LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/13218 19.10.2016 Datum des Originals: 19.10.2016/Ausgegeben: 24.10.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 5124 vom 12. September 2016 der Abgeordneten Ina Scharrenbach CDU Drucksache 16/12908 Landeskinderschutzgesetz: Schutz von Kindern ohne Schutz für Kinder? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Der Artikel 6 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen normiert in Absatz 1 für jedes Kind das Recht auf Achtung seiner Würde als eigenständige Persönlichkeit und auf besonderen Schutz von Staat und Gesellschaft. Mit dieser verfassungsrechtlichen Verankerung wird in Nordrhein-Westfalen der Schutz von Kindern und Jugendlichen besonders gewürdigt: Kinderschutz ist ein hohes Gut zu dessen Verwirklichung der Staat und die Gesellschaft gleichermaßen beizutragen haben und zwar insbesondere dort, wo die zur Sorge Berechtigten und Verpflichteten ihrem Schutzauftrag nicht gerecht werden. Dabei haben Kinder und Jugendliche ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und den Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Staat und Gesellschaft, so Artikel 6 Abs. 2 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, schützen sie vor Gefahren für ihr körperliches, geistiges und seelisches Wohl. Sie achten und sichern ihre Rechte. Mit Antrag vom 20. März 2013 (Drs.-Nr. 16/2433) forderte die CDU-Landtagsfraktion Nordrhein -Westfalen das Schließen einer Kinderschutz-Lücke im Zusammenhang mit dem interkollegialen Ärzteaustausch. Denn: Wenn Minderjährige bei Kinder- und Jugendärzten, Hausärzten oder in Krankenhäusern zur Behandlung vorgestellt werden und der jeweilige Arzt den Verdacht auf Kindesmisshandlung hegt, ist es derzeit den betroffenen Ärzten grundsätzlich nicht erlaubt, sich ohne Einverständnis der Erziehungsberechtigten und damit möglicherweise der Täter über ihre Befunde und dem hinreichenden Verdacht auf Kindesmisshandlung - wie es beispielsweise praxisorientiert das von Duisburgern Kinder- und Jugendärzten initiierte dateibasierte elektronische Informationssystem für Ärzte RISKID in seiner Version für die deutschlandweite Anwendung ermöglicht - interkollegial auszutauschen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13218 2 Die Anhörung der Sachverständigen erfolgte am 10. Oktober 2013. Dieser Antrag wurde von der Landtagsmehrheit aus SPD und Bündnis `90/DIE GRÜNEN abgelehnt. Infolge der Ergebnisse dieser ersten Anhörung legten die Fraktionen der CDU, der FDP und der PIRATEN mit der Drs.-Nr. 16/4819 vom 22. Januar 2014 einen Gesetzentwurf vor, mit dem die Kinderschutz-Lücke beim interkollegialen Ärzteaustausch geschlossen werden sollte. Die Anhörung von Sachverständigen erfolgte am 30. April 2014. Im Rahmen der zweiten Lesung des Gesetzentwurfes am 6. November 2014 legten dann die Fraktionen von SPD und Bündnis `90/DIE GRÜNEN einen eigenen Antrag mit der Drs.-Nr. 16/7188 vor, da sie aus bis heute nicht erklärten Gründen der Schließung der Kinderschutz- Lücke – wie von CDU, FDP und PIRATEN gewollt – nicht zustimmen konnten oder wollten. In namentlicher Abstimmung lehnten die Abgeordneten von SPD und Bündnis `90/DIE GRÜNEN den Gesetzentwurf von CDU, FDP und PIRATEN ab. Am 13. Mai 2015 beschlossen die Fraktionen der SPD und Bündnis `90/DIE GRÜNEN ihren Antrag mit der Drs.-Nr. 16/7188 und forderten damit die Landesregierung unter anderem auf: Die Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport hat die Kleine Anfrage 5124 mit Schreiben vom 19. Oktober 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter beantwortet. 1. Wird die Landesregierung dem Beschluss der Landtagsmehrheit aus den Fraktionen von SPD und Bündnis `90/DIE GRÜNEN vom 13. Mai 2015 folgen und dem Landtag noch in dieser Legislaturperiode einen Entwurf für ein Gesetz für frühe Hilfen und präventiven Kinderschutz vorlegen? 2. Falls Frage 1 mit „Nein“ beantwortet wird: Warum hat die Landesregierung es nicht geschafft, dass auch im Koalitionsvertrag vom 18. Juni 2012 vereinbarte „Gesetz zum präventiven Kinderschutz“ für die Kinder in Nordrhein-Westfalen auf den Weg zu bringen? Derzeit werden zwei bundesgesetzliche Vorhaben (mit unterschiedlichem Verfahrensstand) diskutiert. Der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes befindet sich in der parlamentarischen Beratung; im Bundesratsverfahren wurden zahlreiche Änderungsanträge beschlossen. Diskutiert wird ferner eine umfangreiche Novellierung des SGB VIII. Das Ergebnis dieser beiden Gesetzgebungsvorhaben kann den bundesrechtlichen Rahmen für landesgesetzliche Regelungen erheblich verändern. Insbesondere die diskutierte Novellierung des SGB VIII würde nach aller Wahrscheinlichkeit in den Ländern Ausführungsgesetze im Kinder- und Jugendhilferecht erfordern, die in einem inhaltlichen und strukturellen Zusammenhang mit niedrigschwelligen und präventiv ausgerichteten Angebotsformen stehen. Daher erscheint ein Gesetzentwurf für Frühe Hilfen und präventiven Kinderschutz zum jetzigen Zeitpunkt nicht sachgerecht . Gleichwohl setzt die Landesregierung mit dem am 12.09.2016 begonnenen Rollout von „Kein Kind zurücklassen – für ganz NRW“ ihre vorbeugende Politik fort, mit der alle Kinder die gleichen Chancen auf ein gelingendes Aufwachsen erhalten sollen. Ausgehend von den positiven Ergebnissen und Erfahrungen des Modellvorhabens „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“ soll die Politik der Vorbeugung nunmehr schrittweise in die Fläche des Landes gebracht werden. „Kein Kind zurücklassen – für ganz NRW!“ verfolgt das Ziel, dass sich LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13218 3 alle Kommunen in Nordrhein-Westfalen die Grundsätze vorbeugender Politik praktisch zu Eigen machen und Kinder, Jugendliche und ihre Familien von der Schwangerschaft und Geburt bis zum Eintritt in das Berufsleben unterstützen. Kommunen und Land arbeiten Hand in Hand in dem gemeinsamen Bestreben, allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen und Zukunftsperspektiven zu eröffnen, und mittel- und langfristig soziale Folgekosten zu minimieren. 3. Wird die Landesregierung ihre Bundesratsinitiative nebst Ergebnissen – wie von der Landtagsmehrheit im Rahmen des Antrages Drs.-Nr. 16/7188 – beschlossen, der Beantwortung dieser Kleinen Anfrage als Anlage beifügen? Im Rahmen der Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes (Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend –BMFSFJ - vom 16.12.2015) wurde u.a. festgestellt , dass die Befugnisnorm (§ 4 Abs. 3 KKG), die es Berufsgeheimnisträgerinnen und - trägern erlaubt, das Jugendamt unter bestimmten Voraussetzungen über Gefährdungen des Kindeswohls zu informieren, verständlicher formuliert werden muss. Außerdem sollten die meldenden Ärztinnen und Ärzte, die nach § 4 Abs. 3 KKG Daten übermitteln, in den Prozess der Gefährdungseinschätzung des Jugendamtes einbezogen werden und auch eine Rückmeldung erhalten. Nach Kenntnis der Landesregierung beabsichtigt das BMFSFJ, die Vorschrift des § 4 KKG bis Ende 2016 zu überarbeiten. Mit dem Antrag der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Kinderschutz geht alle an – Prävention stärken, Zusammenarbeit von Jugend- und Gesundheitshilfe ausbauen“ (Drs. 16/7146) wurde die Landesregierung durch Beschluss des Landtags Nordrhein-Westfalen vom 20.05.2015 aufgefordert zu prüfen, ob eine Form des interkollegialen Austausches von Kinderärztinnen und Kinderärzten unter Datenschutzgesichtspunkten rechtlich zulässig wäre. Der Auftrag für ein solches Rechtsgutachten wurde Ende 2015 vergeben. Die Information des Landtags Nordrhein-Westfalen über die Ergebnisse erfolgt in Kürze. Die Landesregierung wird sich auf dieser Grundlage ggfs. in das Gesetzgebungsverfahren des BMFSFJ einbringen. 4. Inwieweit hat die Landesregierung die Beschlüsse der Landtagsmehrheit zu den Ziffern 3, 4 und 6 umgesetzt (bitte getrennt und mit Aufführung der Ergebnisse)? Zu Ziffer 3: Seit Frühjahr 2016 fördert das MGEPA das dreijährige Modellprojekt „Soziale Prävention in der Kinder- und Jugendarztpraxis“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ). Ziel des Modellprojekts ist die Entwicklung und Erprobung eines systematischen Zugangsmanagements zwischen Arztpraxis und den Angeboten der Frühen Hilfen. Bereits bestehende Programme und Aktivitäten der Landesregierung, die ebenfalls der sozialen Benachteiligung von Familien entgegenwirken, könnten so sinnvoll durch einen Zugang über die Ärzteschaft ergänzt werden. Von zunehmender Bedeutung ist auch die personale Kompetenz insbesondere von Kinderärztinnen und -ärzten. Ihre Fähigkeit, situationssensibel und milieuadäquat mit Familien in Dialog zu treten und sie durch inner- und interprofessionelle Zusammenarbeit zu begleiten, ist mitentscheidend für eine optimale Unterstützung. Daher fördert das MGEPA ein Forschungsprojekt „Entwicklung personaler Kompetenz in der pädiatrischen Vorsorge“. Ziel ist, zusätzlich zu den bislang vorrangig auf beruflicher Erfahrung basierenden persönlichen Fähigkeiten empirisch begründete Kriterien für eine berufsfeldnahe und qualitätsrelevante Förderung der personalen Kompetenz zu entwickeln. Ergebnisse werden Ende 2016 erwartet. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13218 4 Zu Ziffer 4: Die Landesregierung ist im Gespräch mit den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Landesberufsverbänden der Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte, um Übertragungsmöglichkeiten von Ansätzen und Modellen interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Ärzteschaft , Jugendhilfe und „Frühen Hilfen“ zu prüfen. Eine Arbeitsgruppe wird unter Berücksichtigung verschiedener Erfahrungen und Erkenntnisse ein NRW-Gesamtkonzept („Interprofessionelle Qualitätszirkel Frühe Hilfen“) entwickeln, das ab Mitte 2017 modellhaft erprobt werden soll. Die Finanzierung bzw. Vergütung von Leistungen der Ärzteschaft in diesem Zusammenhang kann ggf. durch individuelle Vereinbarungen (z.B. Abschluss von Selektivverträgen zwischen GKV und KV) gelöst werden. Weitere und grundsätzliche Finanzierungsmöglichkeiten von gesundheitsbezogenen Leistungen im Kontext erzieherischer Maßnahmen durch die GKV liegen im Regelungskompetenzbereich des Bundes. Zu Ziffer 6: Im Rahmen eines Arbeitszusammenschlusses, der sich „Kompetenzzentrum Kinderschutz NRW" nennt, treffen sich Forschung und pädagogische Praxis, um praxisorientierte Maßnahmen, Handlungsempfehlungen und Projekte für einen wirksameren Kinderschutz zu entwickeln. Gefördert werden einzelne Projekte durch das Land NRW. Der DKSB Landesverband NRW e.V. arbeitet hier mit dem Institut für soziale Arbeit e.V. (ISA) und der Bildungsakademie BiS eng zusammen. Weitere Organisationen und Personen werden in die Arbeit des Kompetenzzentrums einbezogen. So besteht seit Jahren eine Kooperation mit den beiden Landesjugendämtern Rheinland und Westfalen-Lippe oder auch mit Vertreterinnen und Vertretern des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein- Westfalen. Fakten, Fachpositionen, die Auswertung von Erfahrungen und Erkenntnissen sowie das Planen weiterer Initiativen werden im Rahmen von Kooperationsgesprächen kontinuierlich gesammelt, diskutiert und ausgewertet. Diese Kooperationen sind gerade im Kinderschutz sehr wichtig. Das Kompetenzzentrum erzielte in den letzten Jahren bundesweite Aufmerksamkeit, z. B. mit folgenden Projekten und Veröffentlichungen: Website für Fachkräfte, Kinder, Jugendliche und Eltern: www.kinderschutz-in-nrw.de: Gesellschaftlicher Schutzauftrag für die Entwicklung von Jugendlichen (2011), Kooperativer Kinderschutz. Für ein Zusammenwirken von Gesundheits-, Kinder-und Jugendhilfe (2011), Entwicklung eines kommunalen Berichtswesens in den Jugendämtern zur Qualifizierung des Kinderschutzes (2011), Angebote für Jugendhilfeausschüsse zur Umsetzung des BKiSchG (2012), Rolle und Auftrag der Kinderschutzfachkraft als zentrale Akteurin im Kinderschutz (2012), 10 Empfehlungen zur Ausgestaltung der Rolle der Kinderschutzfachkraft, erstellt (2010) und überarbeitet (2012), Kooperation und Vernetzung im Kinderschutz – Nachhaltigkeit sichern (2013), Qualitätsrahmen Kinderschutz für Kinder in Vollzeitpflege (2013), Modelle der methodischen Aufarbeitung von Kinderschutzfällen und der Praxis im Kinderschutz (2014, 2015), Entwicklung von Qualitätsstandards für Kinderschutzfachkräfte (2014). Qualitätsentwicklung im Kinderschutz – Schulung von Multiplikatoren in Jugendämtern zur Durchführung von Lernwerkstätten (2015/2016). LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13218 5 Mit diesen Vorschlägen und Initiativen konnte der Kinderschutz in den letzten Jahren auf der kommunalen Ebene weiterentwickelt und verbessert werden. Darüber hinaus konnte die Zusammenarbeit an den Schnittstellen der unterschiedlichen Hilfesysteme qualifiziert werden, damit Kinder nicht zwischen den Systemen aus dem Blick geraten. 5. Inwiefern stellt die nun angekündigte und landesseitig unterdotierte Ausdehnung der Landesinitiative „Kein Kind zurücklassen“ eine Kaschierung der Nichterfüllung des Auftrags der Landtagsmehrheit dar? Siehe Antwort zu den Fragen 1 und 2. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/13218