LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/12660 09.08.2016 Datum des Originals: 09.08.2016/Ausgegeben: 12.08.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4933 vom 7. Juli 2016 der Abgeordneten Henning Höne, Dirk Wedel und Karlheinz Busen FDP Drucksache 16/12465 Räumung der JVA Münster wegen Einsturzgefahr – wie können erhebliche Statikmängel über Jahre übersehen oder ignoriert werden? Wortlaut der Kleinen Anfrage Die Justizvollzugsanstalt (JVA) Münster ist das zweitälteste Gefängnis auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die Anstaltsgebäude wurden ab 1848 an der Gartenstraße nach Plänen des preußischen Architekten Carl-Friedrich Busse im Stil der englischen Neugotik erbaut . Die Inbetriebnahme erfolgte bereits im Jahre 1853. Gegenwärtig ist die Anstalt mit 515 Insassen belegt. Überlegungen für einen Neubau bestehen bereits seit 2010; die Dienstgebäude der Justizvollzugsanstalt waren seit 2009 im Auftrag des BLB NRW wiederholt von einem Statiker auf ihre Standsicherheit überprüft worden. Die Untersuchungen hatten ergeben, dass der überwiegende Teil der Gebäude – darunter drei der vier Hafthäuser – auf Dauer nicht zu erhalten sei, so dass das Justizministerium am 30.08.2012 schließlich bekannt gab, dass ein Neubau realisiert werden solle. Einstweilen blieb die Anstalt allerdings auch in den Folgejahren in Betrieb. In einer Nachuntersuchung im Juni 2014 stellte der Sachverständige sodann ein Fortschreiten der statischen Mängel fest und empfahl verkürzte Überprüfungsabstände. Im Sommer 2015 bescheinigte er schließlich erstmalig eine nur noch eingeschränkte, gleichwohl nach seiner Auffassung weiterhin zulässige und verantwortbare Standsicherheit der betroffenen Gebäudeteile. Namentlich die Mörtelfugen seien von Alterungs- und Ermüdungserscheinungen betroffen. Die hierdurch entstandenen Risse lägen vorwiegend im Bereich der Gewölbedecken der Hafträume, der Flure und der Zentralkuppel. Um Veränderungen der Risse und Auswirkungen auf die Konstruktion verfolgen zu können, hat der Sachverständige im Frühjahr 2016 schließlich Überwachungssensoren angebracht, um statik- und standsicherheitsrelevante Veränderungen erkennen zu können. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12660 2 Nach Auskunft des Justizministeriums vom Mai 2016 (vgl. Vorlage 16/3909, S. 2) habe noch zu jener Zeit keine Einsturzgefahr oder Gefahr für Leib oder Leben der Insassen und der Anstaltsbediensteten bestanden. Diese Einschätzung hielt das Justizministerium selbst Ende Juni 2016 noch aufrecht. Am 06.07.2016 kündigte der Bau- und Liegenschaftsbetrieb (BLB) den mit dem Land über die Anstaltsräumlichkeiten bestehenden Mietvertrag fristlos aus wichtigem Grund. Zugleich setzte der BLB dem Land eine Frist zur Räumung aller Anstaltsgebäude bis spätestens zum Nachmittag des 08.07.2016. Anlass hierfür seien eben jene bekannten Statikmängel, die nunmehr einen jederzeitigen Einsturz der Anstaltsgebäude befürchten ließen. Die angebrachten Sensoren hatten allerdings offenbar keine relevante Veränderung der Statik gemeldet; ein neues Sachverständigengutachten sei aber dennoch zu dem Ergebnis gelangt, ein spontanes Versagen der Statik und damit ein Einsturz könne nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden. Die Abruptheit der aktuellen Entwicklungen muss angesichts der Vorgeschichte überraschen. Selbst in seinem Bericht an den Rechtsausschuss am 04.05.2016 ging das Justizministerium offenbar noch davon aus, dass selbst im Falle eines Statikversagens allenfalls eine Teilräumung der Anstalt erfolgen müsse; so sprach es auf S. 2 seines schriftlichen Berichts lediglich von einer Räumung der betroffenen Gebäudeteile, nicht aber gesamten Anstalt. Dies muss insbesondere vor dem Hintergrund verwundern, dass selbst der Landesvorsitzende des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands, Peter Brock, schon am 14.04.2016 von einer Einsturzgefahr der Gebäude der JVA Münster ausging.1 Ebenso erscheint nicht nachvollziehbar , aus welchen Gründen der BLB NRW nicht früher zu der Einschätzung gelangt ist, die Anstalt aus baulichen Gründen für räumungsbedürftig zu befinden. Die Möglichkeit, dass unterschiedliche Bausachverständige zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen mit Blick auf bestehende Baumängel eines Gebäudes kommen, ist nicht lebensfremd. So hätte bereits zu einem früheren Zeitpunkt ein Zweitgutachten beauftragt oder schon aufgrund der im Frühjahr festgestellten Mängel eine schrittweise Räumung der JVA angeraten werden können, um das Land nicht im Wege der nun erforderlichen Totalräumung vor vollendete Tatsachen zu stellen. Zu klären sein wird schließlich auch, ob der BLB NRW vor dem genannten Hintergrund entweder den Statikmangel der vom Land gemieteten Anstaltsgebäude zu vertreten hat mit der Folge eines möglichen Schadensersatzanspruchs des Landes aus § 536 a Abs. 1 BGB oder aber sonstige vertragliche Verpflichtungen – etwa hinsichtlich der rechtzeitigen Aufklärung über den Räumungsbedarf – schuldhaft verletzt hat. Schließlich ist der Räumungsbedarf auch vor dem Hintergrund akut geworden, dass ungeachtet des seit 2012 bekannten Neubauvorhabens der BLB auch 4 Jahre später keine geeignete Fläche für einen Neubau zu identifizieren vermochte. Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 4933 mit Schreiben vom 9. August 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Finanzminister beantwortet. 1. Aus welchen Gründen hat das Justizministerium in Kenntnis der baulichen Bedenken gegen die Standsicherheit großer Teile der Anstaltsgebäude keine Vorkehrungen für eine vollständige, sondern allenfalls solche für eine teilweise Räumung getroffen? Eine vollständige Räumung der JVA Münster hat nicht stattgefunden. Statikmängel betreffen den zentralen Sternbau (Zentralkuppel, Hafthäuser A bis D und Verwaltungstrakt). Dieser Teil 1 http://www.presseportal.de/pm/30621/3300827 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12660 3 der Anstalt wurde am 07.07. und 08.07. geräumt. Von der Räumung nicht betroffen sind die in anderer Bauweise errichteten Nebengebäude (unter anderem Pforte, Lazarett, Wirtschaftsgebäude , Werkhalle, Dienstwohnungen). In diesem Teil der Anstalt wird derzeit der Vollzug mit einer geringeren Anzahl von Inhaftierten weiterbetrieben. 2. Aus welchen Gründen ist der BLB NRW nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt – etwa durch Beauftragung eines Zweitgutachtens zur Baustatik, aber auch auf Grundlage der bereits erlangten Erkenntnisse – zu der Auffassung gelangt, eine schrittweise und zeitlich gestreckte Räumung der JVA Münster anzuregen? Die statische Situation des Baukörpers wird seit 2010 durch den BLB NRW fortlaufend geprüft. Aus Anlass eines Gutachtens aus 2015 erfolgte ab Anfang 2016 eine elektronische Rissüberwachung der Flur- und Zentralkuppelgewölbe, um etwaige Veränderungen frühzeitig zu erkennen . Gleichzeitig wurden ein Evakuierungskonzept zur zügigen Räumung der JVA Münster und Planungen zur Bereitstellung von Ausweichplätzen entwickelt. Ende April 2016 wurde ein Zweitgutachten zur weiteren Klärung der statischen Situation der Baukörper der JVA Münster sowie ein weiteres zur juristischen Bewertung der Situation beauftragt . Der BLB NRW nahm die Einschätzungen der Gutachter zum Anlass, den Mietvertrag zu kündigen. 3. Welche Aufzeichnungen und Meldungen haben die in der Anstalt angebrachten Mauerwerkssensoren im Zeitraum seit dem 01.07.2016 geliefert? Die Messwerte zeigten im Beobachtungsbereich schwankende Werte, ohne dass der festgelegte Alarmwert überschritten wurde. 4. Folgte aus den durch die Sensoren gelieferten Daten die Annahme einer Veränderung des Mauerwerks, die die sofortige Räumung der Anstalts-gebäude besorgen ließ? Den Anlass zur Kündigung gaben nicht die durch die Sensoren gelieferten Daten, sondern die in der Antwort auf Frage 2 benannten Gutachten. 5. Welche Aussichten misst die Landesregierung einem juristischen Vorgehen gegen den BLB mit Blick auf etwaige Schadensersatzansprüche aus Mängeln der Mietsache (§ 536 a BGB), Verletzung von Aufklärungs- und Hinweispflichten (§§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 282 BGB) oder anderen Rechts-gründen bei? Rechtsträger der JVA Münster ist das Land Nordrhein-Westfalen. Der BLB NRW ist ein teilrechtsfähiges Sondervermögen des Landes NRW und wird vom Finanzministerium verwaltet. Es ist beabsichtigt - wie auch im Mietvertrag vorgesehen -, etwaige Folgen der Räumung einvernehmlich zwischen den beteiligten Ressorts zu regeln. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/12660