedenen Fällen hat es polizeiliche Einsätze bzw. Feststellungen im Zusammenhang mit „Bürgerwehren“ gegeben. In einem Fall konnte eine entsprechende Meldung über die „Patrouille “ einer „Bürgerwehr“ durch die eingesetzten Beamten nicht näher verifiziert werden. Sowohl im Rahmen der polizeilichen Einsätze als auch bei ermittelten Initiatoren einer „virtuellen Bürgerwehr“ wurden in fünf Fällen Gefährderansprachen durchgeführt. In zwei Fällen sind daraufhin die entsprechenden Facebookgruppen durch den Administrator gelöscht worden . Allgemein ist bei den Facebookgruppen zu „Bürgerwehren“ eine hohe Dynamik festzustellen . Das betrifft sowohl das Anmelden von neuen Facebookseiten oder Gruppen zu „Bürgerwehren “ und die damit verbundene Interaktion als auch das Löschen dieser Seiten und Gruppen. Entsprechend der zuvor dargestellten Heterogenität der Personen, die den „Bürgerwehren“ zuzurechnen sind, lauten auch die Feststellungen zu Beiträgen und Kommentaren. Diese reichen von Aufrufen zu gewalt-freien Spaziergängen und demonstrationsähnlichen Aufläufen bis hin zu fremdenfeindlichen Äußerungen und solchen, die zumindest das An-wenden von Gegengewalt billigen. Beispiele ergeben sich aus der Anlage 2. 3. Wie viele mutmaßliche Täter dieser Angriffe sind ermittelt? (Bitte Angaben zu Alter , Geschlecht und ggf. Vorstrafen machen.) Zu den in der Anlage 1 aufgeführten Straftaten konnten bisher vier männliche Tatverdächtige im Alter zwischen 20 und 45 Jahren namentlich ermittelt werden. Zwei Personen waren bis dato polizeilich unbekannt, die beiden anderen Tatverdächtigen sind als „Gewalttäter Sport“ bekannt. Keiner dieser Tatverdächtigen ist bislang als rechtsmotivierter Straftäter in Erscheinung getreten. 4. Mit welchen Strafmaßen ist in diesen Fällen zu rechnen? Ausgangspunkt der Strafzumessung gegen Erwachsene ist die gesetzliche Strafandrohung. Das konkrete Strafmaß hängt daher vornehmlich von der rechtlichen Einordnung einer Straftat ab. Diese obliegt zunächst den Staatsanwaltschaften und später den erkennenden Gerichten. Erst nach abschließender strafrechtlicher Bewertung durch das Gericht steht der gesetzlich bestimmte Strafrahmen fest. Innerhalb des anzuwenden Strafrahmens ist die Strafe gemäß § 46 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) auf der Grundlage der individuellen Schuld des Täters und der Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gemeinschaft zu erwarten sind, zu bestimmen. Dabei sind gemäß § 46 Absatz 2 Satz 1 StGB namentlich auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonst menschenverachtende Beweggründe und Ziele des Täters zu berücksichtigen. Im Jugendstrafrecht gelten die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts gemäß § 18 Absatz 1 Satz 3 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) nicht. Sie haben insoweit Bedeutung, als die dort zum Ausdruck kommende Bewertung des Tatunrechts jedenfalls auch zu berücksichtigen ist. In erster Linie ist darauf abzustellen, welche Sanktion aus erzieherischen Gründen angemessen ist. Im Übrigen verbietet sich eine Prognose zu den in den angesprochenen Vorfällen zu erwartenden Strafmaßen bereits mit Blick auf die in Artikel 97 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11107 4 5. Welche Strategie verfolgt die Landesregierung zur Unterbindung und Verfolgung von Selbstjustiz? Im Hinblick auf das Phänomen der „Bürgerwehren“ werden die Polizei-behörden bei Bekanntwerden solcher Gruppierungen sofort aktiv. Facebookseiten und -gruppen, die im Zusammenhang mit „Bürgerwehren“ bestehen oder in Gründung sind, werden im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten beobachtet und ausgewertet. Sofern die Identität der Initiatoren von einschlägigen Facebookseiten und/oder -gruppen, von sich gründenden oder bestehenden sogenannten „Bürgerwehren“ zweifelsfrei feststeht, wird durch die örtlich zuständigen Polizeidienststellen eine Gefährderansprache durchgeführt. Hierbei werden diese Personen vor Ort angesprochen oder persönlich aufgesucht und auf mögliche Gefahren, die sich aus der Gruppendynamik einer solchen Organisation heraus ergeben können, hingewiesen. Die Landesregierung treibt vielfältige Aktivitäten und Maßnahmen voran, die sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus richten. Diese reichen von präventiven Maßnahmen zur Demokratie- und Toleranzförderung bis hin zur Förderung von unterschiedlichen Beratungskonzepten für verschiedene Zielgruppen. Hierbei unterstützt sie eine Reihe von zivilgesellschaftlichen und ehrenamtlichen Akteurinnen und Akteuren sowie Organisationen in Nordrhein-Westfalen, die sich bereits seit Jahren in der Arbeit gegen Rechtsextremismus und Rassismus engagieren. Mit dem Acht-Punkte-Programm gegen Rechtsextremismus vom 22.12.2011 hat die Landesregierung nachhaltige Maßnahmen zur Bekämpfung der Politisch motivierten Kriminalität- Rechts beschlossen und umgesetzt. Parallel dazu hat sie das „Handlungskonzept der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen zur Früherkennung rechtsextremistischer Terroristen sowie zur Verhütung und Verfolgung der Politisch motivierten Kriminalität-Rechts (Stand: 22.12.2011)“ in Kraft gesetzt und die Bekämpfung der Politisch motivierten Kriminalität-Rechts als Aufgabenschwerpunkt in allen Polizeibehörden verankert. Anlage 1 Gewaltdelikte ab 02.01.2016 Datum Zeit Ort Rechtsnorm Tatverdächtige Geschädigte Staatsangehörigkeit Geschädigte Schaden 09.01.2015 20:00 Mönchengladbach Gefährliche Körperverletzung unbekannt 1 deutsch Tritte gegen Bein; ambulante Behandlung 02.01.2016 20:40 Köln Versuchte schwere Brandstiftung 2 12 1x serbisch 1x bosnisch 2x montenegrinisch 8x kosovarisch eingeschlagenes Fenster 02.01.2016 00:02 Burscheid Versuchte gefährliche Körperverletzung unbekannt 2 1x marokkanisch 1x juristische Person Loch in einer Fensterscheibe 02.01.2016 02:20 Hilchenbach Körperverletzung 2 1 deutsch leicht verletzt 04.01.2016 14:30 Bottrop Brandstiftung unbekannt 1 juristische Person Türschloss aufgebohrt; Rußanhaftungen an der Tür und im Objekt 09.01.2016 02:40 Ascheberg Versuchte schwere Brandstiftung unbekannt 1 juristische Person kein erkennbarer Schaden 10.01.2016 23:55 Raesfeld Schwere Brandstiftung unbekannt 1 juristische Person Gebäudeschaden durch Brand und Löscharbeiten 10.01.2016 18:51 Köln Gefährliche Körperverletzung unbekannt 6 pakistanisch Verletzungen durch Reizgas, Schläge und Tritte; ambulant behandelt 10.01.2016 19:00 Köln Gefährliche Körperverletzung unbekannt 1 syrisch Angriff durch Schäge und Tritte; der Geschädigte verzichtete ausdrücklich auf ärztliche Behandlung 10.01.2016 19:08 Köln Gefährliche Körperverletzung unbekannt 1 guineisch Kopfschmerzen nach Flaschenwurf; ambulante Behandlung 10.01.2016 19:30 Köln Versuchte gefährliche Körperverletzung unbekannt 1 syrisch keine Verletzung Anlage 2 Datum: 08.01.2016 Ort: Bielefeld Sachverhalt: Am 08.01.2016 hat sich gegen 22:00 Uhr eine Personengruppe von ca. 80 Personen am Bielefelder Boulevard getroffen, um „Flagge gegen die sexuellen Übergriffe auf Frauen in Deutschland zu zeigen“. Datum: 08./09.01.2016 Ort: Düsseldorf Sachverhalt: Am 09.01.2016 hat sich die Facebookgruppe „Einer für alle, alle für einen… Düsseldorf passt auf“ mit 45 Personen in der Düsseldorfer Innenstadt getroffen. Im Verlauf dieses Treffens, welches auch von Medienvertretern begleitet worden ist kam es zu verbalen Provokationen von Gegnern dieser Gruppierung. Eine Eskalation konnte durch polizeiliche Einsatzkräfte verhindert werden. Ein Vortreffen, welches bereits am 08.01.2016, ebenfalls in der Düsseldorfer Innenstadt stattgefunden hatte, stieß auf wesentlich geringere Resonanz. Datum: 10.01.2016 Ort: Bonn Sachverhalt: Am 10.01.2016 wurde der Leitstelle Bonn gegen 17:54 Uhr mehrmals fernmündlich gemeldet, dass eine „Bürgerwehr Bonn“ im Bereich Zentralen Omnibus Bahnhofs auf eine Gruppe „krawalliger“ Ausländer getroffen sei und diese kontrollieren wollte, sich diese Gruppe jedoch nicht ausweisen wollte. Bei Eintreffen der Einsatzkräfte wenige Minuten später konnten weder die Melder, eine Gruppe Ausländer noch Personen, die einer „Bürgerwehr“ entsprachen, festgestellt werden. Datum: 14.01.2016 Ort: Oberhausen Sachverhalt: Am 14.01.2016 trafen sich ca. 14 Personen am Hauptbahnhof, um einen „Spaziergang durch die Innenstadt“ durchzuführen. Die Mobilisierung erfolgte über die inzwischen gelöschte Facebookgruppe „Bürgerwehr Oberhausen“. Datum: 15.01.2016 Ort: Bielefeld Sachverhalt: Am 15.01.2016 ist gegen 21:30 Uhr ein Gruppe von 16 Personen am Bielefelder Hauptbahnhof angetroffen worden. Zu diesem Treffen ist über die Facebookseite „Sicheres Bielefeld“ aufgerufen worden. Datum: 15.01.2016 Ort: Mönchengladbach Sachverhalte: Am 15.01.2016 wurde gegen 22:50 Uhr eine 20-25 köpfige Personengruppe im Bereich des Alter Markts angetroffen. Die Personen gaben an, im Laufe der Nacht „für Ruhe und Ordnung sorgen“ zu wollen. Gegen 23:05 wurde am Bahnhofsvorplatz eine weitere 10-12 köpfige Personengruppe angetroffen. Auf Nachfrage gaben diese Personen an, dass man keine „Bürgerwehr“ bilden wolle sondern als „Gruppe befreundeter, interessierter und aufmerksamer Bürger“ spazieren gehe. Sollte man hierbei etwaige strafbare Handlungen feststellen, werde man selbstverständlich umgehend die Polizei informieren - man wisse um das Gewaltmonopol des Staates und respektiere dies. Zuvor ist auf der Facebookseite „Bürgerwehr Mönchengladbach hilft“ zu einem „Treffen am Freitagabend ab 22:00 h am HBF in Mönchengladbach“ aufgerufen worden. Ein gezielter Zulauf zu diesem Treffpunkt konnte nicht festgestellt werden. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/11107