LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/1143 15.10.2012 Datum des Originals: 12.10.2012/Ausgegeben: 18.10.2012 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 450 vom 7. September 2012 des Abgeordneten Peter Preuß CDU Drucksache 16/900 Mehrfachmedikation bei älteren Patientinnen und Patienten Die Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter hat die Kleine Anfrage 450 mit Schreiben vom 12. Oktober 2012 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Mit zunehmendem Alter steigt die Anzahl der Krankheiten und gerade Seniorinnen und Senioren sind von Mehrfacherkrankungen betroffen, die medikamentös behandelt werden müssen . Die adäquate Behandlung dieser Patientengruppe stellt Ärzte vor besondere Herausforderungen . Durch die tägliche Einnahme mehrerer Arzneimittel, die teilweise von verschiedenen Fachärzten verschrieben werden, können gefährliche Wechsel- und Nebenwirkungen auftreten. Dies kann zu Folgeerkrankungen wie z. B. dauerhafte Organschäden führen, die oft durch weitere Medikamente behandelt werden müssen. Der daraus entstehende Teufelskreislauf kann im schlimmsten Falle tödlich enden. Vorbemerkung der Landesregierung Sieben Millionen Menschen in Deutschland nehmen täglich fünf oder mehr Medikamente dauerhaft ein. Insbesondere ältere Menschen müssen aufgrund unterschiedlicher Erkrankungen verschiedene Arzneimittel gleichzeitig einnehmen. Je mehr Arzneistoffe eingesetzt werden, desto höher ist das Risiko unerwünschter Arzneimittelwirkungen sowie -wechselwirkungen. Mit dem Alter ändern sich zudem viele körperliche Prozesse. Dies führt neben vermehrt auftretenden chronischen Krankheiten dazu, dass sich der Umgang des Körpers mit Arzneistof- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1143 2 fen ändert. Dadurch kann es zur Wirkungsabschwächung oder –verstärkung bestimmter Arzneistoffe kommen, oder Substanzen werden schneller oder auch langsamer als zuvor abgebaut. Schätzungsweise sind bis zu 5 % der Krankenhauseinweisungen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen, die teilweise durch Wechselwirkungen zustande kommen. Bei älteren Patientinnen und Patienten kann sogar von 10-15 % ausgegangen werden. Mehr als 60 % dieser Fälle könnten vermieden werden. 1. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung über die Mehrfachmedikation bei älteren Patientinnen und Patienten? Im Schnitt nimmt jeder Mensch ab dem 60. Lebensjahr drei rezeptpflichtige und fast genauso viele nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel ein. Im Alter zwischen 75 und 85 Jahren bekommt etwa ein Drittel der Patientinnen und Patienten mehr als acht Arzneimittel. Damit einher geht ein hohes Risiko unerwünschter Wechsel- und Nebenwirkungen. Nicht selten kommt es auch zu Verschreibungskaskaden, bei denen Nebenwirkungen, die nicht als solche erkannt werden, zur Verordnung weiterer Medikamente führen. Der jährlich erscheinende Arzneiverordnungsreport, herausgegeben von Prof. U. Schwabe und Dr. D. Paffrath, analysiert seit Jahren u. a. die Arzneiverordnungen nach Alter und Geschlecht . Danach werden über 65-Jährigen durchschnittlich 3,7 defined daily doses (DDD) verordnet; bei Frauen liegt der Wert bei ca. 3,8; bei Männern bei ca. 3,6 DDD. 80 bis 84- Jährigen werden durchschnittlich 4,3 DDD verordnet, hier liegt der Wert bei Frauen bei ca. 4,4 und bei Männern bei ca. 4,2 DDD. Die DDD ist eine rechnerische Hilfsgröße, die die statistische Tagesdosis eines Medikaments in seinem Hauptindikationsgebiet angibt. Aus einer Untersuchung des Bereichs Sozialpharmazie im Landeszentrum Gesundheit (LZG.NRW) in Zusammenarbeit mit der Westfälischen Wilhelms - Universität (WWU) Münster und den Unteren Gesundheitsbehörden in Alten- und Pflegeheimen wurde ermittelt, dass die dortigen Bewohnerinnen und Bewohner am Anfang des Projekts im Median acht Fertigarzneimittel einnahmen. Diese Anzahl konnte im Rahmen des Projektes nach Intervention durch eine speziell geschulte Pharmazeutin auf sechs notwendige Arzneimittel reduziert werden. 2. Welche Wechsel- und Nebenwirkungen treten bei Mehrfachmedikation beson- ders häufig auf? Arzneimittel können die Aktivität arzneimittelabbauender Enzyme steigern oder hemmen. Hierdurch kann sich der Blutspiegel von gleichzeitig eingenommenen Medikamenten senken oder erhöhen. Dies kann dann zu Unter- oder Überdosierungen führen. Diese Form der Wechselwirkung trifft auf viele Arzneimittel zu. Weiterhin verändern sich Organe und Rezeptoren im Alter. So wirken beispielsweise die häufig als Beruhigungs- oder Schlafmittel eingesetzten Benzodiazepine bei älteren Menschen stärker als bei jüngeren Menschen. In der Folge nimmt das Sturzrisiko zu. Außerdem besteht ein signifikantes Risiko, eine Abhängigkeit von diesen Substanzen zu entwickeln. In einer Untersuchung in Altenheimen zeigte sich, dass die meisten Nebenwirkungen das Verdauungssystem betrafen, gefolgt von neurologischen und Herzkreislauf-Problemen. Das Blutgerinnungssystem kam mit 5 % an vierter Stelle. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1143 3 3. Welche Medikamentengruppen sind für ältere Patientinnen und Patienten besonders problematisch hinsichtlich der Wechsel- und Nebenwirkungen? Im August 2010 veröffentlichten Forscherinnen und Forscher erstmals für den deutschen Arzneimittelmarkt eine Liste von Arzneistoffen, die bei betagten Patientinnen und Patienten potentiell ungeeignet sind. Zudem werden dort, soweit möglich, Alternativen genannt. Dieses als PRISCUS-Liste bezeichnete Hilfsmittel steht seitdem allen Ärztinnen und Ärzten sowie allen Apothekerinnen und Apothekern zur Verfügung. Dennoch werden nach unterschiedlichen Untersuchungen Arzneimittel der PRISCUS-Liste noch zu häufig älteren Patientinnen und Patienten verordnet. Besonders kritisch zu bewerten sind alle Psychopharmaka, die insgesamt für 33 % der unerwünschten Arzneimittelwirkungen verantwortlich sind. In der bereits erwähnten sozialpharmazeutischen Untersuchung des LZG.NRW zeigte sich, dass die meisten der dort auftretenden arzneimittelbezogenen Probleme das Herz-KreislaufSystem , das Stoffwechsel-System oder das Nervensystem betrafen. Zu den häufigsten Arzneistoffen in diesen Gruppen zählten die ACE-Hemmer (Blutdrucksenker, verschiedene Substanzen), die Protonenpumpenhemmer (Hemmung der Magensäureproduktion) sowie das Neuroleptikum Risperidon und das Antidepressivum Amitriptylin. Zu den arzneimittelbezogenen Problemen gehören alle potentiellen Probleme, die unter der Arzneimitteltherapie auftreten können. Dazu zählen beispielsweise eine fehlende Indikation für ein eingesetztes Arzneimittel, ungeeignete Arzneimittelauswahl, falsche Dosierung, aber auch Neben- und Wechselwirkungen. Gerinnungshemmer, Diuretika (harntreibende Mittel), NSAR (leicht bis mittelstark wirksame Schmerzmittel wie Ibuprofen) und herzwirksame Glykoside führen am häufigsten zu Krankenhauseinweisungen . Diese Stoffgruppen sowie häufig zur Blutdrucksenkung eingesetzte ACE-Hemmer und Betablocker sind auch am häufigsten an mittelschweren Interaktionen beteiligt. 4. Durch welche Maßnahmen können ältere Patientinnen und Patienten vor mögli- chen Wechsel- und Nebenwirkungen durch Mehrfachmedikation geschützt werden ? Mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen können Ältere besser geschützt werden, insbesondere durch  verbesserte Aus-, Fort- und Weiterbildung der Heilberufe zur Pharmakotherapie älte- rer multimorbider Patientinnen und Patienten.  vermehrte Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen/Ärzten mit Apothekerinnen /Apothekern sowie bei Pflegefällen mit Pflegekräften, um Arzneimittelrisiken früh erkennen zu können. Ziel ist die Entwicklung einer Sicherheitskultur, die nicht nur zur Vermeidung von Fehlern bei der Arzneimitteltherapie beiträgt, sondern auch ein Sicherheitsnetz bereitstellt, das in der Lage ist, Fehler rechtzeitig zu erkennen und vor einem Schadensfall für Patientinnen und Patienten Korrekturen ermöglicht.  Nutzung der Apotheke als Schnittstelle, in der die Gesamtmedikation der Patientinnen und Patienten, inklusive aller Verschreibungen durch Hausarzt/Hausärztin und Fachärzte/Fachärztinnen sowie die Selbstmedikation, überblickt wird. In diesem Zusammenhang kann ein Medikationsplan helfen, um die Gesamtmedikation der Pati- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1143 4 entinnen und Patienten darzustellen und anhand dessen mögliche Risiken und Wechselwirkungen zu entdecken. In der im Juni 2012 in Kraft getretenen novellierten Apothekenbetriebsordnung ist außerdem erstmals ein Medikationsmanagement durch die Apothekerin oder den Apotheker vorgesehen. Dieses dient dazu, die Gesamtmedikation zu erfassen und auf mögliche Neben- und Wechselwirkungen zu prüfen .  Erarbeitung von Handlungsempfehlungen oder -leitlinien zur Behandlung älterer multimorbider Patientinnen und Patienten durch ärztliche Fachgesellschaften und Implementierung dieser Leitlinien in die ärztliche Praxis. Die Polymedikation multimorbider Menschen kommt u. a. auch durch die vielen eigenständigen Leitlinien zu jeder Krankheit zustande. Nicht jede Krankheit kann leitliniengerecht therapiert werden, wenn dadurch die Zahl verordneter Arzneimittel für die älteren multimorbiden Patientinnen und Patienten zu groß wird und mögliche Wechselwirkungen den Gesundheitszustand beeinträchtigen. Daher wird die Entwicklung von geriatrischen Leitlinien vorbereitet, die den Ärztinnen und Ärzten Entscheidungshilfen geben sollen. Sie sollen es ermöglichen, dass sich die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in Absprache mit den Patientinnen und Patienten und nach Verständigung auf Therapieziele auf bestimmte Medikamente konzentrieren. Dazu gehört auch, festzulegen, auf welche Medikamente am ehesten verzichtet werden kann.  verstärktes Einbeziehen von älteren Menschen in Klinische Prüfungen vor und nach Markteintritt eines Arzneimittels, um die Anwendungssicherheit von Arzneimitteln in dieser Bevölkerungsgruppe zu verbessern. 5. Inwieweit unterstützt die Landesregierung Maßnahmen, mit denen behandelnde Ärzte für die Problematik der Wechsel- und Nebenwirkungen durch Mehrfachmedikation sensibilisiert werden? Die diesjährige Landesgesundheitskonferenz wird sich am 22. November mit dem Thema „Arzneimitteltherapiesicherheit als elementarer Baustein einer guten und sicheren gesundheitlichen Versorgung der Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen“ beschäftigen. Unter Federführung meines Hauses ist der Entwurf der Entschließung unter Einbeziehung aller Fachkreise und von Patientenvertretern bereits erarbeitet und abgestimmt worden. Die Entschließung soll das Bewusstsein aller im Gesundheitssystem Tätigen für die vielen Risiken des Medikationsprozesses schärfen, insbesondere bei Polymedikation für ältere Menschen . Sie enthält ein ganzes Bündel von konkreten Verabredungen und Empfehlungen, mit der sich alle an der Landesgesundheitskonferenz beteiligten Institutionen und Verbände verpflichten , in den nächsten zwei Jahren weitere Anstrengungen für mehr Arzneimitteltherapiesicherheit zu unternehmen.