LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/15038 19.05.2017 Datum des Originals: 19.05.2017/Ausgegeben: 24.05.2017 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 5885 vom 13. April 2017 der Abgeordneten Yvonne Gebauer FDP Drucksache 16/14876 Sind tatsächlich keine materiell-rechtlichen Änderungen durch den Erlass „Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler“ erfolgt? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Das Ministerium für Schule und Weiterbildung hat Mitte 2016 einen geänderten Erlass „Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler“ in Kraft gesetzt. Nicht nur die Opposition, sondern auch viele Lehrerverbände haben die Änderungen scharf kritisiert, weil hierdurch Kinder und Jugendliche ohne oder mit nur ausnehmend rudimentären Deutschkenntnissen verstärkt unmittelbar in Regelklassen eingegliedert werden sollen. Rückmeldungen aus Kommunen und Schulen zeigen nun, dass genau diese damaligen Warnungen mitnichten unberechtigt waren. Besonders fragwürdig haben sich im Zusammenhang mit der Debatte um diesen Erlass insbesondere die das Ministerium für Schule und Weiterbildung „innehabenden“ Grünen eingelassen. Bemerkenswerterweise unterschieden sich innerhalb weniger Tage in Interviews die inhaltlichen Aussagen der zuständigen Schulministerin jeweils darin, was denn nun genau geändert worden sei. So erklärte die Ministerin z.B. laut Presse zum neuen Erlass: „Es liegt in der Entscheidung der Schulen.“ Insbesondere von den Grünen wurde darüber hinaus auch gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit explizit behauptet, dass es keine rechtlich-materiellen Änderungen gegeben habe. Als die Opposition eine Änderung der Tagesordnung herbeiführen wollte, um über diese Frage zu diskutieren, erklärte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen als Begründung der Ablehnung einer Änderung der Tagesordnung durch die regierungstragenden Fraktionen: „Sie kennen offensichtlich den vorherigen Erlass nicht. Der Erlass ändert nur in einem einzigen Punkt etwas: Er vereinheitlicht Begriffe.“ (Plenarprotokoll 16/119). Des Weiteren wurde hier gegenüber dem Parlament behauptet, es habe sich „substanziell und materiell nichts verändert“. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/15038 2 Tatsächlich aber wurde mit dem neuen Erlass nicht nur die Gruppe der vom Anwendungsbereich des Erlasses betroffenen Schüler abweichend von der bisherigen Lage bestimmt, sondern die bisherigen Vorbereitungsklassen wurden zu einem nachrangigen Instrument gegenüber den neu geschaffenen Sprachfördergruppen herabgestuft, dessen Einrichtung allein von einem Ermessen der Schulaufsichtsbehörde abhängig ist. Damit sieht die Neufassung des Erlasses den Besuch des Regelunterrichts außerhalb der Sprachförderung für alle Schüler ohne Beherrschung der notwendigen Deutschkenntnisse als Regelfall an. Hiermit liegt eben sehr wohl eine erhebliche Abweichung vom bisherigen Rechtszustand vor. Interessant ist nun von der rot-grünen Landesregierung zu erfahren, inwieweit die seinerzeit getroffenen Aussagen, die ja offenkundig auch von der zuständigen Fachministerin mitgetragen wurden, haltbar sind. Nicht zuletzt das zuständige Ministerium für Schule und Weiterbildung muss rechtliche Änderungen zu dem vorherigen Erlass bewerten können. Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 5885 mit Schreiben vom 19. Mai 2017 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Da nach der Neufassung der Oberbegriff der „Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“ entfallen ist und stattdessen in Gestalt „neu zugewanderter Schüler“ lediglich noch auf die bisherige Untergruppe der Schüler mit mangelnden Sprachkenntnissen abgestellt wird, die Neufassung aber zugleich bestimmt, dass nunmehr die Schüler der (bisherigen) Untergruppe ohne hinreichende Sprachkenntnisse „in der Regel“ die Regelklasse besuchen (Nr. 2.1 der Neufassung): Aus welchen Gründen liegt aus Sicht der Landesregierung darin keine gewichtige materielle Änderung der Erlasslage vor, denn diese Schüler wurden nach Nr. 2.1 der alten Erlassfassung ja zunächst gerade den Vorbereitungsklassen und nicht den Regelklassen zugewiesen? Der Erlass vom 21.12.2009 trug den Titel „Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“, da er nicht nur den grundlegenden Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler regeln sollte, sondern außerdem auch den herkunftssprachlichen Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler mit einer internationalen Familiengeschichte regelte. Dabei konnte der Eindruck entstehen, als richtet sich der Teil für den Unterricht neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler an alle Schülerinnen und Schüler mit internationaler Familiengeschichte. Um Klarheit zu schaffen, wurde daher der bisherige Erlass in zwei Erlasse aufgeteilt, einen Erlass für den „Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler“ und einen zweiten Erlass für „Herkunftssprachlichen Unterricht“. Auch nach dem Erlass vom 21.12.2009 sollten gemäß Nummer 1.1 die Schülerinnen und Schüler grundsätzlich vorrangig Regelklassen besuchen und am gesamten Unterricht teilnehmen. Ausdrücklich hieß es in dem Einleitungstext des Erlasses vom 21.12.2009: „Der gemeinsame Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Zuwanderungsgeschichte schafft gegenseitiges Verständnis und leistet einen besonderen Beitrag für die schulische und gesellschaftliche Integration der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte. Darum hat ein gemeinsamer Unterricht Vorrang von jeder getrennten Form.“ LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/15038 3 In Nummer 1.3 regelte der Erlass vom 21.12.2009: „Klassen, die ausschließlich von Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte besucht werden, sollen grundsätzlich vermieden werden. Sie dürfen von der Schulaufsichtsbehörde nur in besonders gelagerten Einzelfällen zugelassen werden. (…) In jedem Fall sind gemeinsame Veranstaltungen mit Regelklassen durchzuführen.“ Nur wenn die Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler in der deutschen Sprache die Teilnahme am Unterricht einer Regelklasse noch nicht ermöglichten, konnten bei Bedarf Vorbereitungsklassen eingerichtet werden. Der Erlass vom 21.12.2009 formuliert in Nummer 2.1 das Ziel: „Ziel der Vorbereitungsklasse ist die schnellstmögliche Eingliederung der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte in die ihrem Alter oder ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende Regelklasse.“ Aus diesen Gründen kam es mit dem Erlass vom 28.6.2016 zu keiner materiell rechtlichen Änderung in Bezug auf die vorrangige Zuweisung von neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler in Regelklassen. 2. Aus welchen Gründen handelt es sich aus Sicht der Landesregierung um keine materiell-rechtliche Änderung, wenn der in zeitlicher Hinsicht bisher das gesamte Unterrichtsspektrum umfassende Vollständigkeitsanspruch der Vorbereitungsklassen mit der Neufassung aufgegeben wurde, da die Förderung in der deutschen Sprache nach der Neufassung (nur noch) in „innerer oder äußerer Differenzierung“ (Nr. 2.2.1 neu) durchgeführt wird, wobei im Falle der äußeren Differenzierung eine sog. Sprachfördergruppe gebildet werden kann, deren zeitlicher Unterrichtsumfang lediglich 10 – 12 Wochenstunden entspricht (Nr. 2.2.3 und 2.2.4 neu)? Gemäß der Definition in Nummer 2.2.3 des Erlasses vom 28.6.2016 wird unter einer Sprachfördergruppe ausschließlich die Förderung der deutschen Sprache in einer äußeren Differenzierung verstanden, die in der Regel zehn bis zwölf Wochenstunden umfasst. Auch nach dem Erlass vom 21.12.2009 umfasste eine Deutschförderung einen identischen Zeitrahmen (Nummer 2.4 Satz 3). Die im Erlass vom 21.12.2009 aufgeführten Vorbereitungsklassen entsprechen im Erlass vom 28.6.2016 den Klassen zur vorübergehenden Beschulung (Nummer 2.3). In diesen Klassen erhalten die Schülerinnen und Schüler wie nach dem Erlass vom 21.12.2009 auch Unterricht im Umfang des Zeitrahmens der für die Schulform und die Jahrgangsstufe geltenden Stundentafel. Da sich in der Praxis eine Vielzahl unterschiedlicher Bezeichnungen etabliert hatte, z.B. auch Internationale Klassen, Willkommensklassen, regelt Nummer 2.4 des Erlasses vom 28.6.2016, dass die Schulleitung über die Bezeichnung der Sprachfördergruppen bzw. Klassen entscheidet. 3. Da sich die Einrichtung von Vorbereitungsklassen zuvor allein nach einem tatsächlichen Bedarf richtete und damit bei dessen Feststellung zwingend war (Nr. 2.1 Satz 1 alt) und nun die Einrichtung von „Klassen zur vorübergehenden Beschulung“ im Ermessen der Schulaufsichtsbehörde (Nr. 2.3 Satz 1 neu) steht: Aus welchen Gründen erkennt die Landesregierung hier keine relevante rechtliche Änderung, wenn das im neuen Erlasstext nicht mehr genannte Bestehen eines Bedarfs im Vergleich zum vorherigen Erlass letztlich zu einem Kriterium der Ermessensausübung herabgestuft wurde, das nicht zwingend die Einrichtung einer „Klasse zur vorübergehenden Beschulung“ zur Folge haben muss? LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/15038 4 In Nummer 2.3 Satz 1 des Erlasses vom 28.6.2016 heißt es: „Wenn die Aufnahme der Schülerinnen und Schüler in einer Regelklasse nicht möglich ist, kann die Schulaufsichtsbehörde zeitlich befristet an einer Schule Klassen zur vorübergehenden Beschulung einrichten.“ Sollte die vollständige Aufnahme in eine Regelklasse nicht möglich sein, kann auch hier weiterhin der Bedarf bestehen, Klassen zur vorübergehenden Beschulung einzurichten, ohne dass die Norm das Wort „Bedarf“ ausdrücklich verwendet. Grund hierfür ist Folgender: Der Erlass vom 21.12.2009 regelte nur den Schulbesuch von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen in eigenen Klassen. Andere Formen des Schulbesuchs, die sich vor Ort bewährt haben, wurden nicht erfasst, waren in der Praxis jedoch vorhanden. Daher war es erforderlich, die Vielfalt der bewährten Möglichkeiten in ihrer Gänze abzubilden. Zentral ist für die Weiterentwicklung des Erlasses, dass er ein Ziel benennt und gleichzeitig Möglichkeiten eröffnet, dieses auf verschiedenen Wegen zu erreichen. Damit wird gute gelebte Praxis der letzten Jahrzehnte in den Schulen in die Regelungen aufgenommen. Der Wortlaut des Erlasses vom 28.6.2016 erkennt die o.g. Alternativformen der Beschulung nun ausdrücklich an. Damit wird zudem sichergestellt, dass vorrangig gegenüber einer Einrichtung von Klassen zur vorübergehenden Beschulung andere Möglichkeiten anzustreben sind, die Schülerinnen und Schüler entsprechend in einer Schule unterzubringen. Infolgedessen kommt es mit der Änderung des Erlasstextes zu keiner rechtlichen Veränderung. Der neue Wortlaut verdeutlicht lediglich, dass Klassen zur vorübergehenden Beschulung erst mangels anderer Möglichkeiten eingerichtet werden sollen. 4. Da nach der Regelung im ursprünglichen Erlass (Nr. 2.2) die Entscheidung über die Zuweisung eines Schülers zu einer Vorbereitungsklasse die Schulaufsichtsbehörde auf Vorschlag des Schulleiters traf, so dass die Entscheidung über die Einrichtung der Vorbereitungsklasse der die Klasse tragenden Schule selbst überlassen war, ist dies für „Klassen zur vorübergehenden Beschulung“ nicht mehr der Fall. Diese werden allein durch die Schulaufsicht eingerichtet (Nr. 2.3 Satz 1 neu). Somit bestehen die Befugnisse der Schulleitung nach der Neufassung nur noch darin, Sprachfördergruppen einzurichten (Nr. 2.2.6 Satz 1), wobei die Schulaufsicht in diesen Organisationsakt durch Einrichtung schul- und schulformübergreifender Sprachfördergruppen eingreifen kann (Nr. 2.2.6 Satz 2 neu): Inwieweit ist aus Sicht der Landesregierung juristisch demnach die presseöffentliche Behauptung der Schulministerin zutreffend, wonach „es“ in der „Entscheidung der Schulen“ liege? Bei den Klassen gemäß 2.3 des Erlasses vom 28.06.2016 muss eine Vielzahl Schülerinnen und Schüler, die in der Schulentwicklungsplanung noch nicht berücksichtigt werden konnten, zur Sicherung der Erfüllung der Schulpflicht zügig in das Schulsystem eingegliedert werden. Dabei geht es, ähnlich wie bei der Bildung einer „Überhang-“ oder „Mehrklasse nicht um die Erhöhung der Zügigkeit einer Schule auf Dauer. Im Unterschied zum Normallfall der Mehrklassenbildung erfolgt die Notwendigkeit der Klassenbildung dabei jedoch nicht auf Initiative der Schule zu Beginn eines Schuljahres aufgrund vorliegender Anmeldungen, sondern unterjährig in dem Moment, wo eine Eingliederung in vorhandene Klassen nicht mehr möglich ist. Gewöhnlich geht dies mit der Zuweisung nach § 46 SchulG, für die die Schulaufsicht zuständig ist, einher. Es ist daher sinnvoll, solche Klassen durch die Schulaufsicht einrichten zu lassen, die sich dazu mit Schule und Schulträger abstimmt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/15038 5 Dieser Sachverhalt wird in dem Erlass vom 28.06.2016 beschrieben. Die dort genannte Verfahrensweise entspricht der auch in der Vergangenheit geübten Praxis, insofern ist damit eine Rechtsänderung nicht verbunden.“ 5. Bestätigt die Landesregierung nach ihrer juristisch-inhaltlichen Bewertung die Behauptung, der „Erlass ändert nur in einem einzigen Punkt etwas: Er vereinheitlicht Begriffe.“ (wenn nein, bitte aufschlüsseln, wo dort sowohl juristisch als auch inhaltlich Änderungen zwischen den beiden Erlasslagen gesehen werden)? Ja.