LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/12450 07.07.2016 Datum des Originals: 07.07.2016/Ausgegeben: 12.07.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4831 vom 5. Juni 2016 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/12185 Dauerbrenner Unterrichtsausfall an allgemeinbildenden Schulen der Stadt Essen – Wie erklärt sich die Landesregierung die eklatanten Unterschiede zwischen dem durch Eltern dokumentierten Unterrichtsausfall und den offiziellen Verlautbarungen? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Ständiger Unterrichtsausfall an nordrhein-westfälischen Schulen ist nicht nur ein politisches Dauerbrennerthema, er wird auch zunehmend zum Ärgernis für Eltern. Spätestens seitdem der Landesrechnungshof im Jahr 2013 die Einführung einer schulbezogenen Statistik für Unterrichtsausfall angeregt hat, ist die Landesregierung offiziell aufgefordert, entsprechend zu handeln. Doch bis heute gibt es keine transparente, reale und schulscharfe Darstellung ausgefallener Schulstunden, vielmehr verstärkt sich der Eindruck, dass das Land weiterhin die tatsächliche Lage in den Schulen verschleiert. Ein transparenter Umgang mit der realen Lage ist unverzichtbar, aber von der grünen Schulministerin leider absolut nicht gewollt. Die Landesregierung hat zwar Ende Februar 2015 die Ergebnisse einer stichprobenartigen Untersuchung zum Unterrichtsausfall vorgestellt, nach der durchschnittlich 1,7 Prozent des Unterrichts an öffentlichen allgemeinbildenden Schulen in Nordrhein-Westfalen ausfallen, jedoch findet sich im Land kaum jemand, der diese Zahl für realistisch und nachvollziehbar hält. Am 5. April 2016 hat der WDR darüber berichtet: „(…) Löhrmann hatte nur die Stunden zählen lassen, in denen die Schüler tatsächlich nach Hause geschickt wurden. Fachfremd erteilter Vertretungsunterricht, Selbstbeschäftigung der Schüler mit und ohne Aufgabenstellung, Filmegucken, Spielen auf dem Schulhof, alles wurde als erteilter Unterricht gewertet. Selbst wenn der Mathelehrer mit einer anderen Gruppe auf Klassenfahrt war und damit eine Woche lang der Mathematikunterricht ausfiel, wurde das so gezählt als hätte er stattgefunden. (…)“ LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12450 2 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Eltern im Land dankenswerterweise aktiv werden und selber daran arbeiten, den tatsächlichen bei ihren Kindern ausgefallenen Unterricht zu dokumentieren, um auf das massive Problem aufmerksam zu machen, das die Schulministerin so gerne leugnet. Eine Erhebung zum Unterrichtsausfall an 53 Gymnasien durch deren Landeselternschaft weist dementsprechend einen deutlich höheren Unterrichtsausfall aus als von der rot/grünen Landesregierung behauptet. Deren ermittelte 6,4 Prozent Unterrichtsausfall an Gymnasien sind viermal höher als die zuletzt genannten Zahlen der Schulministerin, die nur 1,4 Prozent entfallenen Unterricht an Gymnasien festgestellt haben will. Konkret für die Schulen der Stadt Essen hat die WAZ erfreulicherweise die Problematik ebenfalls öffentlich aufgegriffen und am 18. Mai 2016 umfassend über ihr Projekt berichtet: Rund 100 Eltern in Essen haben für die WAZ sieben Wochen lang den Unterrichtsausfall ihrer Kinder gewissenhaft dokumentiert. Das Ergebnis der Erhebung ergab eine Ausfallquote von 10,01 Prozent, also dramatisch weit entfernt von der durchschnittlichen Zahl des Landes von 1,7 Prozent. Ermittelt wurden die Daten von mehr als 40 Essener Schulen, also etwa einem Drittel der Essener Schulen. Einbezogen waren sowohl Grund- als auch Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen. Der Ausfall in Essen verteilt sich nach Berichterstattung in der WAZ unterschiedlich auf die Jahrgangsstufen – mit 13 Prozent ist die Oberstufe am stärksten betroffen, in Grundschulen liegt der von Eltern erhobenen Unterrichtsausfall aber immerhin auch bei 6,7 Prozent. Zu den Befunden heißt es in der Berichterstattung: „Wenn die Erhebung der Essener Eltern jetzt auf einen flächendeckenden Wert von zehn Prozent kommt, deckt sich das vor allem mit den Erfahrungen vieler Eltern: An nicht wenigen Schulen führen Väter und Mütter mittlerweile akribisch Statistik über nicht gegebenen Fachunterricht und kommen dabei nicht selten auf Werte, die sogar an der 20-Prozent-Marke liegen.“ Der Ausfall differenziert sich auch nach Unterrichtsfächern: MINT-Fächer fallen zum Beispiel zu 8,9 Prozent, Fremdsprachen zu 9,2 Prozent und Gesellschaftswissenschaften zu 12,1 Prozent an Essener Schulen aus. Mit 13,8 Prozent ist das Fach Geschichte Spitzenreiter, gefolgt von Biologie mit 13,5 Prozent. Nach der Statistik sind auch Realschulen stärker vom Ausfall betroffen als andere Schulformen. Angesichts der soeben vom Schulministerium erst eingeräumten personellen Unterbesetzung an Essener Realschulen wundert dieser Befund kaum. Als Erklärung führt die WAZ in ihrer Analyse dazu aus: „Überraschend deutlich macht unsere Erhebung, dass die naturwissenschaftlichen Fächer, die sogenannten Mint-Fächer, offenbar viel weniger vom Ausfall betroffen sind als Sprachen und Geisteswissenschaften. Ausnahmen sind jedoch Biologie und Chemie. Dafür gibt es mehrere Erklärungsmöglichkeiten: Einerseits werden Fächer wie Mathe, Physik und Informatik deutlich häufiger von Männern als von Frauen unterrichtet. Besonders an Gymnasien, die tendenziell über sehr junge Pädagogen verfügen, fallen Lehrerinnen regelmäßig wegen Schwangerschaft, Mutterschutz und Elternzeit aus. Andererseits gibt es viel weniger Lehrer für Natur- als für Geisteswissenschaften. Häufig werden Lehrer, die zum Beispiel Mathe und Sport unterrichten könnten, wegen des großen Bedarfs nur in Mathe eingesetzt. Entsprechend schwierig sind dann Vertretungen im Fach Sport zu besetzen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12450 3 Grundsätzlich achten Schulleiter darauf, dass im Zweifel lieber klassische Nebenfächer ausfallen als Hauptfächer. Warum sind – zumindest laut unserer Statistik – Realschulen stärker vom Ausfall betroffen als zum Beispiel Gymnasien? Womöglich, weil sie tendenziell ältere Lehrer beschäftigen als andere Schulen – aktuelles Durchschnittsalter an Essener Realschulen: 46, 6. Lehrer an Essener Gymnasien sind dagegen 42,8 Jahre alt.“ Die seitens der WAZ sowie der Eltern aufwändig ermittelten Zahlen widerlegen die völlig realitätsferne Behauptung der Schulministerin, der Unterrichtsausfall an unseren Schulen in Nordrhein-Westfalen betrage lediglich 1,7 Prozent. Außerdem machen die Aktivitäten der Eltern, Verbände und Medien den dringenden Handlungsbedarf für Transparenz offenkundig: Die Landesregierung muss endlich eine schulscharfe digitale Erfassung des Stundenausfalls ermöglichen, und die Unterrichtserteilung muss beispielsweise durch eine angemessene Vertretungsreserve sichergestellt werden. Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 4831 mit Schreiben vom 7. Juli 2016 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Daten zur Unterrichtserteilung und zum Unterrichtsausfall werden in Nordrhein- Westfalen seit dem Schuljahr 1997/98 in Form von Stichproben mit 2-wöchigem Erhebungszeitraum erhoben. In der bisher letzten Stichprobe aus dem Schuljahr 2014/15 wurden insgesamt 770 öffentliche Schulen berücksichtigt. Insoweit wird auf den Bericht „Unterrichtserteilung/Unterrichtsausfall in der Primarstufe, in der Sekundarstufe I und in der Sekundarstufe II“ vom 25. Februar 2015 (Vorlage 16/2698) verwiesen. Ohne die Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen der bisherigen Erhebungen zu beeinträchtigen, wurden Kritikpunkte des Landesrechnungshofs (LRH) an der bisherigen Erhebungspraxis bzw. Verbesserungsvorschläge berücksichtigt. So hatte der LRH darauf hingewiesen, dass bei den bisherigen Erhebungen „Meldungen (der Schulen) oftmals ungenau und fehlerbehaftet“ gewesen seien, „weil Ausfallereignisse „vergessen“, die Zahl der zu erteilenden Unterrichtsstunden falsch bemessen“ oder „Fragen, die im Zusammenhang mit dem Erhebungsbogen auftraten, von den Schulen unterschiedlich beantwortet“ worden seien. Ein Teil der Mängel ließe sich nach Ansicht des LRH u.a. durch eine „Präzisierung des Erhebungsbogens“ beheben. Vor diesem Hintergrund wurde der Erhebungsbogen für die o. g. Erhebung überarbeitet mit der Folge, dass die letzte Stichprobenerhebung gegenüber den anderen Stichprobenerhebungen deutlich transparenter und aussagekräftiger gestaltet wurde: Die Aufhebung von Doppelbesetzungen wurde erstmals neben den bisher erhobenen Vertretungsmaßnahmen explizit erhoben. Das eigenverantwortliche Arbeiten (EVA) wurde gesondert als Maßnahme gegen ersatzlosen Unterrichtsausfall erhoben. In den bisherigen Erhebungen wurde EVA als normaler Unterricht oder als Unterricht in besonderer Form erfasst. Während bislang die Erhebung mit Hilfe eines manuellen Erhebungsbogens durchgeführt wurde, wurden die Daten bei der letzten Stichprobe in elektronischer Form erfasst und abgerufen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12450 4 Den Schulen wurden online umfangreiche Hinweise und Erläuterungen zu den jeweiligen Eintragungen gegeben. Damit wurde der Forderung des LRH nach mehr Präzisierung insoweit entsprochen. Am 14.07.2005 hat der damalige Ministerpräsident Rüttgers vor dem Landtag eine Statistik angekündigt, die dokumentieren sollte, wie viel Unterricht an jeder Schule in Nordrhein-Westfalen ausfällt. Im Juni 2007 kündigte die damalige Ministerin Sommer statt einer Stichprobe eine jährliche Meldepflicht für alle allgemein bildenden Schulen an, die jedermann zugänglich sein werde. Mit der Antwort der schwarz-gelben Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2689 (Drucksache 14/7502) wurde auf die Frage, warum die angekündigte schulscharfe Statistik noch immer nicht vorliege, geantwortet, dass weitere Entscheidungen zur Erhebung des Unterrichtsausfalls an den Schulen in Nordrein-Westfalen zu gegebener Zeit mitgeteilt würden. Diese Mitteilung erfolgte dann mit der Antwort der schwarz-gelben Landesregierung auf die Große Anfrage 40 (Drucksache 14/10639). Unter III „Unterrichtsausfall“ wird zu Frage 1 ausgeführt, dass eine zentrale flächendeckende Dokumentation von Unterrichtsausfall bei einem vorsichtig kalkulierten, durchschnittlichen wöchentlichen Zeitaufwand von mindestens einer Stunde je Schule Ressourcen im Umfang von rund 220 Stellen beanspruchen würde. Handlungsleitend sei jedoch, dass weniger Stellen in Bürokratie und mehr Stellen in die Unterrichtserteilung fließen sollen. Vor diesem Hintergrund erscheint die an die heutige Landesregierung gerichtete Forderung des Fragestellers, endlich eine schulscharfe Erfassung des Stundenausfalls zu ermöglichen, wenig glaubwürdig. 1. Welche konkreten Zahlen und Erkenntnisse zum Unterrichtsausfall an Essener Schulen liegen der Landesregierung, differenziert nach den einzelnen Schulen, seit dem Schuljahr 2013/2014 jeweils jährlich bis heute vor? 2. Mit welchen konkreten Maßnahmen zur Verminderung des Unterrichtsausfalls hat die Landesregierung die Schulen in der Stadt Essen, differenziert nach einzelnen Schulformen, seit dem Schuljahr 2013/2014 jeweils jährlich bis heute unterstützt? 4. Welche einzelnen Maßnahmen wird die Landesregierung im neuen Schuljahr ergreifen, um den von Eltern konkret für die Stadt Essen dokumentierten massiven Unterrichtsausfall zukünftig deutlich zu verringern? Aus Gründen des Sachzusammenhangs werden die Fragen 1, 2 und 4 zusammen beantwortet. Aktuelle Daten zum Unterrichtsausfall an Essener Schulen liegen nicht vor. Auf die Ausführungen in der Vorbemerkung wird verwiesen. Für alle Schulformen stehen den öffentlichen Schulen im Land gemäß Haushalt 2016 rd. 54,8 Mio. EUR für Vertretungsunterricht (Flexible Mittel) zur Verfügung. Mit diesen Mitteln ermöglichen die Schulaufsichtsbehörden insbesondere bei längerfristigen Erkrankungen befristete Beschäftigungen zur Vermeidung von Unterrichtsausfall und bemühen sich dabei gemeinsam mit den Schulleitungen um zielführende Lösungen. Darüber hinaus gibt es für die Grundschulen zusätzlich eine Vertretungsreserve im Umfang von 900 Stellen. Grundschulen können im Bedarfsfall bei dem jeweils zuständigen Schulamt Lehrkräfte aus dieser Vertretungsreserve anfordern. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12450 5 Ferner stehen den Schulen 4.000 Stellen gegen Unterrichtsausfall, für Vertretungsaufgaben und zur individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler zur Verfügung. Mit diesen Stellen erhalten die Schulen zusätzliches Potenzial, um ihre schulinternen Vertretungskonzepte zu optimieren und damit den vorgesehenen Unterricht sowie differenzierte Förderangebote zu realisieren. Hieran partizipieren auch die Essener Schulen. 3. Wie bewertet die Landesregierung im Einzelnen die eklatanten Unterschiede des zuvor dargestellten durch die Eltern dokumentierten Unterrichtsausfalls für die Stadt Essen im Vergleich zu den offiziellen Behauptungen des Schulministeriums? Das Ministerium für Schule und Weiterbildung nimmt grundsätzlich alle konkreten Hinweise zum Thema Unterrichtserteilung und Unterrichtsausfall sehr ernst. Eine fachliche Bewertung der Umfragen von Eltern zum Unterrichtsausfall kann jedoch seitens der Landesregierung auf Basis der vorliegenden Informationen aus den Pressemitteilungen nicht vorgenommen werden. So ist zum Beispiel nicht bekannt, welche Sachverhalte die befragten Eltern jeweils konkret als Unterrichtsausfall gewertet haben. Hinsichtlich der von der Landeselternschaft der Gymnasien durchgeführten Befragung wird auf das Protokoll zur 88. Sitzung des Ausschusses für Schule und Weiterbildung vom 09.03.2016 (APr 16/1195) verwiesen. Die Stichprobenerhebung der Landesregierung erfolgt nach einheitlichen und nachvollziehbaren Kriterien. Die Ergebnisse der Stichprobe und die Gründe für Unterrichtsausfall werden detailscharf und transparent im Bericht „Unterrichtserteilung/Unterrichtsausfall in der Primarstufe, in der Sekundarstufe I und in der Sekundarstufe II“ veröffentlicht. Wahrgenommen wird oftmals nur der landesweit festgestellte ersatzlos ausgefallene Unterricht, obwohl es möglich wäre, sich anhand der detaillierten Ergebnisse der Stichprobenerhebung ein sehr differenziertes Bild zu machen. Zudem kann der Unterrichtsausfall an einzelnen Schulen sowohl im Erhebungszeitraum als auch temporär erheblich von den im Bericht dargestellten Daten abweichen. 5. Zu welchem konkreten Zeitpunkt plant die Landesregierung, den Eltern in Essen endlich das Ausmaß des tatsächlichen Unterrichtsausfalls schulscharf und ehrlich zu offenbaren? Die Belastbarkeit der Daten der o.g. Stichprobenerhebungen wurden im parlamentarischen Raum und in den Medien stets in Zweifel gezogen. Deshalb habe ich im Rahmen der Bildungskonferenz einen Arbeitsprozess initiiert. Dieser ist unter Beteiligung von Lehrer-, Schüler- und Elternverbänden, Schulleitungsvereinigungen sowie den Bezirksregierungen sehr konstruktiv verlaufen und fast abgeschlossen. Ziel ist es, die Frage der Erhebung und Feststellung von Unterrichtsausfall sachbezogen und ergebnisoffen zu erörtern und einen gemeinsamen Vorschlag für das weitere Vorgehen zu erarbeiten. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/12450