LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/11957 09.05.2016 Datum des Originals: 09.05.2016/Ausgegeben: 12.05.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4621 vom 4. April 2016 der Abgeordneten Susanne Schneider FDP Drucksache 16/11619 Situation der Jungen- und Männergesundheit in NRW – Status quo und Perspektiven Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Männer und Frauen unterscheiden sich deutlich in Bezug auf Gesundheit und Krankheit. Geschlechterspezifische Unterschiede beeinflussen die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten. Männer und Frauen haben aber nicht nur unterschiedliche physiologische Voraussetzungen, Differenzen zeigen sich auch im Umgang mit ihrem Körper, dem Gesundheitsverhalten, der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen sowie aufgrund verschiedener Lebens- und Arbeitsbedingungen. Zu dieser Erkenntnis kommen sowohl die beiden Männergesundheitsberichte der Stiftung Männergesundheit aus den Jahren 2010 und 2013 als auch der Bericht „Gesundheit von Jungen und Männern“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2014. Diese Berichte zeigen zudem, dass das Thema Männergesundheit in den letzten Jahren stärker ins öffentliche Bewusstsein getreten ist. Auch die Europäische Kommission hat die zunehmende Bedeutung des Themas Männergesundheit erkannt und im Jahr 2011 einen Statusbericht „The State of Men’s Health in Europe“ veröffentlicht. Der Bericht „Gesundheit von Jungen und Männern“ von Dezember 2014 zieht bei der Beschreibung der gesundheitlichen Situation von Männern nicht nur biologische und somatische Einflussgrößen heran, sondern auch psychische, soziale und gesellschaftliche Faktoren und Prozesse. Der Bericht basiert daher auf einer breiten Datengrundlage. Er stellt unter anderem fest, dass sich auch hinsichtlich gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen und bei der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen lassen. Darüber hinaus gibt es Anzeichen, dass sich Männer und Frauen in der Wahrnehmung, Bewertung und Kommunikation von Symptomen bzw. gesundheitlichen Beeinträchtigungen ebenfalls unterscheiden. Alle deutschen Männergesundheitsberichte zeigen u. a. auf, dass heranwachsende Jungen Erfahrungen mit Arztbesuchen meistens nur nach Unfällen machen. Deshalb gehen sie nur bei Bedarf zum Arzt, nämlich dann, wenn ihr Körper akute Symptome aufweist. Männer spüren LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11957 2 bis in ihr viertes Lebensjahrzehnt selten Veranlassungen, zum Arzt zu gehen. Männer zwischen 40 und 50 Jahren erleiden in der Folge dessen fünfmal häufiger einen Herzinfarkt als Frauen. Die Zahl der Diabetes-Patienten ist bei Männern fast doppelt so hoch wie bei Frauen. Auch psychische Erkrankungen wie ADHS werden zunehmend bei Jungen diagnostiziert. Die Berichte geben auch neue Anregungen für die Männergesundheitsforschung und -praxis. So fordert z. B. der jüngste Bericht „Gesundheit von Jungen und Männern“ eine männergerechte Angebotsstruktur in der Prävention und Gesundheitsförderung mit einer männergerechten Gesundheitskommunikation und sieht einen Forschungsbedarf bei der Erklärung der geschlechtsspezifischen Zusammenhänge von biologischen und soziokulturellen Einflussfaktoren auf die Gesundheit, gerade auch vor dem Hintergrund sich wandelnder geschlechtsspezifischer Rollenmuster, der Pluralisierung von Lebensformen und sich ändernder Arbeitsbedingungen. Die FDP-Landtagsfraktion hat bereits mit ihrem Antrag „Mehr Gesundheit für Jungen und Männer“ (Drs. 15/1197) in der 15. Legislaturperiode auf die Defizite bei der nordrheinwestfälischen Männergesundheit aufmerksam gemacht. Die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin hat im Jahr 2011 zwar in diesem Zusammenhang festgestellt, dass es nicht nur einer geschlechterdifferenzierten Gesundheitspolitik bedarf, sondern auch einer passgenauen und zielgruppenspezifischen Gesundheitspolitik. Dies betreffe u. a. auch Menschen mit Migrationshintergrund, denn diese haben andere Krankheitsbilder und Symptome. Die Ministerin kam seinerzeit zu der Erkenntnis, dass es insgesamt einer zielgruppen- und personenspezifischen Gesundheitspolitik bedarf. Deshalb ist als Einzelaktivität der Wettbewerb IuK & Gender Med.NRW auf den Weg gebracht worden, in dem innovative Projekte im Gesundheitswesen gesucht werden sollten, und zwar gerade in dem Förderschwerpunkt „geschlechtergerechtes Gesundheitswesen“. Es ist aber nicht bekannt, welche Ergebnisse aus diesem Wettbewerb aufgegriffen wurden und welche Folgemaßnahmen sich daraus entwickelt haben. Anders als andere Bundesländer wie z. B. Baden-Württemberg hat die Landesregierung bisher keine aktuelle spezifische Landeserhebung in einem Landesbericht zur gesundheitlichen Lage von Jungen und Männern vorgelegt. Ein Status Quo ist deshalb auf Landesebene nicht verfügbar und sind die tatsächliche gesundheitliche Lage von Jungen und Männern und die erforderlichen Handlungsnotwendigkeiten in Nordrhein-Westfalen für die Öffentlichkeit unklar. Allerdings werden Fördermittel des Landes z. B. für die Suchtbekämpfung oder zur Bekämpfung von Sexualkrankheiten aufgewendet – also Erkrankungen, von denen primär Männer betroffen sind. Nach wie vor ist aber die geschlechtsbezogene Gesundheitspolitik schwerpunktmäßig auf den weiblichen Bevölkerungsanteil in Nordrhein-Westfalen ausgerichtet. Die Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter hat die Kleine Anfrage 4621 mit Schreiben vom 9. Mai 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Aus Sicht der Landesregierung muss es in Gesundheitspolitik und -versorgung darum gehen, die unterschiedlichen Lebensrealitäten und Bedarfe von Männern und Frauen in den Blick zu nehmen. Deshalb verfolgt sie eine an den Bedürfnissen der und LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11957 3 des Einzelnen orientierte geschlechtergerechte Versorgung, die zur Stärkung der Gesundheit beider Geschlechter beiträgt. 1. Wie bewertet die Landesregierung den Bericht „Gesundheit von Jungen und Männern“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2014 und welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus für Nordrhein-Westfalen? Der Bericht „Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland“, welcher 2014 vom Robert Koch-Institut herausgegeben wurde, bestätigt aus Sicht der Landesregierung die Erkenntnisse früherer Berichte zur Jungen- und Männergesundheit (u.a. EU (2011): The state of Men’s Health in Europe. Report.; BZgA (2011): Gesundheit von Jungen und Männern). Im Ergebnis macht der Bericht erneut deutlich, dass eine geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung, wie sie die Landesregierung bereits verfolgt, ein grundlegendes Prinzip einer bedarfsgerechten und an den Bedürfnissen der oder des Einzelnen orientierten Gesundheitsversorgung ist. 2. Über welche länderspezifischen Erkenntnisse verfügt die Landesregierung bei der Jungen- und Männergesundheit in NRW? Das Land NRW betreibt seit Anfang der 1990er Jahre eine kontinuierliche Gesundheitsberichterstattung, zu deren wichtigsten Merkmalen die geschlechtsspezifische Aufbereitung und Auswertung einer Vielzahl von Datenquellen aus dem Bereich des Gesundheitswesens gehört. Die Gesundheitsberichterstattung des Landes NRW ist auf der Internetseite des Landeszentrums Gesundheit Nordrhein-Westfalen (LZG.NRW) veröffentlicht. Ausführliche Daten zur Jungen- und Männergesundheit können auch dem in Kürze erscheinenden „Landesgesundheitsbericht 2015“ entnommen werden. Exemplarisch seien hier folgende Erkenntnisse genannt, die der Landesregierung zur gesundheitlichen Lage von Jungen und Männern in NRW vorliegen: - Bei den häufigsten Todesursachen von Männern und Frauen bestehen z.T. signifikante Unterschiede. So war die häufigste Todesursache 2014 in NRW bei Männern die bösartige Neubildung der Bronchien und Lunge, wohingegen Frauen am häufigsten an einer Herzinsuffizienz verstarben. - Bei den Schuleingangsuntersuchungen zeigen Jungen häufiger als Mädchen einen nicht ausreichend ärztlich versorgten gesundheitsrelevanten Befund. - Männer rauchen etwas häufiger als Frauen. Insgesamt nimmt die Rauchquote in der Bevölkerung ab. - Männer sind deutlich häufiger als Frauen übergewichtig. Bei Adipositas lässt sich jedoch nur ein geringer Geschlechterunterschied feststellen. 3. Wieso gibt es keinen aktuellen Bericht zur gesundheitlichen Lage von Jungen und Männern in NRW? Der Landesgesundheitsbericht 2000 „Gesundheit von Frauen und Männern in Nordrhein- Westfalen“ war der erste geschlechterdifferenzierte Gesundheitsbericht, der auf Ebene eines LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11957 4 Bundeslandes erarbeitet wurde. Seither ist die Gesundheitsberichterstattung in NRW geschlechterdifferenziert. Auch der in Kürze erscheinende „Landesgesundheitsbericht 2015“ liefert ausführliche landesspezifische Analysen zu unterschiedlichen Ausprägungen von Krankheitsbelastungen und Gesundheitsverhalten bei Männern und Frauen. Ein Bericht, der ausschließlich die gesundheitliche Lage von Männern zum Inhalt hat, ist daher nicht erforderlich. 4. Welche jungen- und männerorientierten Aktivtäten und Maßnahmen sind in dieser Legislaturperiode im Bereich der Gesundheitsforschung, Gesundheitsversorgung und Ge-sundheitsbildung erfolgt bzw. noch geplant? 5. Wie will die Landesregierung das Thema Gesundheit von Jungen und Männern in der Praxis und Wissenschaft künftig wirkungsvoll und gendergerecht vorantreiben? Aus Gründen des Sachzusammenhangs werden die Fragen 4 und 5 gemeinsam beantwortet. Die Landesregierung prüft grundsätzlich alle ihre Initiativen und Maßnahmen in der gesundheitlichen Versorgung daraufhin, welche geschlechtsspezifischen Aspekte relevant sind. Ein Ergebnis dieser Prüfung ist die Stärkung geschlechtsspezifischer Praxis-Modelle. Beispielhaft seien folgende aktuelle und geplante Maßnahmen und Programme im Bereich der Suchtprävention benannt: - Für männliche Jugendliche bzw. junge Erwachsene werden u.a. bedarfsorientierte Maßnahmen zur Thematisierung exzessiver Internetnutzung durchgeführt. Beispielhaft in diesem Bereich sind spezifische Angebote in der Prävention für Jungen wie Gruppenangebote für exzessive PC-Spieler zwischen 12 und 18 Jahren. Zudem ist von der Landeskoordinierungsstelle für Suchtvorbeugung gemeinsam mit der Fuma – Fachstelle Gender NRW das Planspiel „Blue boys“ entwickelt worden, das den Fokus auf Jungen und Alkoholmissbrauch legt und im Schulbereich eingesetzt wird. - Speziell auf dem Gebiet der Tabakprävention sind im Zuge der Landesinitiative „Leben ohne Qualm“ u. a. Ausstiegshilfen an weiterführenden und berufsbildenden Schulen vorgesehen. - Für gesundheitsrelevante Themen schwer erreichbare männliche Zielgruppen werden im Rahmen der Landeskampagne „Sucht hat immer eine Geschichte“ spezielle Angebote wie örtliche Hip-Hop-Workshops oder Musikvideo-Workshops durchgeführt. - Weiterhin werden auf Anfrage und je nach Bedarf von den Prophylaxefachkräften in den Präventionsveranstaltungen und in gezielten Gesprächen „selbstverletzendes Verhalten“ von Schülern bearbeitet sowie z. B. im Rahmen des Projekts „Verflixte Schönheit“ in weiterführenden Schulen die Themen Essstörungen/Körperbild/Vorbildverhalten mit integriertem jungenspezifischen Ansatz behandelt. Mehr Praxisbeispiele im Bereich der Jungengesundheit werden zudem in der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 14 der Fraktion der CDU (LT-Drs. 16/8472) Kapitel IV/Gesundheit aufgeführt, auf die an dieser Stelle verwiesen wird. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/11957 5 Im Bereich der Wissenschaft gibt es folgende Projekte, die entweder explizit Jungen und Männer sowie deren Gesundheit fokussieren, oder aber differenziert die Gesundheit bzw. Gesundheitsversorgung aller Geschlechter betrachten: Projekttitel Zuwendungsempfänger Zuwendung und Laufzeit Neue Volkskrankheiten im Kindes- und Jugendalter hier: Krankheitsübergreifende Pilotstudie zu Risiko- und Schutzfaktoren bei Adipositas, Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörungen und Atopischen Erkrankungen als Basis für eine personalisierte Kinderund Jugendmedizin MedEcon Ruhr GmbH Zuwendung: 1.499.723 € Laufzeit: 01.10.2013 bis 30.09.2016 Fertilität bei präpubertären Jungen mit Stammzelldefekten im Hoden Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie, Westfälische Wilhelms- Universität Münster Zuwendung: 101.566 € Laufzeit: 01.07.2014 – 31.12.2015 Genderspezifische Erfassung und Versorgung von Patient_innen nach Gewalterfahrung in der Städteregion Aachen RWTH Aachen, Frauen helfen Frauen e. V. Zuwendung: 1.289.800 € Laufzeit: 01.10.2012 – 30.06.2015 Intersexualität in NRW; Eine qualitative Untersuchung der Gesundheitsversorgung von zwischengeschlechtlichen Kindern in Nordrhein- Westfalen Ruhruniversität Bochum Zuwendung: 105.504 €. Laufzeit: 9.2.2015 bis 31.5.2017 Dabei ist die Wissenschaft grundsätzlich frei in der Wahl ihres Forschungsgegenstands. In den Förderprogrammen des Landes, insbesondere in den Leitmarktwettbewerben, werden im Sinne einer personalisierten Medizin in den lebenswissenschaftlich orientierten Forschungsund Entwicklungsprogrammen auch geschlechtsspezifische Unterschiede adressiert. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/11957