LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/14746 03.04.2017 Datum des Originals: 31.03.2017/Ausgegeben: 06.04.2017 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 5643 vom 25. Februar 2017 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/14331 Unterrichtserteilung durch „Reichsbürger“ im öffentlichen Schulbetrieb in Essen – Warum unternimmt die grüne Schulministerin bislang nichts gegen die schon seit über drei Jahren bekannten Zustände? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Das Berufskolleg West ist eine öffentliche berufsbildende Schule in der Stadt Essen, die unmittelbar am Westbahnhof gelegen ist, und die Bildungsgänge Berufliche Grundbildung, Fachklassen im Dualen System der Berufsausbildung, Höhere Berufsfachschule sowie Technisches Gymnasium und Fachschule für Technik anbietet. Den Schwerpunkt dieser Schule bilden also traditionell technische Bildungsangebote. Fachlich nicht zu den Unterrichtsinhalten passend und nicht kompatibel mit den Werten des Grundgesetzes fällt im offiziellen Unterrichtsgeschehen nach Aussage mehrerer Zeugen bereits seit über drei Jahren ein Lehrer auf, der offenbar der merkwürdigen Gedankenwelt der Reichsbürger nahesteht. Glaubwürdige Schülerbeschwerden, die in diesem Zusammenhang die Landespolitik erreicht haben, stellen sich nach gründlichen Recherchen und Zeugenbefragungen vorläufig wie folgt dar: Das erste bis heute nachvollziehbare Ereignis liegt bereits drei Jahre zurück. Schon Ende 2013 haben sich Schüler nach eigenen Angaben bei der Schulleitung beschwert, dass der Fachlehrer in einer Klasse die These vertreten habe, Deutschland sei kein Staat, daher sei seine Heimat Preußen. Vor diesem Hintergrund habe er zugleich erstaunten Schülern den Ratschlag gegeben, Strafzettel besser nicht zu bezahlen. Sie könnten solche Strafzahlungen problemlos vermeiden, wenn sie darauf hinweisen würden, es gebe doch bei den Stellen auf Absenderseite gar kein legitimes Hoheitsgebiet, für das derlei Forderungen mit Berechtigung gestellt werden könnten. Am besten sollten die Schüler von sogenannten Behörden eine Gründungsurkunde des Staates verlangen, die ihnen keiner vorlegen könne und werde. Dann hätte sich der Fall erledigt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/14746 2 Schüler haben diesen bemerkenswerten Vorfall offenbar auch Teilen des Lehrerkollegiums vorgetragen, so dass mehreren Personen dort die Berichte bekannt sein dürften. Eine tatsächliche Einstellungs- oder Verhaltensänderung habe jedoch offenbar danach nicht stattgefunden. Auch in der Folgezeit halten sich innerhalb der Schulgemeinde hartnäckig Berichte über vergleichbare Vorkommnisse. Dafür spricht auch der Umstand, dass mehrere Schüler als Augenzeugen versichern, der betreffende Lehrer hätte mit umgedrehtem Kennzeichen an seinem eigenen Fahrzeug auf dem Schulparkplatz geparkt. Anfang des Jahres 2016 wiederholen sich wohl die bemerkenswerten „Unterrichtsinhalte“, falls man diese ernsthaft so bezeichnen kann. Ausgerechnet in einer Fachklasse für Schutz und Sicherheit, also für angehende Wachdienstkräfte, für die Sachverhalte der öffentlichen Ordnung von besonderer Bedeutung sind, soll von dem Lehrer wieder einmal die Auffassung vertreten worden sein, es gebe keine öffentlichen Straßen. Er soll in diesem Zusammenhang auch die Schüler aufgefordert haben, ihre eigenen Kennzeichen herumzudrehen und keine Zinsen zu bezahlen. Als Pädagoge müsse er außerdem davor warnen, dass Handys die „Waffen der Nato“ seien. Mehrere Schüler sagen dazu aus, sie hätten den Sachverhalt der Schulleitung mit Bitte um weitere Veranlassung ebenfalls gemeldet. Eine sichtbare Konsequenz oder zumindest Reaktion auf die neuerlichen Vorfälle ist in der Schulgemeinde nicht bekannt. Im Gegenteil sorgt es dort für eine nachhaltige Verwunderung, dass der mit den Vorwürfen konfrontierte Lehrer ausgerechnet noch von der Schulministerin für jedermann ersichtlich im Internet und auch in Fachpublikationen als einer der wenigen Ansprechpartner gerade für die Förderung der beruflichen Kompetenzentwicklung und die Messung des Kompetenzerwerbs in der beruflichen Bildung genannt wird. Die Landesregierung beschreibt das Projekt mit der Bezeichnung KOMET, an dem der Betroffene namentlich beteiligt ist, im Wortlaut wie folgt: „Ausgehend von der Schwerpunktfestlegung auf den Bereich der dualen Berufsausbildung soll damit ein wesentlicher Beitrag zum Qualitätsmanagement und zur Qualitätsentwicklung des dualen Ausbildungssystems und damit auch der Fachkräftesicherung im Land geleistet werden.“ Ein möglicherweise den Reichsbürgern nahestehender Lehrer als von der Landesregierung auch noch angepriesener Ansprechpartner für Qualitätsentwicklung in der Berufsbildung und Fachkräftesicherung – sollten sich die obigen Vorwürfe erhärten, wäre das nur allzu grotesk. Auf Nachfrage beim Schulleiter dieses Essener Berufskollegs lehnt dieser jede inhaltliche Stellungnahme und Diskussion über die gravierenden Vorwürfe gegenüber einer Lehrkraft seiner Schule ab und verweist für alle weiteren Auskünfte an die Landesbehörden. Auch der ausdrücklichen Bitte, die zuvor berichteten Darstellungen verschiedener Schüler klar als „Fake News“ zu dementieren, kommt er leider nicht nach. Die Motivlage und Handlungsweise von Personen, die sich als Reichsbürger bezeichnen oder diesen nahestehen, mag unterschiedlich sein. Fakt ist jedoch, dass es gerade in den letzten Monaten in diesem Bereich auch zu gravierenden Straftaten gekommen ist und das Land offiziell versichert, gegen das Treiben von Reichsbürgern vorzugehen. Dazu passt die jahrelange Lethargie im Verantwortungsbereich der grünen Schulministerin jedenfalls nicht. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/14746 3 Erst unlängst hat der Innenminister die Angaben zum Personenpotential der Reichsbürger im Zeitraum von 2014 bis 2016 von einst 200 bis 300 auf nunmehr 1.000 in Nordrhein-Westfalen erhöht (siehe LT-Vorlage 16/4744). In einem weiteren Bericht an den Landtag (siehe LT- Vorlage 16/4516) tätigt er auszugsweise folgende Feststellungen im Wortlaut: „Die Szene befindet sich außerdem in einem steten Wandel. (…) Die Zahl kann sich durch die weitere Aufhellung des Dunkelfelds allerdings noch erhöhen. (…) Bereits im Januar 2015 hat der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen ein Informationsschreiben mit konkreten Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Reichsbürgern, z. B. sich nicht auf rechtliche Diskussionen einzulassen und konsequentes Verhalten an den Tag zu legen, allen Ressorts zukommen lassen. (…) Zum schnelleren und besseren Informationsaustausch mit den Kommunen hat der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen daneben einen speziellen Ansprechpartner eingesetzt." Die angekündigten Maßnahmen haben bislang offenbar in dem vorliegenden Fall noch nicht zu erkennbaren Aktivitäten geführt. Bewiesen sind die Vorwürfe aus der Schulgemeinde noch nicht. Aber die Indizienlage ist stark genug, um von der grünen Schulministerin eine klare Darlegung zu diesem Sachverhalt und ihrem weiteren Umgang mit dieser Problematik parlamentarisch einzufordern. Insbesondere ist auch für die Essener Schülerschaft und die Bevölkerung von Interesse, ob Anhaltspunkte für die Betätigung von Reichsbürgern über den aktuellen Verdachtsfall hinaus bei der Landesregierung bestehen. Wenn schon die betroffene Schulleitung nicht bereit ist, zeitnah für die gebotene Aufklärung zu sorgen, haben Parlament und Öffentlichkeit umso mehr ein Anrecht auf vollständige und wahrheitsgemäße Unterrichtung durch die Landesregierung, die in dieser Angelegenheit mehr als geboten erscheint. Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 5643 mit Schreiben vom 31. März 2017 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales und dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Mit der kleinen Anfrage wird der Fall eines Lehrers an einem Essener Berufskolleg, der der „Reichsbürgerbewegung“ angehören soll, thematisiert. Reichsbürger und Selbstverwalter sind Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen, unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren und deshalb bereit sind, Verstöße gegen die Rechtsordnung zu begehen. Dieser heterogenen Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter ist gemeinsam die fundamentale Ablehnung des Staates und seiner gesamten Rechtsordnung. Wegen extremistischer Bestrebungen werden Reichsbürger und Selbstverwalter deshalb von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet, auch wenn sie nur zum Teil dem Rechtsextremismus zugeordnet werden können. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/14746 4 Jede im öffentlichen Dienst tätige Person ist – unabhängig von der Art ihres Beschäftigungsverhältnisses – verpflichtet, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu bekennen. Dies geschieht in der Form des Diensteides gem. § 46 des Landesbeamtengesetzes Nordrhein-Westfalen (LBG) bzw. durch ein entsprechendes Gelöbnis gem. § 3 des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L). Soweit eine Person nachweislich nicht (mehr) für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintritt, kann diese im Einzelfall – auch vorläufig – aus dem Dienst entfernt werden. Bei Beamtinnen und Beamten ist dies im Rahmen einer Disziplinarklage mit dem Ziel der Entfernung aus dem Dienst möglich. Bei Tarifbeschäftigten ist eine Kündigung im Rahmen der arbeitsrechtlichen Vorgaben erforderlich. Im Vorfeld kann eine Suspendierung bzw. Freistellung vom Dienst ausgesprochen werden. Im Übrigen gilt, dass Maßnahmen nur dann getroffen werden können, wenn es konkrete Anhaltspunkte gibt, die ein solches Vorgehen rechtfertigen. Dieser Maßstab gilt selbstverständlich auch für Lehrerinnen und Lehrer. 1. Welche schulrechtliche Vorschrift verbietet es dem Schulleiter des Berufskollegs, trotz derart gravierender Vorwürfe für transparente Sachaufklärung gegenüber Politik und Öffentlichkeit zu sorgen? Die Pflicht zur Verschwiegenheit, insbesondere in Personalangelegenheiten, resultiert aus den allgemeinen Dienstpflichten des Schulleiters. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) haben Beamtinnen und Beamte über die ihnen bei oder bei Gelegenheit ihrer amtlichen Tätigkeit bekannt gewordenen dienstlichen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu bewahren. Daraus folgt im Interesse der Sachaufklärung, dass sich eine Schulleitung nicht ungefragt in Personalfragen an die Politik oder Öffentlichkeit wenden darf, zumal wenn es sich – wie hier – um ein laufendes Verfahren handelt. Ansprechpartner ist im vorliegenden Fall die obere Schulaufsicht. 2. Konkret welche einzelnen der in obiger Sachverhaltsdarstellung getätigten Aussagen aus der Schulgemeinde kann die Schulministerin zur allgemeinen Beruhigung hoffentlich als unzutreffend dementieren? (vollständige und ausführliche Sachverhaltsdarstellung der Landesregierung über ihren Kenntnisstand und den ihrer Behörden in dieser Angelegenheit erbeten) Bei allem Verständnis für das berechtigte Interesse an der Sachverhaltsaufklärung muss darauf hingewiesen werden, dass es sich um ein laufendes Verfahren handelt, für das aus Gründen des Personaldatenschutzes Vertraulichkeit gilt. Die weitere Sachverhaltsermittlung obliegt nunmehr allein der zuständigen Bezirksregierung im Rahmen des eingeleiteten Disziplinarverfahrens, das nicht öffentlich ist (vgl. auch Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 5573 vom 08.03.2017, LT-Drs. 16/14426). Äußerungen aus der Schulgemeinde werden im Rahmen der Ermittlungen zu würdigen sein und in das Ergebnis einfließen. Der Ausgang dieser Prüfungen bleibt abzuwarten. Dies habe ich im Rahmen der parlamentarischen Fragestunde auch transparent gemacht. 3. Welche Konsequenzen werden vom Schulministerium ergriffen, wenn Lehrkräfte über Jahre und im Wiederholungsfalle ihre deutliche Distanz zum deutschen Staat und Grundgesetz offenbaren (wie beispielsweise durch Leugnung der staatlichen Existenz, Aufforderung zur Nichtbezahlung behördlicher Strafmandate und Zinsen etc.)? Vgl. Vorbemerkungen LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/14746 5 4. Seit jeweils welchem Datum ist der obige Reichsbürger-Vorwurf aus dem Essener Schulunterricht den jeweiligen Stellen der Schulaufsicht des Landes, inklusive der Schulministerin persönlich, erstmals bekannt geworden? Im Rahmen der Berichterstattung zu dem aktuellen Fall in Essen ist der konkrete Vorwurf – Mitglied der „Reichsbürgerbewegung“ –erstmalig Ende Februar 2017 dem Ministerium für Schule und Weiterbildung und auch mir bekannt geworden. Das Ministerium hat daraufhin unverzüglich die zuständige Bezirksregierung eingeschaltet, die ihrerseits sofort konkrete Maßnahmen ergriffen hat, nachdem sie den Sachverhalt ermittelte. Frühere Äußerungen der Lehrkraft, die einen Bezug zu der seinerzeit in dieser Form noch nicht bekannten „Reichsbürgerbewegung“ nicht erkennen ließen, wurden auf der Ebene der zuständigen Bezirksregierung geprüft und hatten konkrete Maßnahmen zur Folge. 5. Konkret welche einzelnen Handlungen sind von den jeweiligen Stellen, bitte unter Nennung des jeweiligen Veranlassungsdatums, bislang zur Problemlösung tatsächlich im vorliegenden Fall und bei ggf. vergleichbaren Sachverhalten an anderen Schulen in der Stadt Essen vorgenommen worden? Der betroffene Beamte wurde durch Verfügung der Bezirksregierung Düsseldorf vom 03.03.2017 unverzüglich vom Dienst suspendiert, nachdem sich der Vorwurf verdichtet hatte, er gehöre der „Reichsbürgerbewegung“ an. Die Mitarbeit des Betroffenen an dem Projekt KOMET ist beendet. Er wird seit Mitte März nicht mehr als Ansprechpartner auf der Internetseite des Projektes aufgeführt. Insgesamt sind fünf Fälle aktenkundig geworden, in denen Sachverhalte ermittelt wurden, bei denen der Verdacht einer Nähe zur „Reichsbürgerbewegung“ bestand. In zwei Fällen bestätigten sich die Vorwürfe nicht. In den weiteren Fällen wurden die in den Vorbemerkungen dargestellten dienst- und arbeitsrechtlichen Maßnahmen ergriffen. Weitere Fälle an Essener Schulen – wie der Fall, der den Anlass zu dieser kleinen Anfrage gab, – sind dem Schulministerium nicht bekannt.