LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/12771 29.08.2016 Datum des Originals: 26.08.2016/Ausgegeben: 01.09.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4995 vom 29. Juli 2016 des Abgeordneten Daniel Schwerd FRAKTIONSLOS Drucksache 16/12595 Verfahren nach §175 StGB in Nordrhein-Westfalen Wortlaut der Kleinen Anfrage „Verzögerte Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit.“ William Ewart Gladstone „Die Verfolgung und gesellschaftliche Ausgrenzung schwuler Männer und lesbischer Frauen ist bislang nur unzureichend Gegenstand der Aufarbeitung bundesrepublikanischer Geschichte .“ Diese Feststellung hat der Landtag NRW bereits am 26.03.2014 getroffen. Während bundesweite Zahlen zum Ausmaß der Verfahren und Verurteilungen nach dem homosexuellenfeindlichen §175 StGB vorliegen, ist unklar, welche Verfolgungsintensität es in Nordrhein-Westfalen zwischen 1946 und 1994 gab und welche regionalen Unterschiede dabei ggf. zutage getreten sind. Auch ist unklar, wie die jeweiligen Landesjustizminister in NRW Gnadengesuche von nach §175 StGB verurteilten Männern beschieden haben. Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 4995 mit Schreiben vom 26. August 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerpräsidentin und allen anderen Mitgliedern der Landesregierung beantwortet. 1. Wie viele Ermittlungsverfahren auf Grundlage des §175 StGB hat es in den Jahren 1946 bis 1994 in Nordrhein-Westfalen gegeben? Differenzieren Sie nach Kalenderjahren sowie dem jeweiligen zuständigen Amts- bzw. Landgericht, und geben auch an, in wie vielen dieser Fälle Untersuchungshaft angeordnet wurde. Statistische Daten zur Beantwortung dieser Frage liegen dem Justizministerium nicht vor. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12771 2 2. Wie viele Verurteilungen nach §175 StGB hat es in den Jahren 1946 bis 1994 in Nordrhein-Westfalen gegeben? Differenzieren Sie nach Kalenderjahren sowie dem jeweiligen zuständigen Amts- bzw. Landgericht. Die Anzahl der Verurteilungen wegen § 175 StGB in den Jahren 1953 bis 1994 ergibt sich aus der beigefügten Tabelle. Daten für die Jahre 1946 - 1952 liegen nicht vor. Eine Differenzierung nach Amts- und Landgerichtsbezirken ist anhand der vorliegenden Daten ebenfalls nicht in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage vorgegebenen Zeit möglich. Bei der Bewertung der Zahlen sind die unterschiedlichen Fassungen und Regelungsinhalte des § 175 StGB zu berücksichtigen. Mit dem Inkrafttreten des Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1935 hatten §§ 175 und 175a RStGB folgenden Wortlaut: „§ 175 RStGB (1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft. (2) Bei einem Beteiligten, der zu Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen. § 175a RStGB Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft: 1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben, oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen; 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst- , Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen; 3. ein Mann über einundzwanzig Jahre, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen; 4. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet.“ Eine erste Modifizierung erhielten die Strafvorschriften durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969, welches am 1. September 1969 in Kraft trat. § 175 StGB lautete fortan: § 175 Unzucht zwischen Männern (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird bestraft: 1. ein Mann über achtzehn Jahre, der mit einem anderen Mann unter einundzwanzig Jahren Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeitsoder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, 3. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet. (2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist der Versuch strafbar. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12771 3 (3) Bei einem Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht 21 Jahre alt war, kann das Gericht von Strafe absehen. § 175a StGB wurde aufgehoben. Die Änderungen hatten zur Folge, dass homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen entkriminalisiert waren. Zudem führte die Einführung einer doppelten Altersgrenze von 18 und 21 Jahren zu einem geringeren Anwendungsbereich der Norm. Mit dem vierten Strafrechtsreformgesetz vom 23. November 1973 wurde sodann das Schutzalter für einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen männlichen Personen auf 18 Jahre herabgesetzt. § 175 StGB lautete seitdem: § 175 Homosexuelle Handlungen (1) Ein Mann über achtzehn Jahren, der sexuelle Handlungen an einem Mann unter 18 Jahren vornimmt oder von einem Mann unter 18 Jahren an sich vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Das Gericht kann von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn 1. der Täter zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war oder 2. bei Berücksichtigung des Verhaltens desjenigen, gegen den die Tat sich richtet, das Unrecht der Tat gering ist. 3. In wie vielen Fällen kam es zwischen 1946 und 1994 in Nordrhein-Westfalen bei Männern, die wegen § 175 StGB verurteilt worden waren bzw. gegen die entsprechende Ermittlungen durchgeführt worden waren, zu Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst? Schlüsseln Sie die Zahlen nach Kalenderjahren und Dienstbehörden auf. Der Landesregierung liegen hierzu keine statistischen Daten vor. 4. In welchen Fällen saßen Männer auch nach der Abschaffung des § 175 StGB im Jahre 1994 noch in nordrhein-westfälischen Haftanstalten aufgrund von Verurteilungen nach § 175 StGB ein? Nennen Sie jeden Fall sowie das Datum der endgültigen Entlassung. Aufgrund der gesetzlichen Löschungsfristen (§ 184 Abs. 3 StVollzG bzw. § 114 Abs. 3 Satz 1 StVollzG NRW) liegen hierzu keine Daten mehr vor. 5. Welche Gnadengesuche gab es im Zusammenhang mit Verurteilungen nach § 175 StGB an nordrhein-westfälische Justizminister? Nennen Sie das Kalenderjahr jedes Falles und wie diese jeweils beschieden wurden. Der Landesregierung liegen keine validen Daten über Gnadengesuche im Zusammenhang mit Verurteilungen nach § 175 StGB vor. Eine von Hand vorzunehmende Sonderauswertung war in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Jahr Heranwachsende ab 1954 verurteilt nach allg. Strafrecht* Erwachsene (21 Jahre und älter)* Jugendliche Heranwachsende nach Jugendstrafrecht ab 1954 Gesamt 1953 § 175 116 272 51 439 § 175a 29 174 2 205 Gesamt 145 446 53 644 449 1954 § 175 25 335 55 34 § 175a 2 200 12 8 222 Gesamt 27 535 67 42 671 1955 § 175 20 334 85 56 495 § 175a 6 224 6 12 248 Gesamt 26 558 91 68 743 1956 § 175 26 369 83 43 521 § 175a 6 264 8 11 289 Gesamt 32 633 91 54 810 1957 § 175 14 381 109 56 560 § 175a 11 318 17 10 356 Gesamt 25 699 126 66 916 1958 § 175 18 346 123 54 541 § 175a 6 296 21 10 333 Gesamt 24 642 144 64 874 1959 § 175 21 422 102 106 651 § 175a 4 324 25 23 376 Gesamt 25 746 127 129 1027 1960 § 175 23 340 115 60 538 § 175a 2 256 17 9 284 Gesamt 25 596 132 69 822 1961 § 175 19 363 104 64 550 § 175a 2 253 24 13 292 Gesamt 21 616 128 77 842 1962 § 175 20 382 90 43 535 § 175a 0 230 15 7 252 Gesamt 20 612 105 50 787 1963 § 175 17 369 103 45 534 § 175a 1 227 20 5 253 Gesamt 18 596 123 50 787 1964 § 175 18 330 98 51 497 § 175a 1 239 23 9 272 Gesamt 19 569 121 60 769 1965 § 175 13 323 102 33 471 § 175a 1 202 8 6 217 Gesamt 14 525 110 39 688 1966 § 175 11 295 90 45 441 § 175a 2 204 17 7 230 Gesamt 13 499 107 52 671 1967 § 175 8 236 47 35 326 § 175a 0 83 24 6 113 Gesamt 8 319 71 41 439 1968 § 175 7 251 49 23 330 § 175a 2 125 19 6 152 Gesamt 9 376 68 29 482 1969 § 175 4 120 28 9 161 § 175a 0 67 10 8 85 Gesamt 4 187 38 17 246 1970 § 175 Abs. 1 Nr. 1 0 96 1 2 99 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 0 8 2 3 13 Gesamt 0 104 3 5 112 1971 § 175 Abs. 1 Nr. 1 0 79 1 2 82 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 0 7 4 1 12 Gesamt 0 86 5 3 94 1972 § 175 Abs. 1 Nr. 1 1 67 0 0 68 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 0 7 5 4 16 Gesamt 1 74 5 4 84 1973 § 175 Abs. 1 Nr. 1 0 60 1 0 61 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 0 2 8 4 14 Gesamt 0 62 9 4 75 1974 § 175 Abs. 1 Nr. 1 1 59 1 1 62 § 175 Abs. 1 Nr. 2 und 3 0 1 0 0 1 Gesamt 1 60 1 1 63 1975 § 175 1 29 0 0 30 1976 § 175 0 41 0 0 41 1977 § 175 0 46 0 0 46 1978 § 175 1 40 1 0 42 1979 § 175 0 41 0 2 43 1980 § 175 1 38 0 0 39 1981 § 175 0 31 0 1 32 1982 § 175 1 43 0 2 46 1983 § 175 0 34 0 1 35 1984 § 175 0 25 0 0 25 1985 § 175 2 32 0 2 36 1986 § 175 0 22 0 0 22 1987 § 175 0 35 0 0 35 1988 § 175 0 22 0 0 22 1989 § 175 0 27 0 1 28 1990 § 175 0 26 0 2 _ 28 1991 § 175 0 14 0 0 14 1992 § 175 0 23 0 — 0 23 1993 § 175 0 28 0 0 28 1994 § 175 0 15 0 0 15 * in 1953 Jungerwachsene 18 - 25 Jahre bzw. Erwachsene über 25 Jahre Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/12771