LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/11611 01.04.2016 Datum des Originals: 01.04.2016/Ausgegeben: 06.04.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4534 vom 4. März 2016 des Abgeordneten Dr. Ingo Wolf FDP Drucksache 16/11336 Zwangsrenteneintritt für Bausachverständige nach der Landesbauordnung mit Vollendung des 68. Lebensjahres noch zeitgemäß? Der Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr hat die Kleine Anfrage 4534 mit Schreiben vom 1. April 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales, der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter und dem Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien und Chef der Staatskanzlei beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Nach § 5 Abs. 1 lit. b der Verordnung über staatlich anerkannte Sachverständige nach der Landesbauordnung (SV-VO) erlischt die staatliche Anerkennung als Sachverständiger für die Prüfung der Standsicherheit, für die Prüfung des Brandschutzes und für Erd- und Grundbau mit Vollendung des 68. Lebensjahres, ohne dass es hierzu einer weiteren Maßnahme oder Handlung der Anerkennungsbehörde oder des Sachverständigen bedürfte. Die Regelung hat eine Höchstaltersgrenze zum Gegenstand, die durch das Vorsehen des automatischen Anerkennungsverlusts bei den genannten Sachverständigengruppen mit Vollendung des 68. Lebensjahres einen Zwangsrenteneintritt bewirkt. Der Renteneintritt ist dabei unabhängig vom Fortbestehen des entsprechenden Sachverstands oder anderweitigen körperlichen und geistigen Voraussetzungen. Die Tätigkeit als staatlich anerkannter Bausachverständiger kann jenseits der Altersschwelle nicht mehr ausgeübt werden. Diese Regelung ist allerdings keineswegs zwingend. Schon der Vergleich mit anderen Bundesländern zeigt, dass eine Ausübung der Sachverständigentätigkeit als staatlich anerkannter Sachverständiger auch über das 68. Lebensjahr hinaus stattfinden kann. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 der Hessischen Prüfberechtigten- und Prüfsachverständigenverordnung (HPPVO) tritt das automatische Erlöschen der staatlichen Anerkennung erst mit Vollendung des 70. Lebensjahres ein. Der Hessische Verordnungsgeber ist offenbar anders als der nordrhein-westfälische durchaus der Auffassung, dass etwa ein Neunundsechzigjähriger die LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11611 2 Aufgaben eines Bauprüfsachverständigen ebenso verlässlich auszuführen vermag wie Personen jüngeren Alters. Ein sachlicher Grund, gerade die eine oder die andere Altersgrenze heranzuziehen, wird nicht ersichtlich. Altersdiskriminierung ist Gegenstand sowohl der Antidiskriminierungsrichtlinie (2000/78/EG) der EU als auch des deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). In Höchstaltersgrenzen liegt dabei dem Grunde nach eine Diskriminierung nach beiden Rechtsquellen (§ 1 der Richtlinie und § 1 AGG). Diese Diskriminierung ist allerdings rechtfertigungsfähig, soweit gewisse sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung aus Gründen des Lebensalters streiten. Das europäische Recht erkennt insoweit Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung als rechtfertigend zu Gunsten gesetzlicher und tarifvertraglicher Höchstaltersgrenzen an (Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie), sofern diese Ziele unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verwirklicht werden. Gleichermaßen können die Mitgliedstaaten aus Gründen der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, der Verteidigung der Ordnung, der Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer Altersgrenzen vorsehen. Solche starren Altersgrenzen sind auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unter gewissen Voraussetzungen als rechtfertigungsfähig bewertet worden (Piloten: NZA 2011, 1039). Das Bundesverwaltungsgericht erachtet starre Altershöchstgrenzen für Bausachverständige für zulässig (Urteil vom 21.01.2015, Az.: 10 CN 1.14). Weder das AGG noch Unionsrecht verböten es dem (hier: hessischen) Verordnungsgeber, eine generelle Höchstaltersgrenze von 70 Jahren für Prüfsachverständige festzusetzen. Die generelle Höchstaltersgrenze für Prüfsachverständige stelle zwar eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach dem AGG dar, sie werde aber durch den in Art. 2 Abs. 5 der Europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG enthaltenen Sicherheitsvorbehalt legitimiert. Die Festlegung der Altersgrenze für Prüfsachverständige diene der Gebäudesicherheit, dem Schutz von Leben und Gesundheit der Gebäudenutzer und der Allgemeinheit (Bausicherheit) und damit der öffentlichen Sicherheit als einem legitimen Zweck. Die Grenze schließe das altersbedingt erhöhte Risiko von Prüferfehlleistungen aus. Ungeachtet dieser Rechtsprechung muss sich jedoch die Frage stellen, ob angesichts veränderter Arbeits- und Lebensgewohnheiten, einer stetig steigenden Lebenserwartung und der damit einhergehenden gesteigerten Leistungsfähigkeit im fortgeschrittenen Lebensalter Altersgrenzen – so man sie nicht gänzlich aufgeben möchte – doch zumindest nach oben korrigiert werden müssen. Mit der Lebenserwartung verlängert sich auch die Spanne, in der Menschen leistungsfähig sind. Der Zeitpunkt des körperlichen Verfalls setzt heute später ein als je zuvor. Sachverständige Kreise gehen davon aus, dass im laufenden Jahrzehnt ein 50- Jähriger etwa das Niveau der Leistungsfähigkeit eines 40-Jährigen aus der Zeit um 1970 aufweist. Im Zuge dieser Entwicklung sollte es denjenigen, die dies für sich ausdrücklich wünschen, ermöglicht werden, ihr Berufsleben selbstbestimmt bis in ein höheres Alter hinein fortsetzen zu können. Eine solche Fortsetzung scheint auch für staatlich anerkannte Bausachverständige möglich: Insoweit stellt sich schon die Frage, ob etwa die in der Regel auf der Anwendung mathematischer und graphischer Verfahren beruhende Beurteilung der Baustatik tatsächlich durch Bausachverständige im Alter von 70 oder mehr Jahren ernstlich gefährdet wird. Diesbezüglich dürfte eher die Annahme naheliegen, dass ältere Bausachverständige aufgrund ihrer großen Berufserfahrung, ihrer Kenntnisse und erworbener Routinen zwanglos in der Lage sein dürften, Baustatikprüfungen auch noch im höheren Lebensalter verlässlich durchzuführen. Nichts anderes dürfte für die Prüfung des Brandschutzes und des Erd- und LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11611 3 Grundausbaus gelten. Sachgerechter als eine starre Altersgrenze erscheint in den bezeichneten Bereichen deshalb eher eine flexible „Fähigkeitengrenze“, die sich an der individuellen Leistungsfähigkeit des oder der Bausachverständigen im jeweiligen Fachgebiet orientiert und etwa als verpflichtende Eignungsprüfung ab Erreichen eines bestimmten Lebensalters vorzusehen ist. Nichtsdestotrotz kursierten in jüngerer Zeit in Nordrhein-Westfalen Hinweise darauf, die Altersgrenze für staatlich anerkannte Bausachverständige könne zumindest von 68 auf 70 Jahre angehoben und damit an die hessische Regelung angepasst werden. Mindestens dies erscheint auch vor dem Hintergrund sinnvoll, dass anderenfalls eine nicht unbeträchtliche Abwanderung von anerkannten Bausachverständigen in unser unmittelbares Nachbarbundesland nicht nur droht, sondern bereits stattfindet, was sich auch mit Blick auf staatliche Steuereinnahmen und Wirtschaftskraft des Landes Nordrhein-Westfalen bemerkbar machen dürfte. 1. Beabsichtigt die Landesregierung eine Erhöhung der Höchstaltersgrenze für staatlich anerkannte Bausachverständige für die Prüfung der Standsicherheit, für die Prüfung des Brandschutzes und für die Prüfung des Erd- und Grundbaus von gegenwärtig auf 68 auf 70 oder mehr Lebensjahre? Es ist beabsichtigt, unmittelbar nachdem der Gesetzentwurf der Landesregierung zur Novellierung der Landesbauordnung Nordrhein-Westfalen dem Landtag Nordrhein-Westfalen zugeleitet wurde, unter anderem damit zu beginnen, die Verordnung über staatlich anerkannte Sachverständige nach der Landesbauordnung (SV-VO) zu novellieren. Auch die Regelung über die Altersgrenze von staatlich anerkannten Sachverständigen für die Prüfung der Standsicherheit, für die Prüfung des Brandschutzes und für Erd- und Grundbau soll überarbeitet werden. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass die Altersgrenze auf 70 Jahre angehoben wird. 2. Sofern die Landesregierung eine derartige Erhöhung beabsichtigt / nicht beabsichtigt, was sind hierfür jeweils die Gründe? Der Entscheidung zugunsten einer Erhöhung der Altersgrenze läge die Überlegung zugrunde, dass sich mit der inzwischen höheren Lebenserwartung auch die Vorstellungen über die Dauer der Berufstätigkeit verändert haben könnten. 3. Welche Erwägungen sprechen aus Sicht der Landesregierung für und gegen die Einführung einer an den subjektiven beruflichen Fähigkeiten des jeweiligen Sachverständigen orientierten flexiblen Altersgrenze? Die Tätigkeit von staatlich anerkannten Sachverständigen dient dazu, die öffentliche Sicherheit beim Bauen zu gewährleisten. Sie erfordert nicht nur ein fundiertes Fachwissen, sondern auch eine fortdauernde Anpassungsfähigkeit an technische Veränderungen, neue Bauweisen und die Weiterentwicklung der einschlägigen Software. Daneben gehört es aber auch zu den Aufgaben der staatlich anerkannten Sachverständigen, stichprobenhafte Kontrollen der Bauausführung durchzuführen, das heißt, auf der Baustelle zu überwachen, ob die jeweiligen Bauteile den von ihnen geprüften Anforderungen entsprechen. Es wird daher den staatlich anerkannten Sachverständigen sowohl intellektuell als auch physisch ein hohes Leistungsniveau abverlangt. Wollte man bei jedem/jeder staatlich LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11611 4 anerkannten Sachverständigen in bestimmten Intervallen feststellen, ob er/sie den Anforderungen an seinen/ihren Beruf noch entspricht, hätte dies einen hohen Ermittlungs- und Verwaltungsaufwand zur Folge. Demgegenüber erscheint es sinnvoll, einer festen Altersgrenze, die allerdings den aktuellen Vorstellungen über Berufstätigkeit im Alter angepasst sein muss, den Vorzug zu geben. 4. Welche Maßnahmen trifft die Landesregierung im Übrigen, um der Problematik der Altersdiskriminierung entgegenzuwirken? Die selbstbestimmte Teilhabe im Alter und Schutz vor Diskriminierungen sind wichtige Anliegen der Landesregierung. Um dies erhalten oder erreichen zu können, ist dafür Sorge zu tragen, dass Strukturen vorgehalten werden, die Selbstbestimmung und Teilhabe auch im Alter ermöglichen. Die Landesregierung hat deshalb die Weiterentwicklung des bisherigen Landespflegegesetzes (2003) in das Gesetz zur Weiterentwicklung des Landespflegerechtes und Sicherung einer unterstützenden Infrastruktur für ältere Menschen, pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige (Alten- und Pflegegesetz Nordrhein-Westfalen - APG NRW) vom 2. Oktober 2014 (in Kraft getreten am 16. Oktober 2014) bewusst damit verbunden, entsprechende landesrechtliche Grundlagen zu formulieren, um nicht nur auf Einzelfälle reagieren zu können, sondern strukturpräventiv zu handeln: Immanente Zielbestimmung für alle Normen ist die Sicherung des Selbstbestimmungsrechtes in allen Lebensphasen - § 1 Abs. 2 APG NRW; Angebote sind bedarfsgerecht zu planen und zu gestalten; die UN- Behindertenrechtskonvention ist zu berücksichtigen - § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 APG NRW; Zur Beratung der Landesregierung in Fragen der Alten- und Pflegepolitik nach diesem Gesetz ist vom MGEPA ein „Landesausschuss Alter und Pflege“ gebildet worden - § 3 Abs. 3 APG NRW, dem u.a. die Selbsthilfeverbände der älteren Menschen angehören - § 30 Abs. 2 APG DVO NRW; die örtliche Planung der Kreise und kreisfreien Städte hat sich an Teilhabe, einem würdevollen, inklusiven und selbstbestimmten Leben auszurichten. An ihr wirken u.a. örtliche Konferenzen mit, an denen wiederum die Selbsthilfeverbände beteiligt sind - §§ 7 Abs. 1 Satz 3, 8 APG NRW; Die Landesregierung selbst erarbeitet einmal in jeder Legislaturperiode einen Bericht als Gesamtanalyse zur Lage der Älteren in Nordrhein-Westfalen. Der erste Bericht zur Lage älterer und alter Menschen wird aktuell erstellt und soll noch in diesem Jahr veröffentlicht werden. Um den einschlägigen Akteurinnen und Akteuren und gesellschaftlichen Gruppen Partizipation und Handlungsmöglichkeiten zu ermöglichen, fördert das Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen die Landesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros mit 50.000 Euro und die Landesseniorenvertretung NRW mit 168.000 Euro jeweils jährlich. Beide Organisationen sind sehr nah an der Praxis. Soweit dort Fallgestaltungen bekannt werden, die den Verdacht einer Altersdiskriminierung nahelegen, wird dem unverzüglich und gemeinsam nachgegangen. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/11611