LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/3319 18.06.2013 Datum des Originals: 18.06.2013/Ausgegeben: 21.06.2013 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1252 vom 15. Mai 2013 des Abgeordneten Peter Preuß CDU Drucksache 16/2999 Keine gute Pflege ohne Pflegende – wie will die Landesregierung die Zukunft der Pflege sichern? Die Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter hat die Kleine Anfrage 1252 mit Schreiben vom 18. Juni 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Der Themenreport „Pflege 2030“ der Bertelsmann Stiftung (2012) konstatiert, dass sich die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 um etwa die Hälfte erhöhen wird. Dem steigenden Bedarf stehen jedoch zu wenige Pflegekräfte gegenüber. Dies belegt ebenfalls eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB-Regional, 2/2011), wonach die Entwicklung des Pflegearbeitsmarktes und die pflegerische Versorgung in Nordrhein-Westfalen Grund zur Besorgnis gibt. Die Zahl der Pflegebedürftigen könnte von 485.000 auf bis zu 710.000 im Jahr 2030 steigen. Demgegenüber zeigen Modellrechnungen eine Bedarfssteigerung an Pflegearbeitskräften von rund 141.000 Beschäftigten auf 199.000 bis 266.000 im Jahr 2030. Die Bertelsmann Stiftung hält in ihrem Themenreport „Pflege 2030“ sogar eine Versorgungslücke von bis zu 490.000 Vollzeitäquivalenten für möglich. Pflegerinnen und Pfleger arbeiten aufgrund der hohen psychischen Belastung durchschnittlich sechs Jahre in ihrem Beruf (Pressemitteilung des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales vom 11.10.2011). Minister Schneider äußerte sich hierzu wie folgt: “Würde jede Krankenpflegerin und jeder Altenpfleger länger im Beruf arbeiten, hätten wir das Problem des Fachkräftemangels in der Pflege gelöst.“. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3319 2 1. Geht die Landesregierung nach wie vor davon aus, dass eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Pflegebereich sich positiv auf den sich abzeichnenden Fachkräftemangel auswirken könnte? Ja, für die Landesregierung steht außer Frage, dass eine präventiv ausgerichtete, sichere und gesundheitsförderliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen in der Pflege wesentlich zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit des Pflegepersonals beiträgt und dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Pflegeeinrichtungen wesentliche Voraussetzung zur Steigerung der Attraktivität des Berufs und damit zur Fachkräftegewinnung und –sicherung ist. 2. Lässt sich die Annahme der Landesregierung, dass die Verbesserung der Ar- beitsbedingungen sowie der längere Verbleib von Pflegearbeitskräften in ihrem Beruf den Fachkräftemangel in der Pflege ausgleichen können, mit Zahlen belegen ? Zahlen zur konkreten Wirkung der Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie dem längeren Verbleib von Pflegearbeitskräften in ihrem Beruf liegen der Landesregierung nicht vor. Allerdings ist bekannt, dass Beschäftigte in Pflegeberufen, dies sind zum ganz überwiegenden Anteil Frauen, sowohl im Hinblick auf Arbeitsunfähigkeitstage als auch bei der Frühverrentung ein besonders hohes Krankheits- und Erwerbsunfähigkeitsrisiko tragen . Ursächlich hierfür sind vor allem Erkrankungen des Muskel- und Skelettapparates und psychische Erkrankungen. Darüber hinaus ist jedoch davon auszugehen, dass - wie bei der Antwort zu Frage 4 weiter ausgeführt - allein der längere Verbleib der Pflegearbeitskräfte in ihrem Beruf den Fachkräftemangel nicht wird ausgleichen können. 3. Mit welchen Maßnahmen will die Landesregierung die Arbeitsbedingungen, eine angemessene Bezahlung eingeschlossen, in der Pflege langfristig verbessern? Aus Sicht der Landesregierung brauchen die in der Pflege tätigen Menschen bessere Rahmenbedingungen . Die Gestaltung der konkreten Arbeitsbedingungen liegt jedoch in der vorrangigen Zuständigkeit und Verantwortung der Einrichtungsträger und Unternehmen. Ein besonders wichtiger Bereich von Maßnahmen ist dabei eine moderne, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördernde Personalpolitik, z. B. mit familienorientierten Arbeitszeitmodellen . Grundlegende Voraussetzung hierfür ist insbesondere eine angemessene finanzielle Ausstattung der Pflegeversicherung. Diese liegt in erster Linie in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Bei der letzten Novelle ist die Bundesregierung den Anträgen und Anregungen der Länder weit überwiegend und teilweise unter Verweis auf eine nicht näher konkretisierte weitere Novellierungsphase in Zusammenhang mit einer späteren Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht gefolgt bzw. ausgewichen. Zusätzlich hat die Landesregierung in Zusammenhang mit den weiteren Reformnotwendigkeiten gegenüber der Bundesregierung schon mehrfach verdeutlicht, dass ein zusätzlicher Finanzbedarf von jährlich 4 bis 4,5 Mrd. Euro für notwendig erachtet wird, um eine Abkehr von der derzeitigen "Minutenpflege" verbunden mit substantiellen Leistungsverbesserungen für die pflegebedürftigen Menschen sowie einer Verbesserung der Situation der Pflegenden zu erreichen. Allein der Umstand, dass die Bundesregierung, neben einer weitgehend ins Leere laufenden privaten Zusatzversicherung ("Pflege-Bahr"), nur einen LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3319 3 Mittelaufwuchs von rd. 1 Mrd. Euro als ausreichend erachtet, zeigt die Realitätsferne ihrer Vorstellungen. Eine umfassende Reform lässt sich damit nicht verwirklichen. Diese wäre aber sowohl zur Verbesserung der Situation der Pflegebedürftigen als auch der Pflegenden nach Einschätzung praktisch aller Expertinnen und Experten dringend erforderlich . Darüber hinaus unternimmt die Landesregierung auch im Rahmen ihrer Zuständigkeiten eigene Anstrengungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. So unterstützt die Landesregierung Betriebe mit weniger als 250 Beschäftigten mit dem ESF-Förderinstrument Potentialberatung . Dabei können mit Hilfe externer Beratung Aufgaben wie die alternsgerechte Gestaltung der Arbeitsorganisation und Arbeitszeit, Gesundheit sowie Personalentwicklung und Qualifizierung gemeinsam mit den Beschäftigten bearbeitet werden. Jährlich nehmen rund 190 Unternehmen aus dem Sozial- und Gesundheitswesen dieses Angebot wahr. Die staatliche Arbeitsschutzverwaltung des Landes NRW unterstützt die Bemühungen um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Sie überwacht einerseits die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen in den Betrieben; so werden insbesondere immer dann Überprüfungen durchgeführt, wenn Beschwerden von Beschäftigten bekannt werden. Darüber hinaus hat die Arbeitsschutzverwaltung in der ersten Jahreshälfte 2012 in einer landesweiten Schwerpunktaktion die Arbeitsbedingungen in 183 ambulanten Pflegediensten hinsichtlich eines systematischen Arbeitsschutzes (Systemkontrolle) sowie der Einhaltung der Arbeits-, Pausen- und Ruhezeiten überprüft und bei Feststellung von Mängeln die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet. Zum anderen wurde auch im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) im Zeitraum von 2010 bis 2012 ein Arbeitsprogramm „Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Pflege“ durchgeführt. Ziel dieses Programms war es, Möglichkeiten aufzuzeigen , wie die Arbeitssituation von Pflegekräften verbessert werden kann. Hierzu führte die Landesregierung gemeinsam mit den weiteren Trägern der GDA Fachtagungen und Regionalveranstaltungen durch, die die Fachöffentlichkeit über Probleme bei der Arbeitsgestaltung in der Pflege informierten und Lösungsansätze zur gesundheitsförderlichen Gestaltung der Arbeit vorstellten. Neben dem Angebot der fachlichen Unterstützung wurden eigens für die Pflegebetriebe sowie Kliniken Online-Tools entwickelt, welche den Unternehmen auch derzeit - nach Abschluss des Arbeitsprogramms - noch weiter zur Verfügung stehen. Mit Hilfe dieser interaktiven Selbstbewertung können Unternehmen den aktuellen Stand ihres Arbeitsschutzniveaus in Bezug auf Muskel- Skeletterkrankungen und psychische Belastungen überprüfen und potenzielle Risiken identifizieren. Basierend auf dieser Analyse erhalten sie ein auf ihre Situation zugeschnittenes Maßnahmenpaket aus der Toolbox, welches sie bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten unterstützt. 4. Mit welchen Maßnahmen will die Landesregierung die Attraktivität der Pflegebe- rufe steigern, um mehr junge Menschen für dieses Berufsfeld zu gewinnen? Der Dimension des Fachkräftemangels kann aus Sicht der Landesregierung nur mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen erfolgversprechend begegnet werden. Hierzu zählen zentral auch die Einführung eines Umlageverfahrens im Jahr 2012, die Ausweitung der Landesförderung für den schulischen Teil der Altenpflegefachkraft-Ausbildung, der Ausbau ausbildungsbegleitender Unterstützungen und Aktionen zur Verbesserung der Wertschätzung der Pflegeberufe in der Gesellschaft sowie die Vereinbarung einer Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive in der Altenpflege zwischen Bund, Ländern und Verbänden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3319 4 Außerdem seien noch folgende Maßnahmen genannt: Durch die Erprobung der akademischen Ausbildung im Bereich der Gesundheits- und Pflegeberufe will die Landesregierung die Attraktivität des Berufsfeldes erhöhen und neue Zielgruppen erschließen. NRW ist bundesweit Vorreiter bei der Durchführung von Modellvorhaben an Hochschulen. Die Erprobung an mittlerweile sieben Hochschulstandorten leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung in der Versorgung und zur Weiterentwicklung der Berufe. Außerdem unterstützt die Landesregierung den Reformprozess der Pflegeausbildungen auf Bundesebene. Eine gemeinsame Pflegeausbildung mit Vertiefungsphasen kann die Attraktivität des Berufsfeldes und die Flexibilität der Beschäftigten erhöhen. Darüber hinaus wird das Verfahren zur Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse in den Gesundheits- und Pflegeberufen vereinfacht. Dazu hat der Landtag das Anerkennungsgesetz am 15.5. einstimmig beschlossen und einen gesetzlichen Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren festgeschrieben. Mit dem Landesanerkennungsgesetz ist die Grundlage geschaffen worden, um in Zeiten eines wachsenden Fachkräftemangels in einem fairen Verfahren ausländische Qualifikationen anzuerkennen und das Potential der hier lebenden Menschen mit Migrationsgeschichte besser zu erschließen. Im Übrigen unterstützt die Landesregierung die Imagewerbung für die Berufe in der Altenpflege (z. B. durch die Unterstützung der bpa-Roadshow). Außerdem fördert die Landesregierung im Rahmen des Fachkräfteprogramms mit zusätzlichen Mitteln aus den Europäischen Strukturfonds erfolgversprechende neue Wege der Fachkräftesicherung. Unter den gebilligten Projekten wird auch die Zielsetzung verbesserter Arbeitsbedingungen im Pflegebereich in verschiedenen regionalen Projekten aufgegriffen. Dabei werden u. a. Instrumente wie Coaching, Beschäftigtenqualifizierung und Anpassung der Arbeitsorganisation eingesetzt. 5. Wird es zeitnah ein umfassendes Gesamtkonzept der Landesregierung zur Si- cherung der Pflege geben? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Sicherung der Pflege im Wesentlichen Aufgabe des Bundes im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz ist. Hier besteht der Bedarf an einer grundlegenden Pflegereform, welche die notwendigen Rahmenbedingungen für eine zukunftsfähige Pflegestruktur schafft. Die Landesregierung wird sich über den Bundesrat für möglichst weitgehende Verbesserungen im Sinne der Pflegebedürftigen und der Pflegenden einsetzen. Darüber hinaus hat die Landesregierung ein umfassendes Gesamtkonzept zur Sicherung der Pflege, das fortlaufend weiterentwickelt wird. Hierzu gehört neben den Maßnahmen zur Gewinnung von Fachkräften (s. Antwort auf Frage 4) ein Bündel weiterer ineinandergreifender und sich ergänzender Maßnahmen: Mit dem Anspruch der Gestaltung einer demographiefesten Pflegepolitik hat es sich die Landesregierung zur Aufgabe gemacht, eine dem demographischen Wandel gerecht werdende Weiterentwicklung der pflegerischen Versorgungsstruktur in Nordrhein-Westfalen zu unterstützen, die es Menschen ermöglicht, auch im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit weiterhin ein Leben mit Würde selbstbestimmt führen zu können. Zu den Maßnahmen zählen sowohl die Weiterentwicklung des Landespflegerechts als auch die Novellierung des Wohn- und Teilhabegesetzes als "Schutzrecht" der Menschen in Einrichtungen . Es wird angestrebt, das umfangreiche Reformvorhaben noch vor der Sommerpause in den Landtag einzubringen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3319 5 Außerdem wollen Landesregierung und Europäische Union innovative altersgerechte Versorgungsmodelle , Produkte und Dienstleistungen bis zum Jahr 2015 mit 13 Millionen Euro fördern. Der Projektaufruf wurde am 23. November 2011 vorgestellt. Mit dem "Masterplan Quartier" werden die Aktivitäten abgerundet, die darauf zielen, eine altersgerechtes Lebensumfeld zu schaffen. Altersgerechte Umgebungen sind wesentliche Elemente, um die Herausforderungen des demographischen Wandels und den auch damit im Zusammenhang stehenden Fachkräftemangel zu meistern.