LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/12876 07.09.2016 Datum des Originals: 07.09.2016/Ausgegeben: 12.09.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 12648 vom 5. August 2016 der Abgeordneten Yvonne Gebauer FDP Drucksache 16/12648 An welchen Vorgaben sollen sich die Lehrkräfte bei der Inklusion in allgemeinen Schulen orientieren? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Eine wichtige Frage bei der Umsetzung der Inklusion stellen die jeweiligen Vorgaben für allgemeine Schulen dar, an denen sich die Lehrkräfte orientieren können. Rückmeldungen berichten jedoch von einer wachsenden Frustration der Lehrkräfte an allgemeinen Schulen, weil in Nordrhein-Westfalen demnach z.B. für zieldifferenten Unterricht überhaupt keine entsprechenden Richtlinien und Lehrpläne zur Verfügung stünden. Bekanntlich erklärt das Ministerium für Schule und Weiterbildung hierzu regelmäßig, dass sich die Unterrichtung an den Vorgaben der besuchten allgemeinen Schulform bzw. des entsprechenden Bildungsganges orientiere. Da dies jedoch gerade im Bereich zieldifferentes Lernens (und Lehrens) vielfach weder zielführend noch umsetzbar ist, müssen die Lehrkräfte aus diesen Vorgaben dasjenige mühsam herauszufiltern, was ihnen pädagogisch sinnvoll, realistisch umsetzbar und inhaltlich nutzbar erscheint. Laut Rückmeldungen greifen Lehrkräfte z.B. auf entsprechende Materialien aus Bayern zurück, weil in Nordrhein-Westfalen entsprechende Vorgaben fehlen. Die Folge ist demnach u.a., dass von den Lehrkräften an den einzelnen Schulen nicht nur ein enormer zeitlicher Aufwand betrieben werden muss, sondern dass sich die Ausgestaltung von Einzelschule zu Einzelschule deutlich unterscheidet. Als Folge besteht de facto keine Vergleichbarkeit mehr. Daher stellt sich die Frage, an welchen Richtlinien und Lehrplänen sich aus Sicht des Schulministeriums die Lehrkräfte an den unterschiedlichen Schulformen bei zieldifferentem Lernen orientieren sollen. Darüber hinaus drängt sich die Frage auf, ob die Entwicklung solcher Richtlinien und Lehrpläne nicht eine zentrale Aufgabe des von Rot-Grün mit Millionenbeträgen neu aufgebauten Landesinstituts für Schule „QUA-LIS“ sein müsste. Daher wäre es wichtig zu erfahren, welche diesbezüglichen Vorgaben dort bisher entwickelt wurden bzw. gegenwärtig erarbeitet werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12876 2 In der – gerade teilweise geänderten – AO-SF heißt es nun z.B. darüber hinaus, das Ministerium erlasse ergänzende Unterrichtsvorgaben für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Autismus-Spektrum-Störung. Auch hier wäre es wichtig zu erfahren, wie diese jeweils bildungsgangspezifisch ausgestaltet sind. Ein weiterer wichtiger Punkt, der sich bereits in der damaligen umfassenden Anhörung zum 9. Schulrechtsänderungsgesetz abzeichnete, stellte die Frage der weiteren Beschulung von Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung dar. Nun verkündet beispielweise die schulpolitische Sprecherin der Grünen regelmäßig vor Ort oder in schulpolitischen Debatten, dass zieldifferenter Unterricht unbedingt auch an Gymnasien stattfinden müsse. Allerdings dauert insbesondere der Bildungsgang für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung deutlich länger als der nach der 9. Jahrgangsstufe endende gymnasiale Bildungsgang in der Sekundarstufe I. Wenn also die Grünen eine solche zieldifferente Unterrichtung an dieser Schulform explizit einfordern, kann das von den Grünen geführte Schulministerium sicherlich auch darlegen, wie, in welchem „Umfeld“ und wo diese Jugendlichen nach der 9. Klasse weiterbeschult werden, um ihrem Anrecht auf eine qualitativ hochwertige weitere Unterrichtung bestmöglich zu entsprechen. Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 5023 mit Schreiben vom 7. September 2016 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Welche spezifischen Richtlinien und Lehrpläne stellt die Landesregierung neben allgemeinen Vorgaben für Schulen der unterschiedlichen Schulformen bei zieldifferentem Unterricht bereit (bitte jeweils nach einzelnen Schulformen und entsprechenden Förderschwerpunkten differenziert aufgelistet darstellen)? 2. Warum ist es aus Sicht der Landesregierung kein Problem, wenn aufgrund fehlender nordrhein-westfälischer Richtlinien und Lehrpläne der zieldifferente Unterricht an allgemeinen Schulen durch Lehrkräfte vielfach bis hin zu Anleihen aus anderen Bundesländern in nicht mehr vergleichbarer Eigenregie ausgestaltet werden muss? Die Fragen 1 und 2 werden aufgrund ihres logischen Zusammenhangs gemeinsam beantwortet: § 21 Absatz 5 der Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF) bestimmt, dass grundsätzlich die Unterrichtsvorgaben der allgemeinen Schule sowie für die einzelnen Förderschwerpunkte gelten und dabei „die Lernmöglichkeiten und die Belastbarkeit der Schülerinnen und Schüler“ berücksichtigt werden müssen. Diese sind im individuellen Förderplan (§ 21 Absatz 7 AO-SF) unter Mitwirkung aller an der Förderung beteiligten Personen zu dokumentieren. In sehr kompakter Form stellt die AO-SF damit eine normative Grundlage für die Förderung in den einzelnen Förderschwerpunkten dar. Die dortige Orientierung an den Vorgaben der allgemeinen Schule sichert, dass Schülerinnen und Schüler, die im Bildungsgang Lernen zieldifferent unterrichtet werden, bei entsprechender Entwicklung am Ende einen dem Hauptschulabschluss nach Klasse 9 gleichwertigen Abschluss erreichen können. Da sich aber das Lern- und Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler, die zieldifferent unterrichtet werden, deutlich unterscheidet – einige erreichen Leistungen, die zumindest partiell in einigen Fächern nahe an den Vorgaben der Grundschule bzw. der Hauptschule sind, andere sind davon trotz intensiver, individueller Förderung mit sonderpädagogischer Unterstützung weit LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12876 3 entfernt – ist die Vorgabe einheitlicher, zentraler Richtlinien für die zieldifferente Förderung pädagogisch nicht geboten. An die Stelle der für den Bildungsgang der Grundschule bzw. der Hauptschule formulierten kompetenzorientierten Lehrpläne treten daher für die Schülerinnen und Schüler, die zieldifferent unterrichtet werden, individuelle Förderpläne. Bei deren Erarbeitung wirken die Lehrkräfte der allgemeinen Schulen mit Lehrkräften für sonderpädagogische Förderung zusammen. In Kombination mit der individuellen Förderplanung können geeignete Unterrichtsinhalte gefunden werden, die dem erforderlichen Aufbau der Kompetenzen für Schülerinnen und Schüler, die zieldifferent lernen, entsprechend angepasst werden. Zentrale Vorgaben würden an dieser Stelle die pädagogisch dringend erforderlichen Spielräume stark einengen. Lehrpläne und Richtlinien signalisieren, dass gleiche Lernerwartungen an Schülerinnen und Schüler gestellt werden können. Neben den unter Frage 3 dargestellten Unterstützungsangeboten durch die Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS) bietet die Landesregierung auch vor Ort Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Lehrkräfte, indem sie in den Schulämtern nach den Inklusionskoordinatorinnen und Inklusionskoordinatoren auch die Inklusionsfachberaterinnen und Inklusionsfachberater installiert. Fachveranstaltungen stehen Lehrerinnen und Lehrern regional und überregional als Fortbildungsangebote zur Verfügung. Auch mit dem im Auftrag des MSW erstellten neuen Schrift „Sonderpädagogische Förderschwerpunkte in NRW – ein Blick aus der Wissenschaft in die Praxis“, die gerade an alle Schulen des Landes versandt worden ist, liegen den Schulen Informationen zur sonderpädagogischen Förderung vor. 3. Welche Richtlinien und Lehrpläne mit einer spezifischen Ausrichtung auf zieldifferenten Unterricht sind bisher vom Landesinstitut für Schule „QUA-LIS“ entwickelt worden (bzw. befinden sich in Arbeit)? Die Kernlehrpläne bilden fachliche und überfachliche Standards ab, können jedoch nicht die gesamte Breite der schulischen Bildungsarbeit abdecken. Schulen steht deshalb im Rahmen ihrer individuellen, standortbezogenen Schulprogrammarbeit ein pädagogisch-fachlicher Gestaltungspielraum zur Verfügung, um festzulegen, welche Unterrichtsvorhaben zu bestimmten Zeitpunkten die Entwicklung jeweils spezifischer Kompetenzen zum Ziel haben. Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler sind dabei grundlegend für die pädagogisch-didaktische Planung und die Gestaltung des Lehrens und Lernens. Dies gilt in besonderem Maße für das zieldifferente Lernen. Die Schulen werden bei dieser anspruchsvollen Aufgabe durch die QUA-LiS unterstützt. Sie erhalten u. a. über den Lehrplannavigator vielfältige Materialien, die ihnen bei der Implementation der Kernlehrpläne und deren fachlicher Konkretisierung in Unterrichtsvorhaben praktische Impulse geben. Die derzeitige Erarbeitung der Lern- und Entwicklungsplanung – auch unter Einbezug von Schulpraktikerinnen und Schulpraktikern – soll Lehrkräfte bei der Ausarbeitung der individuellen Förderpläne unterstützen. Für die zieldifferenten Bildungsgänge im Rahmen des Gemeinsamen Lernens in allen Schulformen der Sekundarstufe I werden außerdem derzeit Unterstützungsmaterialien für den Unterricht in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik erstellt. Diese zeigen Möglichkeiten auf, unterschiedliche Lernzugänge durch Methodenvielfalt und den Einsatz von Medien und Arbeitsmitteln zu ermöglichen. Erste Unterstützungsangebote werden im Herbst LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/12876 4 2016 online zur Verfügung stehen und können dann auch eine wesentliche Grundlage für fachspezifische Angebote in der Lehrerfortbildung sein. Diese Materialentwicklung erfolgt im Übrigen nach fundierter Recherche eher spärlich vorliegender Arbeiten aus anderen Bundesländern und in engem fachlichen Austausch mit den entsprechenden Landesinstituten. 4. Mit welchen Schwerpunkten sind gegenwärtig die „ergänzenden Unterrichtsvorgaben“ für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Autismus-Spektrum-Störung bildungsgangspezifisch ausgestaltet? Aufgrund der enormen Bandbreite der Phänomenologie von Autismus-Spektrum-Störungen, die Schülerinnen und Schüler mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung von zieldifferenter bis zur zielgleichen Förderung betreffen können, ist es nicht möglich, für diese Schülerinnen und Schüler bindende Vorgaben zu machen. Auch hier ist dem Phänomen entsprechend eine individuelle Herangehensweise zwingend. Dies folgt im Übrigen auch dem seit 2006 im Schulgesetz verankerten Leitaspekt der individuellen Förderung. Bei Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung erfolgt deshalb die Zuordnung zu einem der sieben Förderschwerpunkte. Dann gelten die entsprechenden Vorgaben für diesen Förderschwerpunkt. Diese in der AO-SF enthaltene Regelung wird mittlerweile durch die Handreichung zum Nachteilsausgleich unterstützt. Sofern die Schülerinnen und Schüler keinem zieldifferenten Bildungsgang zugeordnet sind, ist dieser Nachteilsausgleich für das schulische Lernen entscheidend. Bei Fragestellungen unterstützen vor Ort die Fachberaterinnen und Fachberater für Autismus. Auch in der neuen Schrift „Sonderpädagogische Förderschwerpunkte in NRW – ein Blick aus der Wissenschaft in die Praxis“ widmet sich ein Kapitel dem Phänomen der Autismus-Spektrum-Störungen. 5. Wie ist die Beschulung von zieldifferent an Gymnasien unterrichteten Schülerinnen und Schülern für ihren entsprechenden Bildungsgang nach der 9. Klasse ausgestaltet (bitte jeweils nach Förderschwerpunkten sowie nach der inhaltlichen und ggf. örtlichen weiteren Beschulung aufgeschlüsselt erläutern)? Während zielgleich geförderte Schülerinnen und Schüler mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung regulär im Bildungsgang des Gymnasiums verbleiben und bei den entsprechenden Zugangsvoraussetzungen in die gymnasiale Oberstufe wechseln, ist für die zieldifferent zu unterrichtenden Schülerinnen und Schüler – unabhängig von den jeweils zugewiesenen Förderschwerpunkten – auch im 10. Schulbesuchsjahr der Verbleib am Gymnasium möglich. Organisatorisch kann dieses Jahr in Abhängigkeit von den jeweiligen örtlichen Rahmenbedingungen auch in Kooperation mit anderen Schulformen ausgestaltet werden. Ein besonderes Ziel ist es dabei, diese zieldifferent lernenden Schülerinnen und Schüler auf den Übergang in das Berufsleben vorzubereiten. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/12876