LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/2542 08.04.2013 Datum des Originals: 05.04.2013/Ausgegeben: 11.04.2013 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 952 vom 1. März 2013 des Abgeordneten Kai Abruszat FDP Drucksache 16/2234 Wie lassen sich die Folgen der neueren BFH-Rechtsprechung zu Beistandsleistungen in einem robusten Mehrwertsteuersystem lösen? Der Finanzminister hat die Kleine Anfrage 952 mit Schreiben vom 5. April 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales, dem Justizminister , der Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien, dem Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr, der Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung und dem Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Das europäische Umsatzsteuersystem bedarf einer intensiven Überarbeitung. Auch angesichts der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem) wird das EU-Umsatzsteuerrecht den Anforderungen an ein Europa mit offenen Grenzen und Märkten nicht gerecht. Unterschiedliche Nachweispflichten in den Mitgliedstaaten, verschiedene Formen der Vorsteuererstattung , diverse Registrierungsanforderungen oder unterschiedliche Regelungen für ermäßigte Steuersätze begünstigen eine intransparente Mehrwertsteuerhandhabung und erzeugen einen erheblichen Bürokratieaufwand bei Exporten in den europäischen Binnenmarkt . Aufgrund dessen hat die EU-Kommission im Jahr 2010 mit dem Grünbuch „Über die Zukunft der Mehrwertsteuer“ (KOM(2010) 695 endg.) einen Konsultationsprozess dazu eingeleitet, wie das EU-Regelwerk an die Ansprüche eines funktionierenden Binnenmarktes mit einem einfachen, robusten und effizienten Mehrwertsteuersystem angepasst werden könnte. Im Dezember 2011 hat die Europäische Kommission in einer Mitteilung „Zur Zukunft der Mehr- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/2542 2 wertsteuer“ (KOM(2011) 851 endg.) ihren Zeitplan für die nötige Reform des EUMehrwertsteuersystems vorgelegt. Vor diesem Hintergrund muss sich auch jeder Ansatz bewähren können, die Folgen der gegenwärtig drohenden umsatzsteuerlichen Belastung interkommunaler Zusammenarbeit abzuwenden (vgl. dazu die Kleine Anfrage 857 vom 25.01.2013, LT-Drs. 16/1989, und die Antwort der Landesregierung darauf vom 25.02.2013, LT-Drs. 16/ 2189). Am 10.01.2013 hat die Generaldirektion Steuern und Zollunion der EU-Kommission (TAXUD ) zudem eine für sie erstellte Untersuchung von Copenhagen Economics „Studie über Umsatzsteuer im öffentlichen Sektor und Steuerbefreiungen im öffentlichen Interesse“ (Final Report for TAXUD/2011/DE/334) vorgelegt. Die EU-Studie analysiert und wägt die Fragen ab, die bei der jetzigen mehrwertsteuerlichen Behandlung von öffentlichen Stellen und durch Tätigkeiten entstehen, die im öffentlichen Interesse durchgeführt werden. Sie zeigt mögliche Lösungen für die Zukunft – also die anstehende Überarbeitung des EUMehrwertsteuersystems – auf und schätzt Auswirkungen ab. Das Petitum von Copenhagen Economics geht dabei in die Richtung - Streichung des Art. 13 MWSt-Systemrichtlinie, - volle USt-Besteuerung für alle Tätigkeiten (ggf. reduzierte Sätze für wenige Teilbereiche ) bei voller Vorsteuerabzugsfähigkeit und - flächendeckende Einführung von Refund-Systemen in den Mitgliedstaaten, um so den öffentlichen Einheiten die Erstattung der USt-Definitivbelastung zu ermöglichen (und damit im Effekt Outsourcing-Potentiale zu heben). Dies könnte ein tragfähiger Ansatz sein, wettbewerbspolitische Ansätze (sog. level playing field) mit dem Interesse von Bund, Ländern und Kommunen an einer unbehinderten Zusammenarbeit aller öffentlichen Stellen untereinander zu vereinen. Wie ein zu diesem Zweck zu konzipierendes deutsches Umsatzsteuererstattungssytem aussehen könnte, lässt sich der bekannten, im Jahr 2012 publizierten Ausarbeitung von Prof. Desens und Dr. Hummel, Universität Leipzig, entnehmen (Desens/Hummel, Umsatzsteuerdefinitivbelastung bei Körperschaften des öffentlichen Rechts – Wirkungen – Verfassungsrechtliche Würdigung - Reformvorschläge , StuW 2012, S. 225 bis 241). Für den Fall, dass eine Lösung der Frage der umsatzsteuerlichen Behandlung der öffentlichen Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen über die Übertragung der vergaberechtlichen Definition der Wettbewerbssituation (Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [EuGH], Urt. v. 19.04.2007, Rs. C-295/05 [Asemfo/Tragsa], Urt. v. 13.11.2008, Rs. C-324/07 [Coditel], Urt. v. 09.06.2009, Rs. C-480/06 [Stadtreinigung Hamburg] und Urt. v. 19.12.2012, Rs. C-159/11 [Azienda Sanitaria Locale di Lecce]) auf das Umsatzsteuerrecht nicht möglich sein sollte, haben sich – wie dem Landtag bekannt ist – auch die kommunalen Spitzenverbände dafür ausgesprochen, den Weg der Sicherstellung einer kommunalscharfen Neutralisierung der umsatzsteuerlichen Wirkung über Einräumung eines selbst zu verrechnenden , kommunalindividuellen Ausgleichsanspruchs, ggf. unter Verlagerung der Steuerschuld (sog. Reverse-Charge-Verfahren) zu gehen (Schreiben der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände NRW an das FM NRW vom 12.02.2013, beim FM NRW geführt unter dem Az. S 7106 - 117 - V A 4). Auch die auf Initiative u. a. des nordrhein-westfälischen Finanzministers durch die Finanzministerkonferenz (FMK) im November 2012 gebildete länderoffene Arbeitsgruppe der Staatssekretäre zur Klärung offener Fragen im Zusammenhang mit der Besteuerung der öffentlichen Hand behandelt diesen Lösungsweg als Rückfalllinie. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/2542 3 Obwohl dies nach dem Gemeinsamen Thesenpapier der Länder Niedersachsen und Brandenburg zur ersten Sitzung der Staatssekretärsarbeitsgruppe vom 12.12.2012 exakt auf Grundlage der v. g. Ausarbeitung von Desens/Hummel geschieht, trägt die Landesregierung vor, nicht erkennen zu können, wie eine solche Lösungsoption gestaltet werden könnte (vgl. dazu die Antwort der Landesregierung vom 25.02.2013 auf die Kleine Anfrage 857, LT-Drs. 16/ 2189). Vorbemerkungen der Landesregierung Die Auswirkungen der neuen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes auf die bisherige Verwaltungspraxis, Beistandsleistungen zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts nicht der Umsatzsteuer zu unterwerfen, werden derzeit von einer von der Finanzministerkonferenz eingesetzten länderoffenen Arbeitsgruppe der Finanzstaatssekretäre geprüft und erörtert. Dabei werden auch Alternativen außerhalb des Steuerrechts, z. B. Tax-RefundSysteme , geprüft. Auch im Rahmen der Diskussion auf EU-Ebene über eine Modernisierung des Mehrwertsteuerrechts werden derzeit Vorschläge zu einer Neugestaltung der Besteuerung der öffentlichen Hand erörtert. Hierzu hat die EU-Kommission zwei Studien von Copenhagen Economics erstellen lassen. Diese Studien stellen verschiedene Lösungsansätze vor. Neben einer Vollbesteuerung der öffentlichen Hand wird eine flächendeckende Einführung von RefundSystemen mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen dargestellt. Die Diskussionen befinden sich allerdings noch im Anfangsstadium. Mit kurzfristigen Entscheidungen ist nicht zu rechnen . Die Landesregierung steht dazu, den Kommunen einen möglichst großen Handlungsspielraum durch effektiveres Verwaltungshandeln, insbesondere im Rahmen interkommunaler Zusammenarbeit, zu ermöglichen. Sie wird sich daher für Planungssicherheit der Kommunen im Bereich der interkommunalen Zusammenarbeit einsetzen. 1. Wie verlaufen die Arbeiten der durch Beschluss der FMK vom 08.11.2012 gebil- deten länderoffenen Arbeitsgruppe der Staatssekretäre zur Klärung offener Fragen im Zusammenhang mit der Besteuerung der öffentlichen Hand (Zeitpunkte der Sitzungen, Teilnehmer, behandelte bzw. zur Behandlung vorgesehene Gegenstände , Arbeitsplan, Einschätzung der Landesregierung zu den einzelnen behandelten bzw. zur Behandlung vorgesehenen Gegenständen)? Die Arbeitsgruppe hat sich am 12.12.2012 zu einer ersten konstituierenden Sitzung zusammengefunden . Die nächste Sitzung findet am 11.04.2013 statt. Ständige Mitglieder der Arbeitsgruppe sind die Länder Brandenburg (Federführung), Bayern (Koordinator gemäß FMK-Beschluss vom 14.02.2013), Hessen, Niedersachsen, NordrheinWestfalen und Schleswig-Holstein. Darüber hinaus steht die Teilnahme allen Ländern offen. Auch der Bund soll – insbesondere wegen der vielfältigen unionsrechtlichen Bezüge - zu der nächsten Sitzung eingeladen werden. In der konstituierenden Sitzung fand ein erster Meinungsaustausch statt. Es wurde beschlossen , dass - sich die Arbeitsgruppe nicht nur der steuerlichen Fragestellungen, sondern auch der haushaltspolitischen und finanzverfassungsrechtlichen Probleme annimmt, LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/2542 4 - der FMK der Entwurf eines BMF-Schreibens zur Veröffentlichung der einschlägigen BFHUrteile mit fünfjähriger Nichtbeanstandungsfrist vorgelegt wird, - die kommunalen Spitzenverbände eingebunden werden, wenn die Arbeitsgruppe erste Überlegungen erarbeitet hat. Darüber hinaus wurden zur Fortsetzung der Diskussion verschiedene Arbeitsaufträge erteilt:  Erstellung einer Fallsammlung durch alle teilnehmenden Länder (siehe hierzu Frage 2);  Prüfung alternativer Gestaltungsmöglichkeiten zur Vermeidung von Umsatzsteuerbelastungen durch Niedersachsen;  Prüfung, ob die Regelungen zum Vergaberecht für steuerliche Zwecke nutzbar sind durch Schleswig-Holstein;  Prüfung der rechtlichen Rahmenbedingungen für ein Tax-Refund-System durch Hamburg und Schleswig-Holstein. Eine Einschätzung der Landesregierung zu den einzelnen Themenkomplexen kann erst bei Vorliegen konkreter Vorschläge erfolgen. 2. Welche möglichen Auswirkungen der neueren BFH-Rechtsprechung zu Bei- standsleistungen auf das Land und die Kommunen (einschl. der nichtrechtsfähigen oder teilrechtsfähigen Zweckverbände, Stiftungen, Anstalten und Sondervermögen) und sonstige Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie z. B. Hochschulen, Berufskammern und -verbände, Verkehrsverbünde, sowie den Westdeutschen Rundfunk hat die Landesregierung im Rahmen der den Schreiben des FM NRW an die Landesressorts sowie an die kommunalen Spitzenverbände vom 10.01.2013 eingeleiteten Fallsammlung ermittelt (betroffene Felder, potentielle steuerliche Wirkung im jeweils betroffenen Feld)? Die Fallsammlung, für die vom Finanzministerium keine Umsatzzahlen und keine finanziellen Auswirkungen abgefragt wurden, belegt, dass sich die potentiell umsatzsteuerpflichtigen Bereiche in der Verwaltungszusammenarbeit auf eine Vielzahl von Tätigkeitsfeldern und über alle staatlichen Ebenen hinweg erstrecken. Dabei kann differenziert werden nach Tätigkeiten , die  sich auf eine hoheitliche Aufgabe insgesamt oder nur auf Teilaufgaben oder Hilfsgeschäfte , die isoliert betrachtet grundsätzlich auch von privaten Dritten erbracht werden könnten, beziehen,  auf privatrechtlicher Grundlage oder aufgrund öffentlich-rechtlicher Vereinbarung erfolgen,  einer juristischen Person des öffentlichen Rechts aufgrund eines formellen oder materiellen Gesetzes oder aufgrund einer Verwaltungsregelung obliegen,  kraft Gesetzes oder aus übergeordneten Gründen der öffentlichen Hand vorbehalten sind oder auch von Dritten ausgeübt werden dürfen,  auf dem freien Markt angeboten werden oder für die kein potentieller Markt vorhanden ist, wobei viele Tätigkeiten in mehrere Gruppierungen fallen. Darüber hinaus wurden Tätigkeitsfelder außerhalb der Verwaltungszusammenarbeit festgestellt (z. B. Veräußerung von Gegenständen aus dem hoheitlichen Aufgabenbereich), die ebenfalls einer Klärung bedürfen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/2542 5 Die Auswirkungen der BFH-Rechtsprechung auf diese Tätigkeitsfelder und die in Frage kommenden Lösungsmöglichkeiten sind Gegenstand der in der Vorbemerkung erwähnten Prüfung der Arbeitsgruppe der Finanzstaatssekretäre. Die Landesregierung wird zunächst das Ergebnis der Prüfung der Arbeitsgruppe abwarten. 3. Wie ist nach Auffassung der Landesregierung ein bundesweites Umsatzsteuer- Refund-System konkret auszugestalten, wenn es außerhalb des Umsatzsteuersystems als Element der nationalen Verteilung des Umsatzsteueraufkommens vorgesehen würde? 4. Wie ist – unter Anlegung des v. g. Aufsatzes von Desens/Hummel – nach Auffas- sung der Landesregierung eine alternativ zu dem unter Frage 4 thematisierten Ansatz erfolgende Neutralisierung der umsatzsteuerlichen Wirkung über die Einräumung eines in Höhe der jeweils anzumeldenden Umsatzsteuer bestehenden Ausgleichsanspruches der Kommune mit anschließender Selbstverrechnungsmöglichkeit – ggf. unter Verlagerung der Steuerschuld bei Leistungen an eine Körperschaft des öffentlichen Rechts im hoheitlichen Bereich (sog. Reverse Charge-Verfahren) – zu gestalten, wenn die Verrechnung der Umsatzsteuerschuld mit einem kommunal-individuellen Vorab der nationalen Verteilung des Umsatzsteueraufkommens erfolgen würde? 5. Wie hat nach Auffassung der Landesregierung eine wettbewerbsneutrale Ausge- staltung des vorstehend unter Fragen 3 und 4 angesprochenen Lösungsweges unter Anlegung der Ergebnisse der v. g., durch die EU-Kommission am 10.01.2013 veröffentlichten Studie von Copenhagen Economics zu erfolgen? Die Fragen 3, 4 und 5 werden gemeinsam beantwortet. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für ein bundesweites Refund-System und der Bürokratieaufwand , der mit der Ausgestaltung der in Frage kommenden unterschiedlichen RefundSysteme verbunden wäre, bedürfen einer umfassenden Prüfung, mit der die länderoffene Arbeitsgruppe der Finanzstaatssekretäre betraut ist. Ergebnisse müssen mit dem Bund und den übrigen Ländern abgestimmt werden. Bei der Prüfung ist zu berücksichtigen, dass die sogenannten Beistandsleistungen innerhalb der von Desens/Hummel und in den Studien von Copenhagen Economics dargestellten Refund-/Erstattungsmodelle nur einen Randaspekt darstellen. Die Modelle befassen sich mit den Auswirkungen der Umsatzsteuer auf die öffentliche Hand insgesamt. Ob diese Modelle auf Ausgleichszahlungen in Zusammenhang mit umsatzsteuerpflichtigen Beistandsleistungen - ggf. beschränkt auf Kommunen - übertragbar sind, wird die Arbeitsgruppe prüfen. Ohne konkrete Vorschläge und Prüfungsergebnisse der Arbeitsgruppe sind Aussagen zur konkreten Ausgestaltung einzelner in Frage kommender Refund-/Erstattungs-Systeme nicht möglich.