LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/14621 23.03.2017 Datum des Originals: 22.03.2017/Ausgegeben: 28.03.2017 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 5638 vom 22. Februar 2017 des Abgeordneten Matthias Kerkhoff CDU Drucksache 16/14312 Windkraft / Neues Helgoländer Papier Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Westfalenpost berichtet in ihrer Ausgabe vom 11.02.2017 im Regionalteil Brilon darüber, dass der Verwaltungsgerichtshof München das sogenannte „neue Helgoländer Papier“ als allgemein anerkannten Standard hinsichtlich des Vogelschutzes anerkannt habe. Damit sei nach einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes der NRW-Leitfaden über Mindestabstände obsolet. Das „Helgoländer Papier“ gehe von Abständen zu Brutgebieten des Schwarzstorchs von 3000 Metern, von Brutgebieten des Rotmilans von 1500 Metern und von Brutgebieten des Haselhuhns von 1000 Metern aus. Der Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz hat die Kleine Anfrage 5638 mit Schreiben vom 22. März 2017 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Wie bewertet die Landesregierung das „(neue) Helgoländer Papier“? Das „Helgoländer Papier“ ist ein Fachgutachten, das von der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (LAG-VSW) erarbeitet wurde und bundesweite Empfehlungen zur Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen (WEA) hinsichtlich des Vogelschutzes formuliert. Eine erste Veröffentlichung des „Helgoländer Papiers“ aus dem Jahr 2007 ist nach 2011 fortgeschrieben und im April 2015 veröffentlicht worden. Das „Helgoländer Papier“ hat einen rein empfehlenden Charakter ohne Verbindlichkeit für die Bundesländer. Eine spezielle „Länderöffnungsklausel“ beinhaltet einen Prüfauftrag an die Bundesländer. Demnach steht es den Bundesländern offen, aufgrund der unterschiedlichen naturräumlichen Gegebenheiten, der Flächennutzung sowie des vorkommenden Artenspektrums die Empfehlungen der LAG-VSW den landesspezifischen Gegebenheiten anzupassen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/14621 2 Das neue „Helgoländer Papier“ stellt auch keine Vorschrift gemäß § 6 Absatz 1 Nummer 2 Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) dar, die als „andere öffentlich-rechtliche Vorschrift “ einer Genehmigung von WEA entgegenstehen könnte. In diesem Sinne besitzt das Papier keinerlei Bindungswirkung für die Genehmigungs- und Fachbehörden bei der Durchführung der Artenschutzprüfung (ASP). Das neue „Helgoländer Papier“ wurde im Jahr 2013 in einer weit fortgeschrittenen Entwurfsfassung bereits bei der Erarbeitung des nordrhein-westfälischen Leitfadens „Umsetzung des Arten- und Habitatschutzes bei der Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen in Nordrhein-Westfalen“ (November 2013) (im Folgenden: NRW-Leitfaden) mit einbezogen. Die fachlichen Einschätzungen und Empfehlungen des Papiers werden auch aktuell bei der derzeit laufenden Evaluation und Fortschreibung des NRW-Leitfadens Art für Art geprüft und wo erforderlich an die landesspezifischen Gegebenheiten in Nordrhein-Westfalen angepasst. 2. Wie bewertet die Landesregierung das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs München ? Im Freistaat Bayern regelte bis Mitte des Jahres 2016 der Bayerische WEA-Erlass aus dem Jahr 2011 die Durchführung der ASP im Rahmen von Genehmigungsverfahren. Dort wurde mit den Prüfradien aus der alten Version des Helgoländer Papiers (2007) gearbeitet. In dem angesprochenen Urteil des VGH München vom 29.03.2016 (Az. 22 B 14.1875) geht es um die Fragestellung, ob in einem konkreten Fall der Wert aus dem alten WEA-Erlass für den Rotmilan (1.000 m) als allgemein anerkannter Stand der Wissenschaft anzusehen ist, oder aber der Wert für den Rotmilan aus dem neuen „Helgoländer Papier“ (1.500 m) betrachtet werden muss. In Abarbeitung des Prüfauftrages der LAG-VSW an die Bundesländer hatte sich der Freistaat Bayern aufgrund der spezifischen Situation in Bayern nachträglich für die Übernahme des neuen Wertes entschlossen. In Nordrhein-Westfalen stellt sich die Situation dagegen anders dar: Bei der Erarbeitung des NRW-Leitfadens im Jahr 2013 wurde bereits auf eine unpublizierte Entwurfsfassung des neuen „Helgoländer Papiers“ (Stand: 2013) zurückgegriffen. In dieser war schon die Erhöhung des empfohlenen Abstandes zu Rotmilanbruten auf 1.500 m vorgesehen. Begründet wurden die 1.500 m durch die LAG-VSW mit einer noch nicht publizierten Telemetriestudie von Pfeiffer & Meyburg, was insofern fachlich nicht nachvollziehbar war. In Kenntnis dieses neuen Wertes hatte sich das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW (LANUV) im Rahmen seiner artenschutzfachlichen Einschätzungsprärogative und aufgrund der spezifischen Situation und der Kenntnisse in Nordrhein-Westfalen für den 1.000 m-Wert entschieden. Die überprüfbaren und im NRW-Leitfaden zitierten Daten legen nahe, dass beim Rotmilan, neben einer individuell sehr großen Schwankungsbreite, im Mittel 50 % der registrierten Flugbewegungen in einem Radius von ca. 1.000 m um den Horst stattfindet. Vor diesem Hintergrund hatte sich das LANUV seinerzeit bewusst für einen abweichenden Radius von 1.000 m entschiedenen. Unabhängig von der artspezifischen Diskussion ist darauf hinzuweisen, dass die „Mindestabstände “ im Sinne der LAG-VSW in Nordrhein- Westfalen keineswegs als Tabuzonen angesehen werden, sondern lediglich die Radien für die Abgrenzung eines Untersuchungsgebietes liefern. Diese Ansicht ist inzwischen mehrfach durch verschiedene Verwaltungsgerichtsurteile bestätigt worden. So hat auch das VGH München in seiner Entscheidung vom März 2016 festgestellt, dass bei Lage eines Brutplatzes innerhalb des engeren Prüfbereichs um eine WEA eine „widerlegliche Vermutung für das Bestehen eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos im Sinne von § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG“ gilt. Dies gelte ungeachtet des Umstandes, dass dieser Prüfabstand in den Abstandsempfehlungen der LAG-VSW als „Mindestabstand“ bezeichnet werde. Mit Bezug auf diese Rechtsprechung hat sich aktuell das VG Aachen im September 2016 (6 L 38/16) zum Verhältnis des neuen „Helgoländer Papiers“ (2015) zum NRW-Leitfaden (2013) geäußert. Das Gericht stellt fest, dass die im NRW-Leitfaden aufgestellten Anforderungen an LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/14621 3 die Ermittlung artenschutzrechtlich ggf. entscheidungserheblicher Umstände als ein „antizipiertes Sachverständigengutachten von hoher Qualität“ anzusehen sind, da sie auf landesweiten fachlichen Erkenntnissen und Erfahrungen beruhen. Hiervon dürfe auch angesichts der artenschutzfachlichen Einschätzungsprärogative nicht ohne fachlichen Grund und ohne gleichwertigen Ersatz abgewichen werden. 3. Welche Folgen ergeben sich daraus für die Windkraftplanung des Landes? Die Vorgehensweise des Landes Nordrhein-Westfalen wird durch das Urteil des VGH München nicht in Frage gestellt sondern vielmehr bestätigt. Der NRW-Leitfaden bleibt behördenverbindlich für die Ermittlung artenschutzrechtlich ggf. entscheidungserheblicher Umstände in WEA-Planungen und -Genehmigungen in Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen der derzeit laufenden Evaluation des NRW-Leitfadens wertet das LANUV alle neueren Veröffentlichungen und Untersuchungsergebnisse zu den windenergieempfindlichen Arten aus, die sich nach Veröffentlichung des neuen „Helgoländer Papiers“ im April 2015 in der Fachdiskussion als beste wissenschaftliche Erkenntnisse etabliert haben. Hieraus können sich bei der Fortschreibung des NRW-Leitfadens weitere landesspezifische Anpassungen bezüglich der Angaben im „Helgoländer Papier“ ergeben. 4. Teilt die Landesregierung die Einschätzung des Helgoländer Papiers hinsichtlich der Abstände zu den o.g. Brutgebieten? Für den Schwarzstorch und das Haselhuhn kann die Einschätzung des neuen „Helgoländer Papieres“ bestätigt werden. Hier gibt es keine Unterschiede zwischen altem und neuem Helgoländer Papier und dem geltenden NRW-Leitfaden. Für den Rotmilan liegt zwischenzeitlich die Studie von Pfeiffer & Meyburg publiziert vor (2015). Eine generelle Anhebung des Radius beim Rotmilan von 1.000 m auf 1.500 m lässt sich für Nordrhein-Westfalen alleine durch diese Daten jedoch weiterhin nicht begründen. Im Rahmen der laufenden Evaluation des NRW-Leitfadens werden die Ergebnisse dieser Studie im Zusammenhang mit den bereits geprüften Daten aus anderen Studien bewertet. Die Studie von Pfeiffer & Meyburg wurde im Thüringer Becken durchgeführt; eine generelle Übertragbarkeit der Ergebnisse aus dieser großflächigen Ackerbaulandschaft in einem der trockensten Räume Deutschlands auf grünlandgeprägte Mittelgebirgsstandorte wie in Nordrhein-Westfalen ist fachlich nicht möglich. Zu beachten ist hierbei außerdem, dass die LAG-VSW lediglich mit sehr groben 500 m-Klassen arbeitet, der NRW-Leitfaden jedoch auf konkrete Werte in den jeweiligen Originalarbeiten fokussiert. 5. Wenn ja, was bedeutet dies für die Windkraftplanung im Hochsauerlandkreis? Aktuell bestehen keine Zweifel an der Rechtssicherheit der NRW-Methodik bezüglich der Untersuchungsgebiets -Abgrenzung. Bis zur Fortschreibung des NRW-Leitfadens wird empfohlen , weiter auf der Grundlage des bestehenden NRW-Leitfadens zu planen und zu genehmigen . Von diesen Vorgaben sollte auch angesichts der artenschutzfachlichen Einschätzungsprärogative des LANUV grundsätzlich nicht abgewichen werden. Eine Übertragbarkeit anderer Regelungen oder Leitfäden aus anderen Regionen oder aus anderen Bundesländern Deutschlands auf die Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen wird von der Landesregierung abgelehnt.