LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/11350 07.03.2016 Datum des Originals: 04.03.2016/Ausgegeben: 10.03.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4440 vom 3. Februar 2016 des Abgeordneten Dirk Wedel FDP Drucksache 16/11083 Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um die Ankündigungen der Ministerpräsidentin zu schnelleren Strafverfahren umzusetzen? Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 4440 mit Schreiben vom 4. März 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Finanzminister und dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Unter Punkt 5 des als Reaktion auf die massiven Straftaten in der Silvesternacht in der Sondersitzung des Landtags am 14.01.2016 vorgestellten 15-Punkte-Programms zur Stärkung der inneren Sicherheit hat Ministerpräsidentin Kraft die „Intensive Nutzung des besonders beschleunigten Strafverfahrens insbesondere in den Großstädten des Landes“ zu einem zentralen Gegenstand gemacht (Drs. 16/10732, Seite 3). Es müsse stärker als bisher nach dem Prinzip gehandelt werden: „Die Strafe muss direkt auf dem Fuße folgen.“ (Plenarprotokoll 16/102, Seite 10538). Um diesem richtigen Grundsatz in NRW wieder Geltung zu verschaffen, bedarf es allerdings eines grundlegenden Umsteuerns der rot-grünen Landesregierung und über das 15-Punkte- Programm hinausgehender Maßnahmen. Beispielsweise ist die durchschnittliche Dauer aller Strafverfahren vor den Landgerichten in Verfahren 1. Instanz, die im Zeitraum 2005 bis 2009 zwischen 5,9 und 6,1 Monaten betragen hat, von 2010 bis 2014 schrittweise von 6,0 auf einen Höchstwert von 7,3 Monaten gestiegen (https://www.justiz.nrw.de/Gerichte_Behoerden/zahlen_fakten/statistiken/justizgeschaeftsstatistik /landgerichte/verfahrensdauer/straf_1instanz.pdf). Die Strafkammern zahlreicher Landgerichte in NRW sind durch die hohe Anzahl von Haftsachen , die aufgrund des Beschleunigungsgebotes vorrangig zu bearbeiten waren, so ausgelastet , dass dort aufgelaufene Nichthaftsachen regelmäßig über mehrere Jahre nicht oder kaum bearbeitet und verhandelt werden können. So ist die durchschnittliche Bearbeitungszeit von LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11350 2 Nichthaftsachen im Landesdurchschnitt von 2010 mit 239 Tagen auf 2014 mit 306 Tagen kontinuierlich um 67 Tage (28 %) spürbar angestiegen (vgl. Vorlage 16/2852): Durchschnittliche Bearbeitungsdauer von Nichthaftsachen in Tagen / Land NRW: Jahr 2010 2011 2012 2013 2014 Land NRW 239 Tage 257 Tage 267 Tage 274 Tage 306 Tage Auch Nichthaftsachen bei Landgerichten betreffen indes schwere Straftaten und nicht selten auch gefährliche Täter. Die Strafkammern der Landgerichte sind nach § 74 Absatz 1 GVG als erkennende Gerichte des ersten Rechtszuges zuständig für Verbrechen, die nicht zur Zuständigkeit des Amtsgerichts oder des Oberlandesgerichts gehören, sowie für alle Straftaten, bei denen eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist oder bei denen die Staatsanwaltschaft in den Fällen des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG Anklage beim Landgericht erhebt. Trotz hoher persönlicher Anstrengungen kommen die Richter aufgrund der Fülle - gerade auch von vorrangigen Haftsachen - mit den Verfahren nicht mehr nach. Neben der hohen Zahl der Verfahren liegt dies auch an vermehrt überdurchschnittlich schwierigen und überproportional umfänglichen Verfahren. Insoweit ist ein besorgniserregender Zustand zu beklagen, in dem nicht mehr nur die Strafe der Tat nicht mehr auf dem Fuße folgt, sondern im Gegenteil immer öfter die lange Verfahrensdauer strafmildernd zugunsten des Täters berücksichtigt werden muss oder aufgrund dessen bereits im Urteil ausgesprochen werden muss, dass ein Teil der Strafe als vollstreckt gilt. Leidtragende sind auch die Opfer und Zeugen, die nicht abschließen können, sich immer schlechter an die Einzelheiten der Tat erinnern können und dem mutmaßlichen Täter gegebenenfalls weiter begegnen. Die FDP-Fraktion hat deshalb bereits in den Haushaltsberatungen die Schaffung von 157 neuen Stellen für die Gerichte und Staatsanwaltschaften in NRW beantragt. Obwohl die Finanzierung der Stellen haushaltsneutral durch Umschichtung innerhalb des Justizhaushaltes möglich ist, hat Rot-Grün die entsprechenden Anträge kommentarlos abgelehnt (vgl. Drs. 16/10600). Voraussetzung von beschleunigten Verfahren ist, dass ein einfacher Sachverhalt oder eine klare Beweislage gegeben ist (§ 417 StPO) und lediglich eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr in Betracht kommt (§ 419 Absatz 1 Satz 2 StPO). Diese Voraussetzungen liegen lediglich bei einer Teilmenge aller Strafverfahren mit amtsgerichtlicher Zuständigkeit vor und beispielsweise gerade nicht bei den vor den Strafkammern der Landgerichte zu verhandelnden Strafsachen 1. Instanz. Der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Beschleunigungsgrundsatz in Strafsachen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.04.2013, 2 BvR 2567/10, Rdnr. 15) beansprucht naturgemäß Geltung auch für Nichthaftsachen und gilt auch für die Vollstreckung verhängter (Freiheits- )Strafen (BVerfG a.a.O.). Folgerichtig hat Ministerpräsidentin Kraft denn auch in mehreren Interviews generell schnellere Strafverfahren angekündigt, und dies nicht nur auf die „besonders beschleunigten Verfahren “ begrenzt. So ließ sich Ministerpräsidentin Kraft in den Westfälischen Nachrichten vom 29.01.2016 auf die Frage, was konkret für ein Mehr an Sicherheit getan werde, wie folgt zitieren: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11350 3 „Wir haben 15 zentrale Maßnahmen vorgesehen, die ganz konkret helfen. Dazu gehören eine konsequente Strafverfolgung und schnellere Strafverfahren. ... Wir stärken zudem die Staatsanwaltschaften …“. Gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger erklärte Ministerpräsidentin Kraft in der Ausgabe vom 30.01.2016/01.02.2016: „Nach Köln haben wir einen 15-Punkte-Plan zur Verbesserung der inneren Sicherheit vorgelegt : Schnellere Strafverfahren, …, Stärkung der Justiz …“. Die durch die Ministerpräsidentin erfolgte Ankündigung generell schnellerer Strafverfahren, ohne dies auf die „besonders beschleunigten Verfahren“ zu beschränken, ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, bedarf nun aber der beherzten Umsetzung. Indes scheint Justizminister Kutschaty keine besondere Dringlichkeit hinsichtlich der dazu erforderlichen Stärkung der Justiz zu verspüren. In der 54. Sitzung des Rechtsausschusses am 20.01.2016 verwies er in Bezug auf den entsprechenden Personalmehrbedarf auf die nächsten Haushaltsberatungen, für die die Landesregierung einen Vorschlag unterbreiten werde. Dabei hat selbst der Finanzminister in der 88. Sitzung des Haushalts- und Finanzausschusses am 21.01.2016 unter Tagesordnungspunkt 15 „Vorhabenplanung des nordrhein-westfälischen Finanzministers für das neue Jahr 2016“ diesbezüglich einen Nachtragshaushalt in Aussicht gestellt. 1. Welche Maßnahmen über die „Intensive Nutzung des besonders beschleunigten Strafverfahrens insbesondere in den Großstädten des Landes“ hinaus ergreift die Landesregierung um in NRW die Dauer von Strafverfahren zu verringern? Eine zügigere Bearbeitung von Strafverfahren bei den Amts- und Landgerichten sowie der vorgeschalteten Ermittlungsverfahren bei den Staatsanwaltschaften kann nur über eine deutliche personelle Verstärkung erreicht werden. Daher hat die Landesregierung in Umsetzung des Maßnahmenpakets für mehr Innere Sicherheit und bessere Integration vor Ort in dem am 23.01.2016 beschlossenen Entwurf für den Nachtragshaushalt 2016 296 neue (Plan-)Stellen und 4 Einstellungsermächtigungen nebst der notwendigen Sachmittel vorgesehen. Im Einzelnen sollen 100 zusätzliche Planstellen für Richter/-innen (davon 25 Planstellen der Besoldungsgruppe R 2), 100 weitere Planstellen für Staatsanwälte/-innen (davon 15 Planstellen der Besoldungsgruppe R 2), 60 neue Stellen für Arbeitnehmer/-innen vergleichbar der Laufbahngruppe des mittleren Dienstes, 26 zusätzliche Planstellen des einfachen Dienstes für Justizhauptwachtmeister/-innen, 10 weitere Planstellen des gehobenen Justizdienstes sowie 4 neue Einstellungsermächtigungen für Rechtspflegeranwärter /-innen geschaffen werden. 2. Anhand welcher konkreten Ziele bemisst die Landesregierung die Maßnahmen zur Umsetzung der von der Ministerpräsidentin angekündigten Stärkung der Justiz? 3. Inwieweit orientiert sich die Landesregierung bei der Umsetzung der von der Ministerpräsidentin angekündigten Stärkung der Justiz an der Personalbedarfsberechnung nach dem PEBB§Y-System? Die Fragen 2. und 3. werden zusammen beantwortet. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11350 4 Eine Umsetzung des 15-Punkteprogramms der Landesregierung für mehr Innere Sicherheit und Integration vor Ort, insbesondere um eine schnelle Ermittlung und Verurteilung von Straftätern - und ggfs. deren Abschiebung - zu ermöglichen, kann nur durch eine personelle Verstärkung der Staatsanwaltschaften und der ordentlichen Gerichtsbarkeit erfolgen. Zur Bestimmung des Umfangs der erforderlichen personellen Verstärkung dienen die Ergebnisse des bundesweit angewandte Personalbedarfsberechnungssystems PEBB§Y der Landesregierung im Rahmen der Haushaltsaufstellung grundsätzlich als Orientierungs- und Entscheidungshilfe. Im Sinne einer sachgerechten und belastbaren Entscheidung werden zudem statistische Daten wie die Geschäftsentwicklung, die Entwicklung der Bestandszahlen und die Verfahrensdauer mit berücksichtigt. Darüber hinaus fließen Einschätzungen zu den Auswirkungen möglicher Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung des Landes Nordrhein-Westfalen auf die Justiz des Landes sowie zu denkbaren gesellschafts- und rechtspolitischen Veränderungen bei der Entscheidung mit ein. 4. Welche zeitlichen Zielvorstellungen verfolgt die Landesregierung hinsichtlich der einzelnen zur Umsetzung einer Stärkung der Justiz erforderlichen Maßnahmen? Siehe Antwort zur 1. Frage. 5. Welche zusätzlichen Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um beim Vollzug des Jugendarrests dem Prinzip „Die Strafe muss direkt auf dem Fuße folgen“ Geltung zu verschaffen? Die bundeseinheitlichen Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz enthalten bereits jetzt Anleitungen und Orientierungshilfen für eine beschleunigte und effektive Vollstreckung von Arresten . Auf das Erfordernis der zügigen Vollstreckung hat das Justizministerium zudem in mehreren Erlassen, letztmalig mit Erlass vom 7. März 2013, hingewiesen. Auf Initiative Nordrhein- Westfalens im Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz im Oktober 2014 überarbeitet derzeit eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe die vorgenannten Richtlinien. Dabei wird auch geprüft , ob und gegebenenfalls inwieweit die Abläufe weiter optimiert werden können. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/11350