LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/1613 04.12.2012 Datum des Originals: 03.12.2012/Ausgegeben: 07.12.2012 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 606 vom 5. November 2012 des Abgeordneten Dirk Schatz PIRATEN Drucksache 16/1307 Tatsächliche, langfristige Wirkung der sog. „Blitzmarathons“ – Teil 1 Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 606 mit Schreiben vom 3. Dezember 2012 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Vor kurzem fand nun der dritte sogenannte Blitzmarathon in diesem Jahr statt. Diese Marathons sind ein Baustein der Aktion „Brems Dich – rette Leben!“, deren Ziel es sein soll, u.a. durch verstärkte Kontrollen die Autofahrer zu gemäßigter Fahrweise zu animieren und dadurch letztlich die Zahl der Verkehrsunfalltoten zu reduzieren. Auch wenn das beabsichtigte Ziel und mehr Geschwindigkeitskontrollen insgesamt selbstverständlich zu begrüßen sind, ist der tatsächliche, langfristige Effekt dieser konkreten Maßnahme auch unter Fachleuten zumindest umstritten. Infolge dessen kann auch deren Verhältnismäßigkeit (Verhältnis: Aufwand /Erfolg) in Frage gestellt werden. Teilweise publizierte Auswertungen und Meinungen von Fachleuten (so z.B. in der SZ vom 24.10.2012 oder in der WZ vom 25.10.2012) zeigen auf den ersten Blick, dass an den jeweiligen Aktionstagen zwar tatsächlich eine gemäßigtere Fahrweise an den Tag gelegt wurde, aber an den übrigen Tagen des Jahres überhaupt kein Effekt zu verzeichnen war, die Autofahrer also wieder genauso fuhren, als habe es diese Marathons nie gegeben. Mal abgesehen davon, dass dieser augenscheinliche Effekt des gemäßigteren Fahrens wohl nur an den jeweiligen Kontrollstellen geschätzt werden konnte und dieser Effekt dort auch keineswegs verwunderlich ist, da sowohl die Kontrollaktion als solche, als auch die einzelnen Kontrollstellen öffentlich bekannt waren, sagen diese Werte nichts darüber aus, wie sich das Fahrverhalten der Verkehrsteilnehmer an den anderen Stellen abseits der vorher bekannten Kontrollstellen darbot. Außerdem unterscheiden sowohl die Verkehrsunfallstatistik als auch die Landesregierung bei Unfällen aufgrund von überhöhter Geschwindigkeit gar nicht, aufgrund welcher Faktoren LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1613 2 der Unfall genau zustande kam. Schon aus diesem Grund kann gar nicht geklärt werden, wie effektiv diese Art der Kontrolle im Verhältnis zum angestrebten Zweck überhaupt ist, oder ob, anstatt Geld für derartige Aktionen auszugeben, dieses Geld lieber in entsprechende Schulungen für Fahranfänger investiert werden sollte. Vorbemerkung der Landesregierung Für die Landesregierung hat die Verkehrssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein -Westfalen (NRW) eine sehr hohe Priorität. Besondere Bedeutung kommt dabei der Verkehrssicherheitsarbeit der Polizei zu. Jährlich sterben bundesweit rund 4.000 Menschen im Straßenverkehr, im Jahr 2011 allein 634 in NRW. Gemeinsam mit den Polizeibehörden wurde daher 2011 eine neue Fachstrategie "Verkehrsunfallbekämpfung" entwickelt, die im Wesentlichen auf Erfahrungen der Experten aus den Polizeibehörden sowie Erkenntnissen der Wissenschaft basiert. Handlungsleitend waren hierbei u. a. folgende Erkenntnisse:  95 Prozent aller Unfälle gehen auf teilweise bewusstes Fehlverhalten - auf Regelverstöße - von Menschen zurück und sind damit auch vermeidbar. An erster Stelle der Regelverstöße steht dabei die überhöhte bzw. nicht angepasste Geschwindigkeit .  Eine Senkung des Geschwindigkeitsniveaus um zwei km/h kann innerorts zu einem Rückgang bei den Verunglücktenzahlen um bis zu 15 Prozent führen.  Intensivere Geschwindigkeitskontrollen in Verbindung mit breit angelegter offensiver Öffentlichkeitsarbeit (z. B. Veröffentlichung der Messstellen in Medien und Internet ) verbessern nachweislich die Verkehrssicherheit. Ziel ist eine nachhaltige Verhaltensveränderung bei den Verkehrsteilnehmern, damit sich möglichst alle an die bestehenden Regeln - insbesondere zur Geschwindigkeit - halten. Dies ist der wirksamste Schutz gerade für die schwächsten Verkehrsteilnehmer (Fußgänger und Radfahrer). Die Unfallursache "Geschwindigkeit" und insbesondere die daraus resultierenden schweren Unfallfolgen sind Problemstellungen in allen Kreispolizeibehörden und bilden sich entsprechend in deren Sicherheitsprogrammen ab. Die neue Fachstrategie "Verkehrsunfallbekämpfung " und die landesweite Kampagne "Brems Dich - rette Leben!"  bilden einen übergeordneten Rahmen und wecken (u. a. durch die große überregionale Medienberichterstattung) in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für die hohen Opferzahlen durch die Hauptunfallursache Geschwindigkeit. Hierdurch werden die Maßnahmen der Kreispolizeibehörden zur Senkung des Geschwindigkeitsniveaus vor Ort wirkungsvoll unterstützt.  ermöglichen den Kreispolizeibehörden bei ihrer täglichen Verkehrssicherheitsarbeit eine deutlich größere Wirkung und einen flexibleren und Ressourcen schonenderen Einsatz (z. B. "Radar ohne Anhalten"). Die "24-Stunden-Blitz-Marathons“ am 10./11. Februar, 3./4. Juli und 24./25. Oktober 2012 sind wesentlicher Bestandteil dieser Kampagne. Diese landesweiten koordinierten Einsätze aller 47 Polizeibehörden unter Beteiligung von fast allen zuständigen Kommunen waren sehr erfolgreich. Beim "24-Stunden-Blitz-Marathon I" kontrollierte die Polizei rund eine halbe Million Verkehrsteilnehmer, von denen über 17.000 zu schnell fuhren. Für mehr Sicherheit und weniger Verkehrstote waren insgesamt fast 3.000 Polizistinnen und Polizisten an 1.400 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1613 3 Messstellen eingesetzt. Beim "24-Stunden-Blitz-Marathon II" wurde auf Vorschlag aus den Kreispolizeibehörden eine neue Komponente hinzugefügt. Erstmalig wurden die Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, ihrer Polizei sog. Wutpunkte zu benennen, an denen gerast wird. Mehr als 15.000 Menschen haben der Polizei mitgeteilt, wo sie sich oder ihre Kinder durch Raser gefährdet sehen und Messstellen vorgeschlagen. 3.300 Beamtinnen und Beamte haben an 3.142 Messstellen - davon 2.673, die von Bürgerinnen und Bürgern vorgeschlagen wurden - ca. 645.000 Verkehrsteilnehmer überprüft; 22.000 fuhren zu schnell. Der "24- Stunden-Blitz-Marathon III" ging für mehr Verkehrssicherheit und weniger Verkehrstote über die Grenzen NRW hinaus. Da überhöhte bzw. nicht angepasste Geschwindigkeit als Hauptursache vor Ländergrenzen nicht Halt macht, wurden erstmalig mit Niedersachsen und den Niederlanden gemeinsam Geschwindigkeitsmessungen durchgeführt. Allein in NRW haben 3.500 Beamtinnen und Beamte an 3.335 Messstellen ca. 700.000 Verkehrsteilnehmer überprüft ; 24.278 fuhren zu schnell. Gemeinsam mit Niedersachsen und NRW wurden 820.000 Fahrzeuge überprüft, von denen 30.000 zu schnell waren. Folgende Einsatzerfahrung bestätigt die polizeiliche Strategie: an "normalen“ Kontrolltagen fahren bis zu acht Prozent der Autofahrer zu schnell. Beim ersten "Blitz-Marathon" waren es ca. vier Prozent, bei den beiden folgenden jeweils ca. drei Prozent. Genau das ist das Ziel der neuen Strategie. Transparenz und Veröffentlichung und mehr Kontrollen bewirken positive Verhaltensänderungen und führen dazu, dass sich die Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten. Die Medien berichteten bereits Tage zuvor in großem Umfang über die Einsätze. Die Berichterstattung war dabei überwiegend positiv. Mit dieser breiten Medienresonanz ist es gelungen, die Öffentlichkeit für das Thema "Verkehrssicherheit" und die schwerwiegenden Folgen regelwidrigen Verhaltens nachhaltig zu sensibilisieren. Wie die Unfallentwicklung in den ersten drei Quartalen des Jahres 2012 zeigt, sind die Kreispolizeibehörden mit der Umsetzung der neuen Fachstrategie auf einem guten Weg. Rund 15,4 Prozent weniger getötete Verkehrsteilnehmer (-73) als im gleichen Zeitraum des Vorjahres sind ein ermutigendes Zwischenergebnis. Statistisch lässt sich nicht belegen, welchen Anteil die verstärkten Polizeikontrollen daran haben. Die öffentliche Diskussion um die "24-Stunden-Blitz-Marathons" hat aber sicherlich landesweit sehr vielen Verkehrsteilnehmern die Gefahren regelwidrigen Verhaltens bewusst gemacht und damit einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Verkehrssicherheit geleistet. Mit der neuen Fachstrategie "Verkehrsunfallbekämpfung" und der Kampagne "Brems Dich - rette Leben!" steht den Kreispolizeibehörden des Landes ein umfassendes Konzept mit präventiven und repressiven Elementen zur weiteren Verbesserung der Verkehrssicherheit zur Verfügung. Dieses stellt sicher, dass in den Kreispolizeibehörden an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr wirksam und nachhaltig sowohl auf landesweite als auch behördenspezifische Problemlagen bei der Verkehrsunfallbekämpfung zeitgerecht und lageangemessen reagiert werden kann. Die Maßnahmen erfahren dabei nicht nur eine breite Unterstützung in der Bevölkerung und den Medien, sondern auch eine überwiegende Zustimmung durch Experten der Wissenschaft sowie eine große Anerkennung durch Gewerkschaften, durch Fach- und Interessenverbände und durch Polizeien anderer Länder, die bereits eine Übernahme wesentlicher Inhalte der Fachstrategie prüfen bzw. bereits umgesetzt haben. Dies vorangestellt beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1613 4 1. In der Unfallstatistik 2011 des Landes NRW ist ein hoher Anteil an Verkehrstoten verzeichnet, der auf die Unfallursache "Geschwindigkeit" zurückzuführen ist. Ist dies bei diesen Unfällen stets die alleinige Unfallursache oder spielen auch andere Faktoren bei diesen Unfällen eine Rolle? Dabei interessiert es mich insbesondere, welche sonstigen Faktoren bei wie vielen Unfällen im Einzelnen eine Rolle spielten (beispielsweise Geschwindigkeit in Kombination mit Alkohol) und wie die letztlich maßgebliche Unfallursache festgestellt wurde (beispielsweise durch Gutachten). Im Jahr 2011 wurden in NRW 634 Menschen im Straßenverkehr getötet und fast 14.000 schwerverletzt. Bei den Getöteten ist die Unfallursache "Geschwindigkeit" mit 37 % (238 Getötete ) die Hauptunfallursache Nr. 1. Bei den Schwerverletzten beträgt der Anteil 23 % und nimmt auch hier den 1. Platz ein. Neben der jeweiligen Hauptursache können noch bis zu zwei weitere Ursachen erfasst werden. Die zahlenmäßig häufigsten weiteren Unfallursachen bei Verkehrsunfällen mit Getöteten waren Andere Fehler beim Fahrzeugführer = 62 Alkoholeinfluss beim Fahrzeugführer = 29 Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot = 13 Ungenügender Sicherheitsabstand = 7 Benutzung der falschen Fahrbahn = 7 Einfluss von Drogen/Medikamenten = 4 Die Unfallursache wird in aller Regel im Rahmen der qualifizierten Verkehrsunfallaufnahme durch die Polizeibeamtinnen und -beamten festgestellt. Eine Überprüfung und ggf. Korrektur erfolgt (z. B. nach Gutachten) durch die Sachbearbeitung in den zuständigen Fachkommissariaten der Direktionen Verkehr der Kreispolizeibehörden. Über die Frage der Unfallursache hinaus ist für die fachstrategische Ausrichtung der Verkehrssicherheitsarbeit der Polizei in Nordrhein-Westfalen entscheidend, dass die Geschwindigkeit maßgeblich die Unfallfolge bestimmt. 2. Bei wie vielen der in Frage 1 Satz 1 genannten Unfälle kam der entsprechende Unfall aufgrund tatsächlich überhöhter Geschwindigkeit (verglichen mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit der jeweiligen Unfallstelle) zustande? Im Ursachenverzeichnis für die Verkehrsunfalldatei Nordrhein-Westfalen (VUD NRW) wird bei der Ursache "Geschwindigkeit" differenziert nach "nicht angepasster Geschwindigkeit" (Ursache 12) und "nicht angepasster Geschwindigkeit bei gleichzeitigem Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit" (Ursache 13). Bei den insgesamt 238 aufgrund der Ursache "Geschwindigkeit " tödlich verunglückten Verkehrsteilnehmern wurde in 65 Fällen die Ursache 13 festgestellt. 3. Bezugnehmend auf Frage 2 frage ich weiterhin: Bei wie vielen war eine nicht an- gepasste Geschwindigkeit (z.B. aufgrund der Witterungslage) ausschlaggebend ? In 173 Fällen wurde die Ursache 12 festgestellt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/1613 5 4. In der Verkehrsunfallstatistik NRW 2011 ist lediglich ausgeführt, dass durchschnittlich alle 14 Std. ein Mensch in NRW im Verkehr stirbt. Die durchschnittliche Häufung entspricht jedoch selten der tatsächlichen. Eine gesonderte Auflistung danach, in welchen Monaten wie viele Unfälle mit Todesopfern stattgefunden haben, konnte ich der Statistik nicht entnehmen. Daher frage ich, in welchen Monaten wie viele Verkehrsunfälle mit Todesopfern aufgrund von überhöhter Geschwindigkeit (Unfälle aus Frage 2 und 3 insgesamt) stattgefunden haben? Die monatliche Verteilung der Anzahl der durch die Ursache "Geschwindigkeit" zu Tode gekommenen Verkehrsteilnehmer ist der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen: Land NRW 2011 Anzahl der Toten aufgrund der Ursache Geschwindigkeit nach Monaten Anzahl der Toten Anteil in % Januar 18 7,56 Februar 12 5,04 März 22 9,24 April 20 8,40 Mai 22 9,24 Juni 23 9,66 Juli 21 8,82 August 20 8,40 September 12 5,04 Oktober 22 9,24 November 21 8,82 Dezember 25 10,50 Gesamt 238 100,00