LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/12522 14.07.2016 Datum des Originals: 13.07.2016/Ausgegeben: 19.07.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4884 vom 13. Juni 2016 der Abgeordneten Daniel Düngel und Olaf Wegner PIRATEN Drucksache 16/12298 Zwangsbehandlung auf Grundlage des Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die bestehenden Passagen zur Zwangsbehandlung in den Unterbringungsgesetzen (Maßregelvollzugsgesetze und Unterbringungsgesetze der Länder, Betreuungsrecht im BGB) wurden durch die Urteile des BVerfG aus 2011 und zusätzlich durch das Urteil des BGH aus 2012 genichtet. Von Sommer 2012 bis Februar 2013 war in Deutschland Zwangsbehandlung nur noch unter Berufung auf § 34 „Rechtfertigender Notstand“ Strafgesetzbuch möglich. Im Februar 2013 trat eine Novelle des §1906 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Kraft, um der höchstrichterlichen Rechtsprechung Genüge zu tun. Ab diesem Zeitpunkt war Zwangsbehandlung ausschließlich nach Betreuungsrecht in bestimmten, definierten Ausnahmen wieder möglich. Laut einer Statistik des Ministeriums wurden aber 2014 in 1.855 Fällen Zwangsbehandlungen nach PsychKG in NRW angeordnet - dem Gesetz also, dass durch die Rechtsprechung schon 2011 in seinen die Zwangsbehandlung betreffenden Teilen für verfassungswidrig erachtet wurde. Die Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter hat die Kleine Anfrage 4884 mit Schreiben vom 13. Juli 2016 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Seit wann ist Ihnen bekannt, dass entgegen höchstrichterlicher Rechtsprechung in NRW weiterhin auf Grundlage des PsychKG zwangsbehandelt wird? LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12522 2 2. Was haben Sie unternommen, diese Praxis zu unterbinden? Die Fragen 1 und 2 werden aufgrund des Sachzusammenhangs zusammen beantwortet. Die Voraussetzungen zur Durchführung einer Zwangsbehandlung sind in § 18 Absatz 4 und 5 PsychKG enthalten. Anders als in der Fragestellung vorausgesetzt, ist höchstrichterliche Rechtsprechung zu eben dieser gesetzlichen Regelung bislang nicht ergangen. 3. Falls Sie diese oben geschilderte Praxis für rechtens halten, warum wurde dann als Grund für die laufende Novellierung des PsychKG NRW die Rechtsprechung des BVerfG zur Zwangsbehandlung genannt? Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. März 2011 - 2 BvR 882/09 - (zum rheinland-pfälzischen Maßregelvoll-zugsgesetz - MVollzG RP -), vom 12. Oktober 2011 - BvR 633/11 - (zum baden-württembergischen Gesetz über die Unterbringung psy-chisch Kranker einschließlich Maßregelvollzug - UBG BW -) und vom 20. Februar 2013 – 2 BvR 228/12 – (zum sächsischen Gesetz über die Hilfen und die Unterbringung bei psychischen Krankheiten (einschließlich Maßregelvollzug) – SächsPsychKG) betreffen den Maßregelvollzug und stellen die zwangsweise Behandlung nicht per se in Frage. Die Landesregierung hat die für den Maßregelvollzug ergangenen Beschlüsse des BVerfG zum Anlass für eine Prüfung genommen, inwieweit hier Impulse und Orientierung für eine Weiterentwicklung des PsychKG und eine Stärkung der Patientenrechte gegeben sind. Zusammen mit der Auswertung der Arbeit der Besuchskommissionen wurde dem Landtag Ende 2014 über Erfahrungen in der Umsetzung und Novellierungsbedarfe des Gesetzes berichtet (Vorlage 16/2445) und in der Folge 2015 ein Novellierungsprozess eingeleitet. Nach Durchführung einer Beteiligungsveranstaltung wurde ein Referentenentwurf erarbeitet, zu dem Ende 2015 und Anfang 2016 die relevanten Verbände angehört wurden. Der Gesetzentwurf wurde dem Landtag am 24. Mai 2016 zugeleitet. Wesentliches Ziel des Gesetzentwurfes ist die weitere Stärkung der Rechte von Patientinnen und Patienten. 4. Welche Konsequenzen zieht die Landesregierung aus den Aussagen der Sonderberichterstatter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Prof. Dr. M. Nowak und Juan E. Méndez, psychiatrische Zwangsbehandlung sei Folter und der entsprechenden Feststellung des UN-Committee on the Rights of Persons with Disabilities in dem Staatenbericht über Deutschland? Zu den Aussagen des Sonderberichterstatters (UN-Dok. A/HRC/22/53 vom 1. Februar 2013), Ziffern IV. D. 4. und 5.: Der Sonderberichterstatter fordert eine Klarstellung der Kriterien im Gesetz, auf deren Grundlage eine Behandlung ohne freie und informierte Entscheidung stattfinden kann. Nur in einem lebensbedrohlichen Notfall und sofern keine unterschiedlichen Auffassungen zu der mangelnden Rechts- und Handlungsfähigkeit bestehen, darf ein Erbringer von Gesundheitsleistungen einen lebensrettenden Eingriff vornehmen, ohne dass eine informierte Einwilligung vorliegt. Zudem stellt er fest, dass ein Freiheitsentzug […] in den Anwendungsbereich des Übereinkommens gegen Folter fallen kann, da der Freiheitsentzug in einem psychiatrischen Umfeld zu psychiatrischer Behandlung ohne vorherige Einwilligung führen kann. § 18 Absätze 4 und 5 PsychKG regeln die Kriterien einer Behandlung gegen oder ohne den Willen der Betroffenen, die gemäß § 11 PsychKG untergebracht sind, nur in den Fällen von LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12522 3 Lebensgefahr, von erheblicher Gefahr für die eigene und für die Gesundheit anderer Personen. Die Anwendung des Gesetzes erfordert von den handelnden Personen (z.B. behandelnde Ärztinnen und Ärzten) eine große Sorgfalt bei der Abwägung der gefährdeten Güter und dem Eingriff in die persönlichen Rechte. Das Vorliegen der Voraussetzungen einer Unterbringung unterliegt der Prüfung durch unabhängige Gerichte. Soweit hoheitliche Aufgaben an Dritte übertragen werden, unterliegen diese der Aufsicht durch die zuständigen Behörden. Insoweit wird einem Missbrauch vorgebeugt. Zum Staatenbericht (Artikel 14 und 15) und zu den Abschließenden Bemerkungen des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hierzu (CRPD/C/DEU/CO/1, Ziffern 30 a), 38 b) und c)), Zwangsmaßnahmen zu verbieten und alternative Maßnahmen zu fördern: Bereits im Koalitionsvertrag haben die regierungstragenden Fraktionen 2012 deutlich gemacht, dass es ihnen ein zentrales Anliegen ist, die psychiatrische Versorgung an den Bedürfnissen der psychisch kranken Menschen auszurichten, diese wohnortnah auszugestalten, alternative Behandlungsformen für Menschen in psychotischen Krisen voranzubringen, die Anwendungen von Zwangsmaßnahmen zu reduzieren und die Selbstbestimmungsrechte und Persönlichkeitsrechte zu stärken. Hierzu hat die Landesregierung fortlaufend folgende Maßnahmen, die sich auf Aspekte der psychiatrischen Versorgung bzw. die Stärkung der Persönlichkeitsrechte beziehen, eingeleitet bzw. durchgeführt: - die Aufstellung eines Krankenhausplans, der auf die wohnortnahe und sektorübergreifende Versorgung ausgerichtet ist, - die Landesinitiative „Starke Seelen“ zum Erhalt und zur Verbesserung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, - die Förderung von Projekten zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen, - die Novellierung des PsychKG mit einer Stärkung der Rechte der Betroffenen und der Verankerung einer Genehmigung von Zwangsmaßnahmen durch eine unabhängige Stelle (hier Betreuungsgerichte) sowie - die Berichterstattung und eine beteiligungsorientierte Landespsychiatrieplanerstellung, bei der die zukünftige strategische bzw. inhaltliche Ausrichtung und Weiterentwicklung der psychiatrischen Hilfen aktuell erarbeitet werden. Zielrichtung ist eine menschliche, patientenorientierte Psychiatrie, die von der Grundhaltung der Selbstbestimmung und Partizipation der Betroffenen ausgeht und eine sektorübergreifende, wohnortnahe und personenzentrierte Versorgung sicherstellt. 5. Ist die Landesregierung der Auffassung, die Gewährung oder Vorenthaltung von Menschenrechten sei eine Frage der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse? Nein. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/12522