LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/13673 06.12.2016 Datum des Originals: 05.12.2016/Ausgegeben: 09.12.2016 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 5338 vom 14. November 2016 der Abgeordneten Susanne Schneider FDP Drucksache 16/13457 Hat die Landesregierung gegenüber dem Ausschuss ein mutmaßliches Fehlverhalten der AOK Rheinland/Hamburg beim sogenannten „Up-Coding“ verschwiegen? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtet am 11.November 2016, dass ein am Vortag angesetzter Gerichtstermin (AZ: L 5 KR 219/15 KL) vor dem Landessozialgericht Nordrhein -Westfalen für ein Verfahren zwischen dem Bundesversicherungsamt (BVA) und der AOK Rheinland/Hamburg zu mutmaßlichen Fehlkodierungen abgesetzt wurde, da die AOK offenbar den Bescheid des BVA akzeptiert habe. Demnach würde die AOK nicht nur zu viel erhaltene 5,6 Millionen Euro, sondern auch einen Strafzuschlag von 1,4 Millionen Euro zurückzahlen. Hintergrund sind die Auswirkungen möglicher Fehlkodierungen auf die Verteilung der Mittel aus dem Gesundheitsfonds an die einzelnen Krankenkassen. Die Zuweisung der Mittel aus dem Gesundheitsfonds wird u. a. durch den Morbi-RSA (morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich ) beeinflusst. Nach dem Morbi-RSA wird bei der Verteilung der Mittel der Versorgungsbedarf für 80 ausgewählte schwere und chronische Erkrankungen berücksichtigt. Zurzeit werden etwa 200 Milliarden Euro im Jahr an die noch rund 120 gesetzlichen Krankenkassen ausgeschüttet. Die Verteilungswirkung bezogen auf Kassenarten bzw. einzelne Krankenkassen ist dabei sehr umstritten. Im konkreten Fall habe die AOK, wie die FAZ aus Vorlagen des Gerichts zitiert, „im Zusammenwirken mit den Kassenärztlichen Vereinigungen und ausdrücklicher Billigung durch die Aufsichtsbehörde auf die Vertragsärzte in Nordrhein und Hamburg hingewirkt, die Diagnosen bei der Behandlung von AOK-Versicherten nachträglich derart zu ergänzen, dass die Versicherten kränker werden.“ Dadurch habe die AOK zu Lasten anderer Krankenkassen zu hohe Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erhalten. In der Vorlage 16/4386 des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen 4386 für den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13673 2 28. Oktober 2016 führt die Landesregierung aus, „dass keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass konkret falsche Diagnosen verschlüsselt werden, um Patientinnen und Patienten auf dem Papier kränker zu machen (sogenanntes Up-Coding).“ Auf einen Bescheid des BVA gegenüber der AOK Rheinland/Hamburg und das zu dem Zeitpunkt noch ausstehende Gerichtsverfahren wird in der Vorlage hingegen nicht eingegangen Die Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter hat die Kleine Anfrage 5338 mit Schreiben vom 5. Dezember 2016 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Die Berichterstattung in den Medien geht auf eine Terminankündigung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG) zurück, die irreführend war, weil der Eindruck erweckt wurde, die AOK Rheinland/Hamburg (AOK) habe auf Ärztinnen und Ärzte eingewirkt, mit dem Ziel, durch Diagnosekorrekturen die Patientinnen und Patienten auf dem Papier kränker zu machen als sie tatsächlich sind. Gegenstand dieses Verfahrens war keinesfalls das derzeit bundesweit öffentlich diskutierte „Upcoding“ von Diagnosen (Versicherte werden bei der Kodierung kränker gemacht als sie sind). Vielmehr ging es um die Möglichkeit der nachträglichen Korrektur einer zunächst fehlerhaften oder nicht ausreichend dokumentierten Diagnose, was im Zusammenhang mit einer Arzneimittelverordnung zu Regressforderungen gegenüber Ärztinnen und Ärzte führen könnte. Beispielhaft wurden Fälle aufgegriffen, in denen Insulin verordnet wurde, ohne dass eine gesicherte Diagnose Diabetes verschlüsselt wurde. Für solche Fälle, in denen eine Arzneimittelverordnung in der Regel zwingend eine bestimmte Diagnose voraussetzt, hat das Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter (MGEPA) dem geplanten Verfahren zur Wirtschaftlichkeitsprüfung zugestimmt. Dabei werden die Daten durch die Krankenkasse aufbereitet. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung selbst wird durch die dafür bundesgesetzlich zuständige Gemeinsame Prüfungsstelle nach § 106 Abs. 4 SGB V durchgeführt und von dieser allen Krankenkassen angeboten. Dieses Verfahren wurde vorab mit dem MGEPA abgestimmt und als zulässig angesehen. Wichtig war dem MGEPA dabei, dass eine Diagnosekorrektur nur mit ausdrücklicher Zustimmung der im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen auffällig gewordenen Ärztinnen und Ärzte erfolgen darf. Die Entscheidung über die Korrektur oder Ergänzung der ursprünglichen Kodierung oblag damit allein dem jeweiligen Arzt bzw. der Ärztin. Ziel des Prüfverfahrens war danach keinesfalls, Patientinnen und Patienten auf dem Papier kränker zu machen als sie sind, sondern falsche Diagnosen zu korrigieren bzw. fehlende Diagnosen zu ergänzen. Damit sollte indirekt auch die Diagnosequalität insgesamt verbessert werden. Streitgegenstand war dagegen vor allem die Frage, ob es zulässig ist, die nachträglich geänderten Kodierungen in Form einer grundsätzlich zulässigen Korrekturmeldung an das Bundesversicherungsamt zu übermitteln mit entsprechenden Folgen für den Risikostrukturausgleich (RSA) und die Zuweisungen an die Krankenkassen. Zu dieser Frage hat sich das MGEPA nicht positioniert, da dies in erster Linie Aufgabe des Bundesversicherungsamtes als zuständiger Stelle für den RSA ist und keine aufsichtsrechtliche Frage. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13673 3 Ergänzend wird noch darauf hingewiesen, dass die AOK die Klage mit dem Hinweis zurückgenommen hat, dass sich die Beteiligten des Verfahrens außergerichtlich geeinigt haben. 1. Seit wann hat die Landesregierung Kenntnis von einem Bescheid des Bundesversicherungsamtes gegenüber der AOK Rheinland/Hamburg bzw. vom genannten Gerichtsverfahren? Das MGEPA ist durch die AOK stets zeitnah unterrichtet worden. So hat die AOK das MGEPA bereits am 23.03.2015 über den Eingang des Bescheides des Bundesversicherungsamtes (BVA) vom 18.03.2015 informiert. Zum Klageverfahren ist das MGEPA mit Beschluss des LSG vom 02.03.2016 beigeladen worden. Die Beiladung erfolgte vor dem Hintergrund, dass das Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung mit dem MGEPA abgestimmt war. 2. Aus welchen Gründen ist in diesem Fall die für die AOK Rheinland/Hamburg eigentlich zuständige Fachaufsicht des Landes nicht tätig geworden, sondern vielmehr das Bundesversicherungsamt? Das MGEPA ist als zuständige Rechtsaufsicht (nicht Fachaufsicht) für die AOK und die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) sowie die von den Krankenkassen und KVNO getragenen Prüfungsstelle bereits im Vorfeld der Umsetzung des betreffenden kassenartenübergreifenden Verfahrens zur Abrechnungs-/Wirtschaftlichkeitsprüfung eingebunden worden . Für ein Einschreiten der Aufsicht bezogen auf die eigentliche Wirtschaftlichkeitsprüfung bestand insoweit keine Veranlassung. Das BVA ist hier nicht als Aufsichtsbehörde, sondern als durchführende Stelle für den RSA tätig geworden. Dem BVA ist mit dem § 273 SGB V die „Sicherung der Datengrundlage für den Risikostrukturausgleich“ übertragen worden. In diesem Zusammenhang hat das BVA die Datenmeldungen der Krankenkassen zu prüfen. Auf Grund dieser Aufgabenstellung hat das BVA die Korrekturmeldungen der AOK beanstandet. Wie dem Jahresbericht 2015 des BVA zu entnehmen ist, hat das BVA im Jahre 2015 bei insgesamt 50 Kassen entsprechende Prüfungen eingeleitet und in sechs Fällen Korrekturbescheide aufgrund von Verfahren nach § 273 SGB V erlassen. 3. Wie bewertet die Landesregierung den zugrunde liegenden Sachverhalt des Verfahrens des Bundesversicherungsamtes gegenüber der AOK Rheinland/Hamburg zu mutmaßlichen Fehlkodierungen? Die Landesregierung hält das bisher praktizierte Verfahren der Wirtschaftlichkeits-/Abrechnungsprüfung an sich nach wie vor für rechtlich zulässig. Die weitere Frage, ob nachträgliche Korrekturmeldungen zum RSA zulässig sind, ist letztlich aufgrund der Klagerücknahme nicht abschließend geklärt worden. Die Landesregierung hält eine möglichst gesetzliche Klarstellung hierzu jedoch für notwendig. Der Bundesrat hat daher bereits im Rahmen der parlamentarischen Beratungen zum GKV- Versorgungsstärkungsgesetz - GKV-VSG eine gesetzliche Klarstellung gefordert, dass Korrekturmeldungen bei fehlerhaften oder unvollständigen Daten – auch soweit sie aus Wirtschaftlichkeits - und Abrechnungsprüfungen resultieren - zulässig sind (Bundesratsdrucksache LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/13673 4 641/14 (Beschluss)). Damit wäre für alle Krankenkassen Rechtssicherheit geschaffen worden; leider hat die Bundesregierung dies abgelehnt. 4. Wieso hat die Landesregierung in der Vorlage 16/4386 für den Ausschuss für Arbeit , Gesundheit und Soziales das Verfahren des Bundesversicherungsamtes gegenüber der AOK Rheinland/Hamburg nicht erwähnt und stattdessen behauptet, dass keine Informationen über Manipulationen vorliegen? Die im Zuge des Berichts für den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Vorlage 16/4386) getroffene Feststellung, dass der Landesregierung keine Erkenntnisse darüber vorliegen , dass konkret falsche Diagnosen verschlüsselt werden, um Patientinnen und Patienten auf dem Papier kränker zu machen (so genanntes Up-Coding), ist nach wie vor zutreffend. 5. Wie bewertet die Landesregierung das Verhalten der AOK Rheinland/Hamburg im Hinblick auf den Wettbewerb der Krankenkassen? Die Landesregierung setzt sich weiter für einen fairen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ein. Daher hat Nordrhein-Westfalen z.B. die Frage des aufsichtsrechtlichen Umgangs mit den sogenannten Betreuungsstrukturverträgen der Krankenkasse in die regelmäßig tagende Arbeitsgruppe der Aufsichtsbehörden des Bundes und der Länder (§ 90 Abs. 4 SGB IV) eingebracht. Ziel ist es, eine gemeinsame rechtliche Bewertung herbeizuführen, ob und ggfls. unter welchen Bedingungen entsprechende Verträge rechtlich zulässig sind und auf dieser Basis eine einheitliche Aufsichtspraxis abzustimmen. Auf den o.g. Bericht an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales (16/4386) wird verwiesen. Auch bei dem Verfahren zur Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungsprüfung hinsichtlich der Arzneimittelverordnungen hat das MGEPA stets Wert darauf gelegt, dass die für die Durchführung des Verfahrens zuständige Gemeinsame Prüfungsstelle dieses Verfahren für alle Krankenkassen und Kassenarten öffnet. Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/13673