LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/12396 30.06.2016 Datum des Originals: 30.06.2016/Ausgegeben: 05.07.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4824 vom 2. Juni 2016 des Abgeordneten Dirk Wedel FDP Drucksache 16/12151 Welche Modellprojekte laufen im Justizvollzug? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Angleichung, Integration, Gegensteuerung – diese in § 2 des nordrhein-westfälischen Strafvollzugsgesetzes enthaltenen Grundsätze sind stets aufs Neue mit Leben zu füllen. In der Art des Strafvollzugs soll keine über den Freiheitsentzug hinausgehende Übelszufügung liegen. Die genannten Grundsätze sollen für den Gefangenen eine kompensatorische Funktion haben. Sie sollen namentlich den mit der vollzugsbedingten Isolation von gesellschaftlichen Kontakten, den Deprivationen und dem sog. Prisonisierungsprozess verbundenen Belastungen entgegenwirken. Die Gestaltungsgrundsätze stellen dabei in erster Linie Anweisungen an die Vollzugsbehörden dar. Allerdings bleibt das Geschehen außerhalb der Mauern nicht stehen. Beispielsweise der immense gesellschaftliche Wandel im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche kann an einem behandlungsorientierten Justizvollzug nicht unbeachtet vorübergehen. Der nordrhein-westfälische Justizvollzug sieht sich auf diese Art mit immer wieder neuen Herausforderungen konfrontiert. Es ist insofern an den Vollzugsbehörden, den zu einem gegebenen Zeitpunkt vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen und die Vollzugsgestaltung entsprechend anzupassen, fortzuentwickeln und zu modernisieren. Die Wirkungen neuer Vollzugsgestaltungen lassen sich allerdings in theoretischen Gedankengebäuden nicht immer von vornherein verlässlich abschätzen. Es ist deshalb ein probates Mittel, Neues und den Vollzugsalltag Änderndes im Vollzug zunächst in begrenztem Umfang zu erproben, um zu einer angemessenen Einschätzung seiner Wirkungsweise zu gelangen. Diese Möglichkeit bieten Modellprojekte, die zunächst nur in einer oder einigen wenigen Anstalten oder begrenzt auf einen bestimmten Kreis von Inhaftierten erprobt werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12396 2 Beispielgebend erscheint mit Blick auf den digitalen Wandel gegenwärtig ein Modellprojekt des Berliner Justizvollzuges. Dort wird eine Verwirklichung der Vollzugsgrundsätze durch eine Gestaltung des Vollzugsalltags angestrebt, die durch die zumindest teilweise Öffnung der digitalen Welt zu Gunsten der Gefangenen sowohl die Lebensverhältnisse außerhalb der Anstalt widerspiegelt als auch die Entlassungsvorbereitung erleichtert und schädliche Auswirkungen des Vollzugs zurückdrängt. Unter dem Titel „Resozialisierung durch Digitalisierung“ hat das Berliner Abgeordnetenhaus am 17.03.2016 ein Pilotprojekt ins Leben gerufen, dass – zunächst begrenzt auf eine Teilanstalt – Gefangene unter Beachtung der besonderen Sicherheitserfordernisse des Justizvollzugs an die Nutzung neuer Medien strukturiert heranzuführen zielt. Durch den leicht zeitverzögerten Zugriff auf Internetinhalte mit Resozialisierungsrelevanz wie etwa Nachrichtenseiten, Wohnungssuchportale, Fortbildungsangebote, Arbeitsagenturseiten und sogar Wikipedia sollen die Gefangenen an der digitalen Realität teilhaben. Es wird auch geprüft, ob etwa ein E-Mail-Austausch der Insassen mit bestimmten Personen außerhalb der Mauern ermöglicht werden kann. Die Sicherheit der Anstalt soll dabei gewahrt werden, der Internetverkehr kann durch Anstaltspersonal überwacht und ggf. unterbrochen werden. Nichtsdestotrotz belegt dieses Projekt in bemerkenswerter Weise, wie gesellschaftliche Weiterentwicklungen in den Vollzug gespiegelt werden können. Ein Modellprojekt ist eine Maßnahme, um neue Konzepte zu testen. Wenn sie sich bewähren, stellt sich die Frage der Verallgemeinerungsfähigkeit, d.h. inwieweit sie sowohl auf andere Maßnahmen als auch die übrige Vollzugsgestaltung der Anstalten des Landes übertragen werden können. Beispielsweise empfiehlt der Justizvollzugsbeauftragte im Hinblick auf den positiven Verlauf des Pilotprojektes zur „Skype“-Nutzung in der JVA Detmold die Herstellung von Außenkontakten mittels Bildtelefonie flächendeckend einzuräumen (Vorlage 16/3927, Seite 150). Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 4824 mit Schreiben vom 30. Juni 2016 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Welche Modellprojekte laufen derzeit im nordrhein-westfälischen Justizvollzug (bitte unter Angabe der beteiligten Justizvollzugs- bzw. arrestanstalten, der geplanten Laufzeit sowie des Ziels des jeweiligen Modellprojekts)? 2. Welchen Umfang haben die jeweiligen Modellprojekte (bitte unter Angabe der Anzahl der jeweils beteiligten Bediensteten, Gefangenen und gegebenenfalls Dritte)? Aus Gründen des Sachzusammenhangs wird die Beantwortung der Fragen 1 und 2 zusammengefasst, sie ergibt sich aus der in Anlage 1 beigefügten Übersicht. 3. Welche Modellprojekte wurden im nordrhein-westfälischen Justizvollzug seit 2012 abgeschlossen (bitte unter Angabe der beteiligten Justizvollzugs- bzw. arrestanstalten, der Laufzeit, des Umfangs sowie des Ziels des jeweiligen Modellprojekts)? 4. Mit welchem Ergebnis wurden die seit 2012 abgeschlossenen Modellprojekte jeweils evaluiert (bitte unter Angabe, wie mit dem jeweiligen Gegenstand nach Abschluss des jeweiligen Modellprojekts weiter verfahren wurde)? LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12396 3 Aus Gründen des Sachzusammenhangs wird die Beantwortung der Fragen 3 und 4 zusammengefasst, sie ergibt sich aus der in Anlage 2 beigefügten Übersicht. 5. Welche Modellprojekte sollen nach derzeitigem Stand im nordrhein-westfälischen Justizvollzug zukünftig durchgeführt werden (bitte - soweit derzeit bereits bekannt - unter Angabe der beteiligten Justizvollzugs- bzw. arrestanstalten, der geplanten Laufzeit, des geplanten Umfangs sowie des Ziels des jeweiligen Modellprojektes)? Die Beantwortung der Frage ergibt sich aus der in Anlage 3 beigefügten Übersicht. Anlage 1 - Fragen 1 und 2 Lfd. Nr. Modellprojekt Anstalt Laufzeit Umfang (beteiligte Bedienstete / Gefangene / Dritte) Ziel 1 Täter-Opfer-Ausgleich im Vollzug Justizvollzugsanstalten Schwerte, Bochum, Gelsenkirchen, Werl März 2015 - zunächst Ende 2016 Das Projekt hat die Erprobung eines Täter-Opfer-Ausgleichs zum Gegenstand, betroffen waren somit alle männlichen zu Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen sowie alle Bediensteten* der Justizvollzugsanstalten Schwerte, Bochum, Gelsenkirchen und Werl / Die Brücke Dortmund e.V. Erprobung von Möglichkeiten und Ansätzen eines Täter- Opfer-Ausgleichs im Strafvollzug. 2 Mehrgenerationenhafthaus Justizvollzugsanstalt Moers-Kapellen 01.02.2016 - 31.01.2017 Alle Bediensteten* der Justizvollzugsanstalt Moers- Kapellen / 58 Gefangene / keine Beteiligung Dritter. Einbeziehung und Aktivierung von lebensälteren Gefangenen sowie Begleitfunktion für lebensunerfahrene Gefangene. Lfd. Nr. Modellprojekt Anstalt Laufzeit Umfang (beteiligte Bedienstete / Gefangene / Dritte) Ziel 3 Einrichtung einer weiteren Erprobungsanstalt des offenen Vollzuges Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel April 2015 - voraussichtlich Anfang 2017 Alle Bediensteten* der Justizvollzugsanstalten in NRW / Männliche Gefangene und männliche Untergebrachte, gegen die während des laufenden Freiheitsentzuges eine Strafe wegen grober Gewalttätigkeiten gegen Personen, wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen Handels mit Stoffen im Sinne des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln vollzogen wurde oder zu vollziehen ist oder die im Vollzug in den begründeten Verdacht des Handels mit diesen Stoffen oder des Einbringens dieser Stoffe gekommen sind oder bei denen eine Erprobung aus in ihrer Person liegenden Gründen für erforderlich erachtet wird; 56 Gefangene wurden zur Erprobung verlegt / keine Beteiligung Dritter. Einrichtung einer weiteren Erprobungsanstalt des offenen Vollzuges an einem zentralen Standort. *Eine Konkretisierung auf einen bestimmten Bedienstetenkreis ist nicht weiter möglich, da an der Umsetzung des Projektes i.d.R. alle Bediensteten der betroffenen Justizvollzugsanstalt mitwirken. 2 Anlage 2 - Fragen 3 und 4 Lfd. Nr. Modellprojekt Anstalt Laufzeit Umfang (beteiligte Bedienstete / Gefangene / Dritte) Ziel Ergebnis 1 Engere Verzahnung des offenen und geschlossenen Vollzuges Justizvollzugsanstalten Euskirchen, Detmold, Rheinbach Juni 2013 - November 2014 Das Projekt hatte eine engere Verzahnung des offenen und geschlossenen Vollzuges zum Gegenstand, betroffen waren daher alle männlichen zu Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen sowie alle Bediensteten* der Justizvollzugsanstalten Euskirchen, Detmold und Rheinbach / keine Beteiligung Dritter. Entwicklung neuer Strukturen und Standards für eine engere behandlerische Zusammenarbeit zwischen offenen und geschlossenen Justizvollzugsanstalten . Das Modellprojekt wurde erfolgreich abgeschlossen. Die Kooperationen zwischen offenem und geschlossenem Vollzug wurden auf weitere Anstalten ausgeweitet. 2 Einführung von Bildtelefonie "Skype" im Justizvollzug Justizvollzugsanstalt Detmold Oktober 2014 - Februar 2016 Alle Bediensteten* der Justizvollzugsanstalt Detmold / 11 Gefangene die regelmäßig Skype nutzen bzw. genutzt haben / keine Beteiligung Dritter. Umsetzbarkeit von Bildtelefonie im Justizvollzug als alternative Kontaktmöglichkeit zwischen Gefangenen und Besuchern. Das Modellprojekt wurde erfolgreich abgeschlossen. Eine Einführung in weiteren Justizvollzugsanstalten ist zurzeit in Planung. 1 Lfd. Nr. Modellprojekt Anstalt Laufzeit Umfang (beteiligte Bedienstete / Gefangene / Dritte) Ziel Ergebnis 3 Qualitätssicherung vollzuglicher Lockerungsentscheidungen alle 24.05.2012 - 23.05.2013 Das Projekt hatte die Optimierung des Prüfverfahrens bei der Gewährung vollzuglicher Lockerungsentscheidungen zum Gegenstand, betroffen waren somit potentiell alle Gefangenen und Bediensteten* / keine Beteiligung Dritter. Optimale Absicherung der Lockerungsentscheidung und eine praxisgerechte Abstimmung von Empfehlungen der externen Sachverständigen. Qualitätszuwachs durch direkte Kommunikation und fachlichen Austausch zwischen externen Sachverständigen und vollzugsinternen Fachkräften. Verkürzung der Entscheidungszeiträume. Zusammenführen von Einzelfallkompetenz und Entscheidungsbefugnis. Entbürokratisierung und Vereinheitlichung der bisherigen Verfahren. Das Modellprojekt wurde erfolgreich abgeschlossen. Aufgrund der durchweg positiven Erfahrungen wurden die Regelungen auch nach Inkrafttreten des SVVollzG NRW und des StVollzG NRW beibehalten und der neuen Bestimmungslage angepasst. 2 *Eine Konkretisierung auf einen bestimmten Bedienstetenkreis ist nicht weiter möglich, da an der Umsetzung des Projektes i.d.R. alle Bediensteten der betroffenen Justizvollzugsanstalt mitwirken. Lfd. Nr. Modellprojekt Anstalt Laufzeit Umfang (beteiligte Bedienstete / Gefangene / Dritte) Ziel Ergebnis 4 Jugendstrafvollzug in freien Formen Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf / "Raphaelshaus" in Dormagen 01.08.2012 - 05.02.2014 1 Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf / bis zu 7 Jugendstrafgefangene / Mitarbeiter des "Raphaelhauses" Durch Vollzug der Jugendstrafe in einer Einrichtung der Jugendhilfe sollte auf der Grundlage des methodischen Repertoires und der Standards der Jugendhilfe auf die jungen Gefangenen erzieherisch eingewirkt werden. Dies sollte dem Schutz junger Gefangener vor subkulturellen Einflüssen des Vollzuges, der Aufarbeitung von Entwicklungsstörungen, dem Training sozialer Kompetenzen, der Übernahme von Verantwortung, der schulischen und beruflichen Orientierung sowie der Integration in die Gesellschaft dienen. Nach Bekanntwerden besonderer Vorkommnisse im "Raphaelshaus" wurde das Projekt vorzeitig abgebrochen. 3 Anlage 3 - Frage 5 Lfd. Nr. Modellprojekt Anstalt Laufzeit Umfang (beteiligte Bedienstete / Gefangene / Dritte) Ziel 1 Zulassung funktionsreduzierter Mobiltelefone im offenen Vollzug Justizvollzugsanstalten Willich II (offene Teilanstalt), Attendorn (offene Teilanstalt) 1 Jahr Das Projekt hat die Anpassung an die Lebensverhältnisse außerhalb des Vollzuges zum Gegenstand, betroffen sind geeignete Gefangene sowie alle Bediensteten* der Justizvollzugsanstalten Willich II und Attendorn (offene Teilanstalten). Verbessrung der Telefonmöglichkeiten für Gefangene des offenen Vollzuges, Anpassung an die Lebensverhältnisse außerhalb des Vollzuges. 2 Intensivierung der religiösen Betreuung muslimischer Gefangener durch externe Institutionen Justizvollzugsanstalt Düsseldorf noch offen Keine Bedienstete / Gefangene muslimischen Glaubens / noch offen. Es wird eine Zusammenarbeit mit muslimischen Vereinen bzw. Verbänden angestrebt mit dem Ziel, geeignete Personen für die religiöse Betreuung muslimischer Gefangener zu stellen. Das Projekt hat - über das Freitagsgebet hinaus - die religiöse Betreuung und Unterweisung von Gefangenen muslimischen Glaubens zum Ziel. 1 *Eine Konkretisierung auf einen bestimmten Bedienstetenkreis ist nicht weiter möglich, da an der Umsetzung des Projektes i.d.R. alle Bediensteten der betroffenen Justizvollzugsanstalt mitwirken. Lfd. Nr. Modellprojekt Anstalt Laufzeit Umfang (beteiligte Bedienstete / Gefangene / Dritte) Ziel 3 Jugendstrafvollzug in freien Formen in Trägerschaft der Justiz noch offen noch offen noch offen Aktuell wird ein Konzept für ein neues Modellprojekt des Vollzugs in freien Formen in Trägerschaft der Justiz erarbeitet. 2 Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/12396