LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/13099 04.10.2016 Datum des Originals: 04.10.2016/Ausgegeben: 07.10.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 5077 vom 25. August 2016 der Abgeordneten Yvonne Gebauer FDP Drucksache 16/12762 Verbaut Rot-Grün Flüchtlingsjugendlichen Chancen für einen qualifizierten Einstieg in das deutsche Bildungssystem? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Anfang Juli 2016 erschien in der Neuen Westfälischen unter dem Titel „Ministerium verhindert Flüchtlingsklassen am Stiftischen Gymnasium“ ein umfassender, kritischer Bericht zum „Wirken des Schulministeriums“. Der Artikel beschreibt, wie ein Projektangebot der genannten Schule für eine schnellstmögliche, qualitative Integration junger Flüchtlinge in das Bildungssystem offensichtlich auf Intervention des Ministeriums für Schule und Weiterbildung verhindert wird. Das renommierte Evangelisch Stiftische Gymnasium in Gütersloh hatte angeboten, junge Flüchtlinge mit entsprechenden akademischen und englischsprachigen Vorkenntnissen aufzunehmen und in zwei Jahren zum Internationalen Baccalaureate (IB) zu führen. Dieser international anerkannte Abschluss würde die Jugendlichen bei einem erfolgreichen Bestehen zum Studium berechtigen. Das Internationale Baccalaureate kann an dieser Schule neben dem „klassischen Abitur“ von allen Schülerinnen und Schülern erworben werden, die zusätzlichen „IB-Unterricht“ belegen. Vorgesehen waren bis zu zwei eigene Klassen; ein Unterricht würde jedoch z.B. nicht in jedem Fach „gesondert“ erfolgen. Darüber hinaus zählt zu dem Konzept, dass die Jugendlichen z.B. 150 Stunden im Bereich „creativity and activity“ belegen müssen, so dass sie etwa in Vereinsstrukturen eingebunden würden. Darüber hinaus würden den jungen Menschen, die nach entsprechenden Vorkenntnissen ausgesucht werden sollten bzw. bereits ausgesucht worden waren, neben Englisch selbstverständlich auch umfangreiche Deutschkenntnisse vermittelt werden. In einzelnen Bereichen sollten durch eine Zusatzförderung mögliche bestehende Defizite ausgeglichen werden. Die besondere Ausgestaltung für entsprechende, bereits schulisch weit fortgeschrittene Flüchtlingsjugendliche hätte darin bestanden, dass sie zwar nicht das deutsche Abitur (was für viele kaum möglich sein dürfte), aber einen international anerkannten Abschluss erwerben könnten, der zum Studium an deutschen Universitäten berechtigt und der ihnen zeitnah Chancen eröffnen könnte. Deutsche LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13099 2 Sprachkenntnisse und eine frühzeitige Einbindung in die „Mehrheitsgesellschaft“ würden durch das Konzept befördert. Da es sich bei der Schule zwar um eine öffentliche Schule handelt, diese aber historisch tradiert größere Freiheiten genießt, hatte das bestehende Kuratorium der Schule, in dem viele renommierte Vertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft vertreten sind, eine finanzielle Unterstützung zugesagt. So sollte das Land zwar wie auch für andere öffentliche Schulen für entsprechende Schülerzahlen Lehrerstellenanteile bereitstellen, jedoch wollte das Kuratorium Zusatzförderung, aber auch weitere anfallende Kosten wie z.B. Prüfungsgebühren finanzieren. So heißt es in dem genannten Artikel: „Die Reinhard-Mohn-Stiftung, Förderer des IB, habe ihre Zusage gegeben, ebenso Firmen wie Bertelsmann und Miele, deren Vertreter im Kuratorium der Schule sitzen. Man sei von einer sechsstelligen Summe ausgegangen. Ferner sei mit der Bürgerstiftung ein Fahrdienst für die auswärtigen Schüler vereinbart worden. Ein Integrationsfachmann bei der Kreisverwaltung sei für die Einstufungseinschätzung gewonnen worden, mit Flüchtlingsinitiativen habe man Gespräche über in Frage kommende Schüler geführt – alles vergebens. Das Land lehnte das ESG-Gesuch, die Schüler anerkannt und damit über die Schüler-/Lehrer-Relation Stellen (teil-)finanziert zu bekommen, ab.“ Offensichtlich hat das Schulministerium eine solche Ausgestaltung unterbunden. So heißt es in dem genannten Artikel, der Abteilungsleiter der Schulverwaltung bei der Bezirksregierung habe die Idee zwar begrüßt, aber demnach „in Abstimmung mit dem Ministerium“ abgelehnt. Weiter wird in dem Artikel als Begründung für die Absage ausgeführt: „Das vorgeschlagene Konzept würde diese Jugendlichen statt einer möglichst umfassenden und schnellen Integration in den deutschen Sprachraum und in das deutsche Schulsystem wiederum in einer gesonderten Lerngruppe isolieren", heißt es in seinem Schreiben. Und weiter: „Dies widerspricht dem Grundsatz der Landesregierung einer möglichst raschen Eingliederung in den deutschen Sprach-, Kultur- und Lebensraum – gemeinsam mit gleichaltrigen deutschen Jugendlichen." Die Begründungen der Bezirksregierung überzeugen in keiner Weise, da das Konzept, anders als unterstellt, explizit umfassenden Deutschunterricht und wichtige Integrationsmaßnahmen in die „deutsche Mehrheitsgesellschaft“ vorsieht. Eine Ausgestaltung, die den alleinigen Erwerb des Internationalen Baccalaureate (IB) vorsieht, wird nach vorliegenden Informationen in anderen Bundesländern durchaus ermöglicht. Es ist daher sehr bedauerlich, dass diese Landesregierung selbst in einer solchen Sondersituation lieber auf Ideologie setzt, statt die Bildungs-, Lebens- und Integrationschancen junger Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. Nicht umsonst beklagte der Schulleiter, hier werde jungen Menschen die Chance auf eine Zukunft verbaut und das Konzept sei allein an der Bürokratie gescheitert. Ebenso bezeichnend äußerte sich der Projektleiter der Reinhard-Mohn-Stiftung: „Die Idee war richtig gut, und sie hätte funktioniert. Wir hätten das Geld für eine intensive Sprachförderung zur Verfügung gestellt. Es wäre ein Weg gewesen, die jungen, intellektuell begabten Zuzügler schnell anschlussfähig zu machen.“ Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 5077 mit Schreiben vom 4. Oktober 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales beantwortet. 1. Da die Landesregierung unlängst behauptet hat, dass von rot-grüner Seite überhaupt keine Einschränkungen bei einer „gesonderten Beschulung“ intendiert sei: Wie erklärt sich die Landesregierung dann die Stellungnahme der Bezirksregierung, die hingegen eben dies klar und verbindlich als Linie der rotgrünen Landesregierung definiert? LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13099 3 Das Konzept des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums Gütersloh, das spezielle Klassen in der gymnasialen Oberstufe mit zugewanderten Jugendlichen bilden möchte, die ausschließlich zu einem International Baccalaureate (IB) führen, ist mit der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die gymnasiale Oberstufe sowie dem Schulgesetz nicht vereinbar. Darüber hinaus ist das Konzept nicht auf Integration in den deutschen Sprachraum und in das deutsche Bildungssystem angelegt. Das International Baccalaureate ist ein international anerkannter und kostenpflichtiger Abschluss, der von einer in Genf ansässigen privatwirtschaftlichen Organisation vergeben wird. Die Curricula, Materialien und Prüfungsunterlagen basieren auf den Standards der International Baccalaureate Organisation (IBO). Sie folgen eher der angelsächsischen Bildungstradition und haben daher nur in einigen Bereichen Schnittmengen mit unseren Richtlinien und Lehrplänen. Grundsätzlich ist Ziel der Landesregierung, eine umfassende Integration neu zugewanderter Jugendlicher in das Schulsystem sowie den deutschen Kultur- und Lebensraum schrittweise aufzubauen. Dafür ist vor allem eine intensive Förderung der deutschen Sprache unerlässlich. Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler werden in der Regel einer Klasse der ihrem Alter entsprechenden Jahrgangsstufe zugewiesen, in die sie nach Möglichkeit mindestens partiell integriert werden. Schülerinnen und Schüler, deren Kenntnisse in der deutschen Sprache eine erfolgreiche Teilnahme am Unterricht nach der Stundentafel noch nicht oder noch nicht vollständig ermöglichen, erhalten eine intensive und individuelle Förderung, die in äußerer und innerer Differenzierung vorgenommen werden kann. Es gibt im ganzen Land daher der jeweiligen Bedarfslage angepasst eine Vielfalt von unterschiedlichen Formen der Förderung zugewanderter Kinder und Jugendlichen an allen Schulformen. 2. Warum verkündet offensichtlich das Ministerium für Schule und Weiterbildung, dass keine Einbindung in den deutschen Sprachraum stattfinde, wenn das Konzept des Stiftischen Gymnasiums sowohl intensive Deutschförderung als auch eine Einbindung in das gesellschaftliche Leben etwa durch Vereinsarbeit verbindlich für die Jugendlichen vorsieht? Das Konzept der Schulleitung des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums Gütersloh sieht vor, dass neu Zugewanderte ausschließlich nach den Vorgaben für das IB unterrichtet werden. Diese sehen vor, dass der Fachunterricht ausschließlich in englischer Sprache erteilt wird. Weiterhin ist ein dreistündiger Deutschkurs zu belegen, der ein Sprachniveau erreicht, das dem B1-Niveau des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen entspricht. Die Lernenden können demnach die Sprache zwar selbstständig verwenden, verfügen dabei aber nicht über die Sprachkenntnisse, die eine Integration in den deutschen Sprach-, Kulturund Lebensraum ermöglichen. Der Unterricht zur Erlangung des International Baccalaureate entspricht eher der angelsächsischen Tradition und ist daher dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen im deutschen Bildungssystem nur partiell verwandt. 3. Warum wird in einer solchen Sondersituation ein alleiniger Erwerb eines Internationalen Baccalaureate (IB) verhindert, wenn dies in anderen Bundesländern durchaus möglich ist? Grundsätzlich kann es nicht das Ziel staatlicher Förderung sein, Unterricht an öffentlichen Schulen anzubieten, der nicht zu staatlichen Abschlüssen, sondern zu einem zwar LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13099 4 international anerkannten, aber privat zu finanzierenden Abschluss einer ausländischen, kommerziell betriebenen Organisation führt. Die Beschulung von zugewanderten Jugendlichen mit dem alleinigen Ziel, das IB – und nicht gleichzeitig das deutsche Abitur - zu erwerben, widerspricht sowohl dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule (§ 2 Abs. 10 SchulG) als auch den Vorschriften über die Schulfinanzierung (§§ 92 ff. SchulG). In Nordrhein-Westfalen – wie auch in anderen Bundesländern – ist der alleinige Erwerb des International Baccalaureate (IB) daher ausschließlich an Ergänzungsschulen möglich. An einigen öffentlichen Schulen sowie an Ersatzschulen in Nordrhein-Westfalen kann das International Baccalaureate zusätzlich zur Allgemeinen Hochschulreife erworben werden. Dieses besondere Angebot richtet sich vor allem an Oberstufenschülerinnen und –schüler mit einer sehr hohen Leistungsfähigkeit und Leistungsmotivation. 4. Aus welchen Gründen erachtet es die rot-grüne Landesregierung für die gesellschaftliche Integration junger Menschen als zielführender, wenn letztlich offensichtlich auf Anordnung des Schulministeriums ggf. deutlich geminderte Chancen auf den Erwerb eines Abschlusses bestehen, statt Schulunterricht mit dem Ziel eines solchen anerkannten Abschlusses zu besuchen? Aus den oben genannten Gründen ist es Aufgabe und Ziel staatlicher Erziehung und Bildung in Schulen, zugewanderten Jugendlichen durch differenzierte Fördermaßnahmen zu einem den individuellen Leistungspotentialen angemessenen Bildungsabschluss zu verhelfen. Die Landesregierung unternimmt zahlreiche umfassende Anstrengungen, um neu zugewanderte, schulpflichtige junge Menschen in das Bildungssystem einzugliedern. Vor allem die zusätzliche Sprachförderung sowie großzügige Übergangsmöglichkeiten in die vorgesehenen differenzierten Bildungsgänge des staatlichen Schulsystems mit intensiver Begleitung durch die untere und obere Schulaufsicht stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Insofern ist der Bewertung in Frage 4, dadurch würden die Chancen auf den Erwerb eines Abschlusses gemindert, deutlich zu widersprechen. 5. Wäre die Landesregierung bereit, ein solches Konzept am Stiftischen Gymnasium z.B. als Schulversuch zu erproben? Nein. Siehe Antworten auf die Fragen 1 bis 4. Schulversuche können sich nur in dem von § 25 Abs. 1 SchulG vorgegebenen Rechtsrahmen bewegen. Hier bestimmt § 25 Abs. 1 Satz 3 SchulG, dass die nach dem Schulgesetz vorgesehenen Abschlüsse erreicht werden müssen. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/13099