LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/12747 23.08.2016 Datum des Originals: 23.08.2016/Ausgegeben: 26.08.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 5024 vom 5. August 2016 der Abgeordneten Yvonne Gebauer FDP Drucksache 16/12649 Wie hat sich die Anzahl der AO-SF-Verfahren in den letzten Jahren entwickelt? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Im Zuge der Umsetzung der Inklusion ist eines der erklärten Ziele der rot-grünen Landesregierung gewesen, die Zahl der AO-SF-Verfahren abzusenken, durch die ein sonderpädagogischer Förderbedarf „ermittelt“ wird. Als – zumindest offizielle - Begründung hierfür wurde regelmäßig angeführt, dass ein solches Verfahren von manchen Betroffenen als „Etikettierung“ empfunden werde. Daher hat die Landesregierung im Rahmen der Umsetzung des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes die Antragsstellung durch die Schulen eingeschränkt und verstärkt hin zu den Eltern verlagert. Diese Verlagerung erfolgte auch offenkundig, da zuvor nach übereinstimmenden Schätzungen vieler Experten solche Antragsstellungen durch Eltern lediglich rund 5 Prozent der gesamten Anträge auf ein AO-SF-Verfahren betragen hatten. Darüber hinaus wurden durch Rot-Grün förderschwerpunktbezogen generelle Beschränkungen bei der Möglichkeit der Antragsstellung verankert. Bekannt ist, dass von manchen Schulbehörden gegenwärtig gezielt Druck auf Schulen ausgeübt wird, die Zahl der Antragsverfahren möglichst gering zu halten. Auch gibt es gezielte Rückfragen an Schulen, wenn dort z.B. viele Eltern entsprechende Anträge stellen. Es ist ebenfalls ein offenes Geheimnis, dass Verfahren bisweilen offensichtlich gezielt verschleppt werden. Entgegen der rot-grünen Ziele belegt nun eine Vielzahl von Rückmeldungen, dass die Anzahl der Antragsstellungen offenbar deutlich ansteigt statt zu sinken. Auch wenn das Schulministerium nach vorliegenden Informationen die wohl früher übliche Zusammenstellung der jeweiligen Antragsstellungen durch nachgeordnete Schulbehörden zwischenzeitlich eingestellt hat, sind die entsprechenden Zahlen bzw. Entwicklungen offensichtlich bekannt. So erklärte unlängst z.B. der Verband Erziehung und Bildung, dass der Anteil der Kinder mit festgestelltem Förderbedarf an Grundschulen trotz „Beschränkungen“ bei der Antragsstellung in Klasse 1 und 2 seit dem Schuljahr 2014/2015 gleich geblieben sei, in weiterführenden Schulen sei er von 2013/14 zu 2015/16 sogar angestiegen. Als noch deutlicherer Beleg, dass LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12747 2 die Zahlen vorliegen, ist zu werten, dass die zuständige Fachministerin in schulpolitischen Diskussionen selber erklärt hat, dass die Zahlen angestiegen seien. Von Fachleuten wird dieser Anstieg z.B. darauf zurückgeführt, dass manche Eltern auf die schlechten Rahmenbedingungen der rot-grünen Umsetzung der Inklusion reagieren. Eltern versuchen sich demnach mithilfe eines solchen „Bescheids“ abzusichern, um für ihre Kinder sozusagen ein fixiertes Recht auf individuell festgestellten Förderbedarf „schriftlich belegt zu erhalten“. Daher ist es aus legislativer Sicht wichtig, von der Exekutive eine strukturierte Auflistung zu erhalten, wie sich die entsprechenden Zahlen in den letzten Schuljahren entwickelt haben und wie die Landesregierung die Entwicklungen bewertet. Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 5024 mit Schreiben vom 23. August 2016 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Die Eltern von Schülerinnen und Schülern der Primarstufe und der Sekundarstufe I können jederzeit bei der Schulaufsichtsbehörde den Antrag stellen, ein Verfahren zur Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung für ihr Kind zu eröffnen (§ 19 Absatz 5 Satz 1 Schulgesetz NRW – SchulG – und § 11 Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung – AO-SF). Anträge von Schulen bei einem vermuteten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen können in der Regel nicht vor dem dritten Schulbesuchsjahr eines Kindes und nicht mehr nach dem Ende der Klasse 6 gestellt werden (§ 19 Absatz 7 SchulG und § 12 AO-SF). Durch die veränderte Ressourcensteuerung im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen ist der Umfang des Einsatzes von Lehrkräften für Sonderpädagogik nicht mehr davon abhängig, wie viele Schülerinnen und Schüler mit einem förmlich festgestellten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung an der jeweiligen Schule lernen. In einer Kultur gemeinsamer Verantwortung ist eine frühzeitige Begleitung und Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Bedarfen auch möglich, ohne dass ihnen ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung förmlich attestiert werden muss. Die systembezogene Systematik hat die vorherige Zuordnung der Ressource zum einzelnen Kind abgelöst. Dieser systemische Ansatz folgt wissenschaftlicher Expertise und wird auch in anderen Ländern praktiziert Neben den Regelungen des Schulgesetzes und der Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung einschließlich der dazu erlassenen und veröffentlichten Verwaltungsvorschriften gibt es keine Erlasse oder anderen Weisungen der Landesregierung für das Verfahren zur Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung. Die Fragestellerin geht daher von unzutreffenden Sachverhalten aus, wenn sie in der Vorbemerkung von generellen Beschränkungen von „Rot-Grün“ spricht. Auch gibt es kein Geheimnis und auch kein „offenes Geheimnis“, sondern durch Gesetz und Verordnung geregelte Verfahren, in denen die Schulaufsichtsbehörden das geltende Recht anwenden und ihre Befugnisse wahrnehmen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12747 3 1. Wie hat sich die Zahl der beantragten AO-SF-Verfahren seit dem Schuljahr 2012/2013 bis zum Schuljahr 2016/2017 entwickelt (bitte jeweils für den angeführten Zeitraum schuljahresbezogen in absoluten Zahlen und prozentualen Anteilen sowie nach Primar- und Sekundarstufe I aufgeschlüsselt auflisten)? 2. Wie viele der in Frage 1 genannten Verfahren wurden jeweils durch Schulen bzw. durch Eltern beantragt (bitte jeweils schuljahresbezogen in absoluten Zahlen sowie prozentual aufgeschlüsselt darstellen)? 3. Wie viele der jeweils in den genannten Schuljahren beantragten AO-SF-Verfahren sind mit einer Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs abgeschlossen worden (bitte schuljahresbezogen im Verhältnis zu den beantragten AO-SF- Verfahren in absoluten sowie prozentualen Zahlen aufgeschlüsselt darstellen)? Die Fragen werden zusammen beantwortet. Die Landesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage 3301 (Landtagsdrucksache 16/8693) berichtet, dass die Zahl der Verfahren zur Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung im Rahmen der Amtlichen Schuldaten nicht erhoben wird. Eine solche Erhebung kann auch nicht innerhalb der Zeit geleistet werden, die für die Antwort auf eine Kleine Anfrage zur Verfügung steht; sie müsste sich auf 58 Schulaufsichtsbehörden (alle Schulämter und alle Bezirksregierungen) erstrecken. Statistisch erfasst werden die Zahlen der Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und ihre Verteilung auf die Förderschwerpunkte. Die Zahlen für die Primarstufe und die Sekundarstufe I der öffentlichen Schulen und der Ersatzschulen für die Zeit nach dem Inkrafttreten des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes (Schuljahre 2014/2015 und 2015/2016) ergeben sich aus der nachfolgenden Tabelle. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Schülerzahlen im Schuljahr 2014/2015 auf AO-SF-Verfahren aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes beruhen. Primarstufe 2014/15 2015/16 Sekundarstufe I 2014/15 2015/16 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12747 4 Umfangreiches statistisches Material einschließlich von Zeitreihen enthält das Statistik- Telegramm 2015/2016 (Statistische Übersicht Nr. 390 1. Auflage, S. 81 bis 85) vom April dieses Jahres; es ist im Bildungsportal des Ministeriums für Schule und Weiterbildung unter dem Link https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Ministerium/Service/Schulstatistik/Amtliche- Schuldaten/StatTelegramm2015.pdf allgemein zugänglich. 4. Teilt die Landesregierung die Einschätzung vieler Fachleute, dass ein Gleichbleiben bzw. ein Anstieg der Zahlen solcher Antragsstellungen auf die Sorge vieler Eltern zurückzuführen ist, ihren Kindern könnte bei den bestehenden ungenügenden Rahmenbedingungen der rot-grünen Umsetzung der Inklusion die notwendige Förderung versagt bleiben (wenn nein, bitte erläutern, worauf die Landesregierung die Entwicklungen dann zurückführt)? Die Landesregierung kennt keine empirischen Untersuchungen über die Motive, wegen derer Eltern einen Antrag zur Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung für ihr Kind gestellt haben. Die von der Fragestellerin genannten Einschätzungen „vieler Fachleute“ sind Spekulationen. 5. Wenn es ein erklärtes Ziel rot-grüner Inklusionspolitik gewesen ist, die Zahl der Antragsstellungen abzusenken, diese aber gleichbleibt oder sogar steigt: Teilt die Landesregierung die Einschätzung, dass sie dann in diesem Feld der Inklusionspolitik mit ihren Zielen zumindest bisher offensichtlich gescheitert ist (wenn nein, bitte erläutern, warum nicht)? Wie in der Antwort auf Frage 1 ausgeführt, gibt es keine Amtlichen Schuldaten darüber, ob die Zahl der Verfahren zur Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung genauso hoch ist wie früher, oder ob sie höher oder niedriger ist als früher. Die Frage der Abgeordneten beruht daher auf einer Spekulation und nicht auf verlässlichen Zahlen. Statistisch belegt ist, dass in den letzten Jahren in der Primarstufe und der Sekundarstufe I der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung (Förderquote) nicht allein in Nordrhein-Westfalen, sondern bundesweit gestiegen ist. Schuljahr Nordrhein-Westfalen bundesweit 2011/2012 6,5 % 6,4 % 2012/2013 6,7 % 6,6 % 2013/2014 7,1 % 6,8 % 2014/2015 7,3 % 7,0 % 2015/2016 7,5 % noch nicht ermittelt LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12747 5 Der Anstieg beruht vor allem auf der wachsenden Zahl der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung. Die Statistische Veröffentlichung der Kultusministerkonferenz zur sonderpädagogischen Förderung in Schulen (Dokumentation 210) weist bundesweit für diesen Förderschwerpunkt von 2005 bis 2014 einen Anstieg der Schülerzahl um nahezu 80 % und eine Erhöhung des Anteils von 9,5 % auf 16,1 % an allen Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischer Förderung aus. Diese Zahlen lassen vermuten, dass der Anstieg eher gesellschaftliche Ursachen hat und weniger auf bildungspolitischen Entscheidungen in den Ländern beruht. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/12747